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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 14. September 2004; 18:36
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Kapitalismus/EU:

> Die spinnen, die Schweden

Werbefreie Zonen fuer Kinder

In Oesterreich ist Werbung, die sich an Kinder richtet, selbstverstaendlich.
Die werbefreie Schule hingegen ist erst seit kurzem Geschichte.
Aehnliche Entwicklungen gibt es in den meisten Laendern der EU.
FRANÇOIS BRUNE beschreibt in Le Monde Diplomatique (09/04) die Lage aus
franzoesischer Sicht und mit Blick auf ein europaeisches Land, wo das alles
doch noch ein wenig anders gesehen wird.

***

Um die Jahrtausendwende geriet die franzoesische Werbebranche in helle
Aufruhr: Ein neuer Stalinismus, der aus der Kaelte komme, bedrohe die
Interessen der Werbetreibenden, die Kreativitaet der Branche und, so liess
man verlautbaren, die Freiheit der Kinder. Schweden hatte im Vorfeld seiner
Uebernahme der EU-Ratspraesidentschaft (im ersten Halbjahr 2001)
angekuendigt, die eigene Gesetzgebung in Sachen Kind und Fernsehwerbung ins
geltende Gemeinschaftsrecht ueberfuhren zu wollen.

Die Mobilmachung der Konsumschuetzer liess nicht lange auf sich warten: "Die
Werbevemichter", titelte die Zeitschrift Strategies. Darf man ueberhaupt
Kindern Werbung fuer Produkte vorenthalten, die fuer sie bestimmt sind?,
fragt voll Empoerung ein Werbefachmann in der Liberation. Le Figaro schlug
im Wirtschaftsteil Alarm mit der unfreiwillig zweideutigen Schlagzeile
"Werbung fuer Kinder in Gefahr" und wetterte gegen den "schwedischen
Fundamentalismus". Die Femsehillustrierte Telerama schliesslich fuegt
erklaerend hinzu, dass Schweden eben schon immer ein Land mit "einem
traditionell starken Jugendschutz" gewesen sei, und vergisst nicht, auch
einen Experten aus der Branche zu Wort kommen zu lassen: "Die Werbung fuer
und mit Kindern zu beschraenken oder zu verbieten waere nutzlos,
wirtschaftsfeindlich und liefe dem franzoesischen Denken zuwider."

Der Fall Schweden ist tatsaechlich bestuerzend. Diese Leute glauben
tatsaechlich - welch merkwuerdiger Gedanke -, dass unsere Juengsten
geschuetzt werden muessen und dass dies ihrer freien Entfaltung diene.
"Kinder haben ein Recht auf geschuetzte Raeume", sagt die schwedische
Regierung, als waere nicht bekannt, dass Kinder mit fertigen Antikoerpern
gegen den Druck der Werbung zur Welt kommen. Staatliche Stellen behaupten
sogar, die lieben Kleinen koennten Werbespots von anderen Sendungen nicht
richtig unterscheiden und wollten sofort haben, was sie in der Werbung
gesehen haben; das aber fuehre in den Familien zu Konflikten. Sogar der
Schwedische Verband der Werbeindustrie raeumt ein, man duerfe bei Kindern,
die noch nicht wissen, was man vernuenftigerweise wuenschen kann, nicht
Wuensche wecken, die sie nur befriedigen koennen, indem sie ihre Eltern
nerven. Aus der Sicht der Werbeleute ist eins jedenfalls klar: Die spinnen,
die Schweden!

Um dem familiaeren Kleinkrieg, der den Werbeattacken folgt, moeglichst wenig
Angriffsflaeche zu bieten, entschied sich der schwedische Gesetzgeber nach
mehrjaehrigen Diskussionen fuer eine Ergaenzung des Hoerfunk- und
Fernsehgesetzes von 1991, das bereits Fernsehwerbung verboten hatte, die
sich explizit an Kinder unter 12 Jahren wandte:

* Unmittelbar vor und nach Kindersendungen darf keine Werbung fuer
Erwachsene ausgestrahlt werden.

