**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 14. Dezember 2004; 19:49
**********************************************************
Tuerkei/EU/Glosse:
> All things okay?
Nicht nur von rechtskonservativer Seite hagelt es Absagen gegen den 
moeglichen Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Tuerkei, auch die 
europaeische Sozialdemokratie wird darueber nicht recht gluecklich. Bei den 
Rechten heisst es schlicht, Europa ist gross und unuebersichtlich genug und 
muesse sich jetzt vor der Ueberflutung fremder Kulturen schuetzen. 
Importierten Terror und vor allem den Islamismus brauche Europa keinesfalls. 
Nicht nur konservative Kommentatoren sind sich ueber die zerstoererische 
Kraft einer Tuerkei einig, die als reiner Zahlungsempfaenger alle Massstaebe 
der EU fuer Jahrzehnte sprengen wuerde. Linkere Parteien fuerchten sich samt 
ihren Arbeitnehmerorganisationen vor einem zu erwartenden Niedergang 
saemtlicher Sozial- und Fuersorgegesetze. Kein Mindestlohn sei so nieder, 
dass ihn nicht ein Tuerke oder Kurde spielend unterbieten koennte. Wo sind 
da die Grenzen -- was geschieht da mit den erworbenen Rechten, was mit den 
sozialen Errungenschaften?
Politisch scheint sich der Zug in Richtung Beginn von Beitrittsgespraechen 
in Bewegung zu setzen, auch wenn die Gleisrichtungen noch nicht ganz klar 
sind. Frankreich stellt sich ploetzlich gegen einen Beitritt, waehrend die 
deutsche Regierung ihr urspruengliches Veto schnellstens aufhob und jetzt 
die Tuerkei unbedingt dabeihaben will.
Nun beharrt die Tuerkei aber auf Antworten auf ihre Fragen. Darf sie jetzt 
hoffen, Beitrittsgespraeche zu fuehren, um dereinst als Vollmitglied 
auftreten zu koennen und nicht mit einer Unzahl von Auflagen zum Sonderfall 
in der EU zu werden, der bloss dem Grenzschutz dient? Als Antworten 
schwirren - wie angedeutet - europaweit die sonderbarsten 
Loesungsmoeglichkeiten herum. Das Beispiel der eigenartigsten Aussage: Ja 
natuerlich, liebe Tuerkei, der Beginn von Beitrittsverhandlungen wird 
irgendwann in den naechsten Jahren erfolgen - aber tut uns wirklich leid: 
die tuerkischen ArbeiterInnen werden nie in Europa arbeiten duerfen. Dem 
koennte dann noch augenzwinkernd hinzugefuegt werden: ,Aber der Binnenmarkt 
und der Grenzschutz sind klar, oder? Und tut bitte was bei den 
Menschenrechten - ist ja nicht so toll da unten, sagen unsere Linken'.
Diese unsere Linken waeren jedoch gut beraten, aufgrund der Zunahme 
reaktionaerer Gesinnungen in der EU massiv fuer den baldigen Beitritt der 
Tuerkei einzutreten. Von den ersten Kohle- und Montanabkommen einmal 
abgesehen, definierte sich die EG gern als als Wirtschafts- und 
Sozialgemeinschaft, was natuerlich 1:1 von der Union uebernommen wurde. Die 
kontinuierliche Aufnahme von Mitgliedsstaaten liess den EU-Apparat zu 
riesigen Behoerden heranwachsen, deren Aufgaben es ist, ununterbrochen 
Verordnungen oder ,EU-Regeln' zu entwerfen und auszustossen. So wenig den 
Wirtschaftsressorts samt ihren Lobbyisten, deren Plaene und 
Regierungsverbindungen mit den Einzelstaaten zu trauen ist, umso mehr 
beginnt sich eine beachtliche Rechts- und Sozialkultur zu entwickeln. Und je 
weniger direkter Einfluss der Nationalstaaten auf die oekonomischen 
Zusammenhaenge der riesigen Apparate entsteht, umso mehr waechst die 
Durchsetzungskraft in der Rechtspolitik und Rechtspflege - die Europaeische 
Sozialcharta kennt fuenf verbindliche Kernrechte, zu denen unter anderem das 
Recht auf soziale Fuersorge zaehlt. Der hierzulande menschenrechtswidrige 
Umgang mit Asylsuchenden duerfte der EU ziemlich fremd sein.
Doch das EU-Recht bricht nationales Recht, womit auch in einem 
rechtskonservativen Land wie Oesterreich aufgrund der Sozialcharta die 
hinreichlich bekannten Vorfaelle nie in dem Ausmass geschehen haetten 
koennen: z.B. die ,Behandlungen' und fehlende Unterbringungen von 
Fluechtlingen. Dass statt der gebotenen Schutzbeduerftigkeit Asylanten 
hierzulande als behoerdliches Freiwild gelten, liegt an der besonderen 
oesterreichischen Perfidie einer Mischung von Vertuschung, Verleugnung, 
Auslaenderhass und Rechtspopulismus. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint 
jede Einmischung von aussen wuenschenswert - umso mehr, wenn dies zu 
peinlichen EU-Abmahnungen bis zu Sanktionen fuehren kann. Aber die 
nationalen Einhaltungen der Menschenrechte werden speziell durch das 
Beispiel ,Tuerkei' am Pruefstand stehen. Als optimale Variante koennte 
bezeichnet werden, wenn Aenderungen der politischen und sozialen Situation 
der kurdischen Bevoelkerung in der Ost-Tuerkei mit der Zeit Auswirkungen auf 
die Kurden im Iran, Irak und Syrien mit sich fuehren. Und zum Trost fuer 
unverdrossene Links-Patrioten in Oesterreich: diese vermehrten 
Menschenrechtsdiskussionen werden sich durchaus positiv auf Oesterreich 
auswirken.
*Fritz Pletzl*
***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen 
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht 
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck 
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete 
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von 
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine 
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als 
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann 
den akin-pd per formlosen Mail an akin.buero@gmx.at abbestellen.
*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero@gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin