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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 12. Oktober 2004; 17:40
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Krankenversicherung/Schweiz:
> Kranke Ideen auch anderswo
Das Schweizer Franchisensystem
Es gibt Schnapsideen, auf die ist unsere Regierung noch nicht gekommen --
man koennte zum Beispiel den Sozialversicherten anheim stellen, im
Krankheitsfall freiwillig hoehere Selbstbehalte zu bezahlen und sie damit
koedern, dass sie dafuer weniger regelmaessige Beitraege zahlen muessen. Das
kaeme bei jungen Leuten sicher gut an -- schliesslich sind die ja eh nie
krank.
Noch ist es bei uns nicht soweit, aber wenn das Gejammer ueber die zu teure
Medizinversorgung so weiter geht, werden solche Ideen bald modern werden.
Real existiert dieses schoene System seit 1996 flaechendeckend in der
Schweiz. Vorher gab es ein vollkommen chaotisches System von verschiedenen
Versicherungssystemen (die allerdings grossteils einen weitaus geringeren
Schutz gewaehrten als das oesterreichische System). Mit einem neuen
Krankenversicherungsgesetz kam die Vereinheitlichung und auch das
«Franchisensystem» fuer alle.
Wer in der Schweiz bei der Krankenkassenpraemie einen Rabatt erhalten will,
hat seither die Moeglichkeit, die «Franchise» hinaufzusetzen -- also jenen
Kostenbetrag, bis zu dem man fuer die Arzt- und Medikamentenrechnungen
selber aufkommt. 300 Schweizer Franken Franchise sind das obligatorische
Minimum, die obere Grenze wird per 2005 von 1500 auf 2500 Franken angehoben.
Hinzu kommt der Selbstbehalt, der ab dem Moment, in dem die Franchise
ausgeschoepft ist, zum Zug kommt. Habe ich also -- bei der
Maximalfranchise -- 2500 Franken an Arzt- oder Spitalrechnungen selber
bezahlt, muss ich bei der naechsten Rechnung trotzdem noch zehn Prozent (bis
maximal 700 Franken) selber berappen.
Doch waehrend schon in Oesterreich Versicherte mit Selbstbehaltverpflichtung
es sich mehrmals ueberlegen, bevor sie zum Arzt gehen, warten Eidgenossen
mit geringem Gehalt und hoher Franchise noch ein bisserl laenger -- was wohl
beabsichtigt ist, bei schwerwiegenden Erkrankungen jedoch toedlich sein
kann.
«Auf jeden Fall gilt es, die Eigenverantwortung zufoerdern.» sagt
Sozial-Bundesrat Pascal Couchepin dazu. Eigenverantwortung: Eine Forderung,
die die Freisinnige Partei kuerzlich wieder bei der Bekanntgabe der Praemien
2005 (durchschnittlicher Anstieg 3,7 Prozent) verkuendeten. Nur: Was heisst
Eigenverantwortung, wenn es um die Gesundheit geht? Heisst das: nur zum Arzt
gehen, wenn es wirklich notwendig ist? Das klingt vernuenftig. Aber wer,
wenn nicht die Aerztin, kann der verunsicherten Laiin sagen, ob die
Inanspruchnahme ihrer medizinischen Kompetenz, ihrer kostbaren Zeit
gerechtfertigt ist? Ob der Fleck auf der Haut ganz harmloser Natur ist -
oder Symptom eines Krebses?
Menschen, die aus Liquiditaetsproblemen nicht zum Arzt gehen, sind
vermutlich keine Seltenheit, seit es die Moeglichkeit gibt, mittels
Franchisenerhoehung Praemien zu sparen. Denn von diesem Angebot machen viele
Gebrauch: Laut der neusten Statistik des Schweizer Bundesamtes fuer
Gesundheit haben sich fuer das laufende Jahr 47,9 Prozent der erwachsenen
Versicherten fuer eine hoehere Franchise entschieden, 16,3 Prozent davon
fuer die hoechstmoegliche. Es ist ein verlockendes Angebot, aber nur wer
laechelnd «eine Rechnung ueber tausend Franken ist doch kein Problem» sagen
kann, kann es sich auch leisten, frei von finanziellen Aengsten medizinische
Abklaerungen und Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Medizinische Versorgung als luxurioese Volksbelustigung
Die linke «Vereinigung unabhaengiger Aerztinnen und Aerzte» (VUA) ist nicht
begeistert von diesem Franchisensystem. Schon vor zwei Jahren schrieb das
VUA-Mitglied Christian Jordi in der Mitglieder-Publikation «Soziale
Medizin»: «Abbau des Leistungskataloges, Erhoehung der Franchisen,
Privatisierung oeffentlicher Spitaeler und Subventionen fuer Privatkliniken
begrenzen den Zugang einkommensschwacher Schichten zur
Gesundheitsversorgung.»
Fuer die Aerzte der VUA ist der Appell an die Eigenverantwortung Teil der
unter dem Freisinnigen Couchepin fortschreitenden Oekonomisierung der
Gesundheit. Jordi: «Es wird so getan, wie wenn medizinische Leistung ein
Genuss waere, von dem die Patienten nicht genug bekommen koennen. Durch
moralische Appelle an die «Selbstverantwortung» und hoehere
Selbstbeteiligung sollen die Patientinnen vom Genuss dieser Leistungen
abgehalten werden. Aus meiner aerztlichen Erfahrung weiss ich, dass dies
dazu fuehrt, dass Konsultationen zu spaet erfolgen und die verspaetete
Diagnostik unter Umstaenden negative Folgen auf den Heilungsverlauf hat.» -
Aber gibt es nicht viele Menschen, die wegen jeder Kleinigkeit zum Doktor
rennen? Ein bisschen Fieber, und schon haben sie Angst, todkrank zu sein.
Oder sie machen in kurzen Abstaenden Generaluntersuchungen zur
Frueherkennung von Krebs - was, so heisst es mittlerweile, gar nicht
unbedingt lebensverlaengernd ist.
«Stimmt, Frueherkennung ist umstritten», sagt Christina Schlatter,
Oberaerztin an der Frauenklinik des Unispitals Zuerich. «Es ist eine
Illusion zu glauben, bei einem jaehrlichen generellen Check-up koenne man
sich versichern, nicht an Krebs zu erkranken. Es gilt zu differenzieren
zwischen den verschiedenen Krebsarten. Beim Brustkrebs zum Beispiel sind die
Gynaekologinnen mehrheitlich der Meinung, dass sich ein Screening ab
fuenfzig Jahren lohnen wuerde. Eine solche Reihenuntersuchung wird aber in
der Schweiz nicht gemacht, unter anderem weil der Nutzen schwierig zu
beweisen ist. Meiner Ansicht nach soll ein gesundes Gesundheitssystem aber
jedem, der Angst hat, etwas sei nicht in Ordnung, die Moeglichkeit einer
Konsultation bei der Aerztin geben.»
Schlatter fragt: «Was versteht Couchepin eigentlich unter
Selbstverantwortung?» Und antwortet gleich selber: «Fuer mich beinhaltet
dieser Begriff die Aussage Die
Politiker versuchen immer, das Gesundheitswesen auf marktwirtschaftliches
Denken umzupolen. Aber was man messen kann, sind nur die direkten Kosten -
und auch die nur relativ. Und noch etwas: Gesundheit und medizinische
Versorgung sind ein Grundbeduerfnis. Darauf haben alle ein Recht.»
(Originaltext: Esther Banz, WoZ 40/04; stark ueberarbeitet)
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