* In Werbespots duerfen keine Personen oder Figuren auftreten, die in
Kindersendungen eine wichtige Rolle spielen (Moderatoren, Serienhelden,
Handpuppen oder andere Figuren). Kinder duerfen in Werbespots ueberhaupt
nicht auftreten. Ebenfalls untersagt ist die Verwendung von Motiven aus der
kindlichen Lebenswelt (Stimmen, Lachen usw.), denn der Gesetzgeber weiss,
wie stark das Identifikationsbeduerfnis in diesem Alter ist.

Nach einer Meinungsumfrage des Schwedischen Rats fuer Verbraucherschutz aus
dem Jahr 2001 befuerworteten 88 Prozent der Schweden die geltenden
Bestimmungen; nach Ansicht von 82 Prozent der Befragten sollten diese
Bestimmungen auch auf andere Medien ausgeweitet werden. Sendungen zur
Verbrauchererziehung fanden grossen Zuspruch, und nichts wies daraufhin,
dass Schweden dem Druck der unermuedlichen Werbelobby nachgeben wird.

Nicht zuletzt um diesem Druck entgegenzuwirken, wollte Schweden die eigene
Gesetzgebung europaweit einfuehren - als Selbstschutz gewissermassen. Denn
zum einen nimmt der kommerzielle Druck auf die Kinder immer mehr zu. Zum
anderen aber und vor allem strahlt seit ueber zwanzig Jahren der in
Grossbritannien ansaessige Privatsender TV 3 Kindersendungen mit
Werbeunterbrechungen in schwedischer Sprache aus und unterlaeuft damit die
schwedischen Bemuehungen.

Die Schweden koennen zwar per Gesetz kommerzielle und oeffentliche Sender
gleichermassen reglementieren, doch nur in ihrem eigenen Land. Wenn die
Kanaele ihren Sitz in anderen Laendern haben, gelten jedoch die Gesetze des
Senderlandes.

Gemaess der EU-Richtlinie "Fernsehen ohne Grenzen", die der freien
Konkurrenz huldigt, fielen alsbald weitere Fernsehsender vom
Satellitenhimmel, die dem Beispiel von TV 3 folgten. Dagegen gibt es nur ein
Mittel: Um die Freiheit der Erziehung zu gewaehrleisten, die auszuueben das
unverbruechliche Recht einer jeden Nation ist, sollte die EU-Richtlinie
ueberarbeitet werden.

Wie man sich denken kann, war der schwedische Reformversuch nicht von Erfolg
gekroent. Zwar stiess er zwischen 2001 und 2004 nuetzliche Diskussionen an,
doch die EU-Kommission ueberarbeitete die Fernsehdirektive nur, um nichts
daran zu aendern. Sie erinnert an die Notwendigkeit, die Fernsehzuschauer
vor "exzessiver Werbung" zu schuetzen, liess aber keinen Zweifel daran, dass
man der Werbebranche ihre Rechte garantieren und die "kulturelle Vielfalt
und Wettbewerbsfaehigkeit der europaeischen Rundfunk- und Femsehbranche"
fordern muesse. Demnach stehe es jedem Land zwar frei, den eigenen
Sendeanstalten strengere Auflagen zu machen, eine Reglementierung von
Sendungen und Werbung aus dem Ausland sei jedoch strikt untersagt.

Wie das schwedische Beispiel in prononciertem Gegensatz zu Frankreich zeigt,
kann eine Nation, so sie den politischen Willen aufbringt, die Werbebranche
nach wie vor in ihre Schranken weisen. Deutlich wird daran freilich auch,
dass die Europaeische Union unter Berufung auf den "freien Waren- und
Dienstleistungsverkehr" jede nationale Gesetzgebung aushebeln kann. Ein
Verbot der Werbung, meinen unsere Liberalen, bedeute eine Behinderung "der
freien Zirkulation der Produkte, fuer die diese Werbung gemacht ist". Mit
anderen Worten: Der Schutz der Kinder vor den Aggressionen der Werbung muss
sich der Freiheit der Aggressoren beugen, die ihre Opfer so vielsagend als
"Zielpersonen" bezeichnen.

Nun sind die Kleinsten der Kleinen nicht nur punktuelle Ziele einzelner
Werbekampagnen, repraesentieren nicht nur kurzfristige "Marktanteile",
sondern figurieren in den Planungen der werbenden Industrie vor allem auch
als kuenftige Kunden, die es um jeden Preis an sich zu binden gilt. "Ihre
Marktanteile wachsen mit ihm", posaunen die Spezialisten des "Baby
Marketing" an die Adresse der Werbetreibenden und schmuecken das beigefuegte
Foto, auf dem ein Baby zu sehen ist, mit der Legende: "Ihr bester
Verkaeufer". Ueberdies beschraenkt sich die Pawlow'sche Konditionierung
nicht auf Werbekampagnen fuer einzelne Produkte. Das eigentliche Ziel des
gesamten "Systems Werbung" besteht darin, kuenftigen Staatsbuergern eine
Ideologie des Konsumierens nahe zu bringen, ohne die die Wahrnehmung der
Welt als Ware schlechterdings nicht funktionierte.

Kinder und Jugendliche nach dem simplen Modell des nur illusorisch freien
Individuums zu formen, ihr Konsumverhalten, ihren Lebensstil, ihre Denkweise
zu konditionieren ist die Art von Erziehung zum Werbekunden, die im medialen
Raum vorherrscht. Zum Konsumsubjekt dressiert, sollen sie glauben, der
naechste Kauf werde ihnen ganz bestimmt Erloesung bringen und ein lust- und
machterfuelltes Leben bescheren. Als lebensnotwendig - "Schnapp sie dir
alle!" - wird der ganze Nippes angepriesen, den zum Beispiel die
audiovisuelle Industrie fortlaufend produziert. Nichts sei legitimer als das
hemmungslose Ausleben der eigenen Wuensche, das staendige "Lust auf ...",
das schon bald zum "Recht auf ..." umgemuenzt wird, mit dem die kleinen
Tyrannen ihre Eltern unter Druck setzen.

Diese ideologische Praegung ist das genaue Gegenteil von Erziehung zum
kritischen Buerger. Verstaendlich daher, dass das System Werbung, nachdem es
die Medien erobert hat, nun die Schule als letzten Hort moeglichen
Widerstands ins Visier nimmt. Und auch hier ebnete die EU-Kommission den
Weg. Bereits 1998 beauftragte sie das Consultingbuero GMV Conseils mit einem
Gutachten, das in seiner Schlussbemerkung die "materiellen, aber auch
paedagogischen" Vorzuege von Marketingaktivitaeten an der Schule anpreist:
"Schul-Marketing oeffnet die Schule zum einen fuer die Realitaet von
Wirtschaft und Gesellschaft und ermoeglicht zum anderen, den Schuelern
Wissen in Verbraucherfragen im Allgemeinen und Werbetechniken im Besonderen
zu vermitteln."

Agierte die Werbung anfangs "verdeckt in den Schulen", so hat sie die
Tarnkappe, dem Laisser-faire der EU-Instanzen folgend, inzwischen
offenkundig abgelegt. "Marktgerechtes Denken" haelt nun auch im
Bildungswesen Einzug. Immer mehr Lehrer setzen im Unterricht
"Materialsammlungen" ein, die von Markenherstellern gesponsert werden.
Lebensmittel-, Software- und Automobil-Konzerne wollen die Lehrer in
staatsbuergerlicher Hingabe dazu anleiten, wie man den Kindern beibringt,
besser zu essen, zu rechnen oder besser Auto zu fahren. Gleichzeitig sollen
die zahllosen Partnerschaften zwischen Schulen und Unternehmen den Schuelern
das "Geschaeftsleben" nahe bringen, dem zu entrinnen sie nur als Arbeitslose
das Glueck haben werden.

Angesichts dieser Entwicklung veroeffentlichte das franzoesische
Bildungsministerium im Maerz 2001 einen Verhaltenskodex fuer Unternehmen,
die den Schulleitungen erlaubt, Partnerschaften mit Unternehmen einzugehen,
und diesen wiederum gestattet, ihr Logo -- diskret, versteht sich -- auf
Unterrichtsmaterialien abzubilden.

Und die Gutglaeubigen beriefen sich darauf, dass Werbung doch "Teil des
Lebens" sei und die Schule nicht "lebensfremd" werden duerfe, weshalb
Werbung auch in die Schule gehoere. Man laesst den Wolf in den Stall, damit
die Schaefchen seine Zaehne bewundem koennen.

(deutsch von Bodo Schulze, Le Monde Diplomatique / gek.)




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