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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 7. September 2004; 16:15
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EU/ropa/Kommentar der anderen:
> Nicht so wirklich in der Union
Die osteuropaeischen Beitrittslaender der EU
Nachfolgenden Text von *József Boeroecz* haben wir aus den
OstWest-Gegeninformationen Nr. 1/2004 abgekupfert und etwas gekuerzt.
Anders als die rasch erfolgte wirtschaftliche und geopolitische
Vereinnahmung wird die gesellschaftspolitische Einbindung der neuen
Beitrittslaender in die EU nur langsam und partiell voranschreiten. Noch
einige Zeit werden die Staaten des ehemals realsozialistischen Ostens eine
Art Pufferzone der "Festung Europa" bleiben. In einer Serie von
Volksabstimmungen befuerwortete die Bevoelkerung aller dieser Laender zwar
den EU-Beitritt. Diese Beitrittsreferenden vermittelten aber auch sehr
widerspruechliche Botschaften.
Seit 1989 erfuellten die osteuropaeischen Staaten zwei primaere
geopolitische Aufgaben, von denen keine per se in ihrem Interesse lag. Sie
bildeten eine geopolitische Sicherheitszone um Westeuropa und lieferten
einigen der maechtigsten multinationalen Konzerne der Welt billige
Arbeitskraefte. Am aktivsten waren dabei jene Konzerne, die ihr
Hauptquartier in der EU haben. Wirtschaftliche Abhaengigkeit von der EU und
militaerische Unterordnung unter die NATO waren die beiden wichtigsten
Aspekte dieses Arrangements. Praktisch alle Staaten der Region haben sich
dazu entschlossen, Truppen in den besetzten Irak zu entsenden. Polen - der
einzige mittelgrosse Staat unter den neuen NATO-Mitgliedem - hat sogar das
Kommando eines ganzen Militaerdistrikts im Irak inne.
Vierzehn Jahre nach den ersten Mehrparteien-Parlamentswahlen im ehemaligen
Ostblock sind acht Staaten-Tschechien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen,
Polen, die Slowakei und Slowenien - dabei, in eine Pufferzone und ein
Reservoir billiger Arbeitskraefte innerhalb der EU umfunktioniert zu werden.
Der Rest der Reformstaaten bleibt ein externer Puffer bzw. Arbeits- und
Energielieferant.
Europa der langsameren Geschwindigkeit
Um den Status Osteuropas als Pufferzone und das niedrige Lohnniveau auch
nach dem EU-Beitritt so lange wie moeglich zu erhalten, hat die Union die
Formel eines "Europa der zwei Geschwindigkeiten" entwickelt, wobei die
zweite - langsamere - Geschwindigkeit den Beitrittslaendem vorbehalten ist.
Die politischen Eliten dieser Laender haben diesen Status als EU-Staaten
zweiter Klasse ohne grosses Murren akzeptiert. Den neuen Mitgliedern wird
die Einfuehrung des Euro -wenn ueberhaupt - nur mit einer Uebergangsfrist
von mindestens fuenf Jahren gestattet. Der sozial ambitionierteste Aspekt
des Integrationsprozesscs, die Oeffnung des Arbeitsmarktes, wird den
Beitrittslaendem erst sieben Jahre nach ihrer formellen Aufnahme
zugestanden; wenn also alles nach Plan verlaeuft irgendwann um 2011. Es sind
diese untergeordnete Stellung und insbesondere die niedrigen Arbeitskosten
bei hoher Quallifikation, die laut Guenther Verbeugen dazu fuehren, dass die
zehn Beitrittsstaaten zu den besten Investitionsstandorten der aufstrebenden
Maerkte zaehlen.
Fuer die weiteren Kandidaten, die an der Tuerschwelle der EU warten
(Rumaenien, Bulgarien und die Tuerkei) wird die formelle Mitgliedschaft
mindestens fuenf Jahre spaeter kommen, wahrscheinlich in Form einer "dritten
Geschwindigkeit". Insgesamt wird den Arbeitskraeften aus dem frueheren
Ostblock, wenn alles gut geht, erst 22 bis 27 Jahre - also etwa eine
Generation - nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ueberhaupt
gestattet, am westeuropaeischen Arbeitsmarkt teilzunehmen. In Anbetracht der
entscheidenden Rolle, welche die Freiheitsrhetorik (und insbesondere die
Bewegungsfreiheit in der EU) beim Zerfall des Ostblocks gespielt hat, ist
eine Verzoegerung von einer Generation nicht gerade ein glaenzender Erfolg.
Inzwischen ergreift die EU neue, immer strengere Massnahmen, um
Nicht-EU-Staaten von ihrem Territorium fern zu halten. Der heute geschaffene
europaeische Raum aehnelt mehr und mehr einer "Festung Europa". Die rasche
wirtschaftliche und geopolitische Vereinnahmung, aber nur langsame und
teilweise Einbindung von Teilen des frueheren Ostblocks ist ein wichtiger
Bestandteil dieses Prozesses. Dieser kann wie folgt gelesen werden:
Die EU - eine politische Konstruktion, die momentan nur etwas mehr als sechs
Prozent der Weltbevoelkerung ausmacht, aber ein Viertel bis zu einem Drittel
der Weltwirtschaftsleistung umfasst - annektiert noch etwas mehr Land dazu.
Die neue Zone umfasst eine Bevoelkerung von rund 75 Millionen Menschen -
etwa 1,2 % der Menschheit - und erhoeht den Anteil der EU an der
Weltwirtschaftsleistung um etwa ein Prozent.
Den neuen Mitgliedslaendern wird in der oeffentlichen Kultur der alten
EU-Mitgliedstaaten, den wohlhabenden ehemaligen Zentren kolonialer Reiche,
nur der Status der armen Verwandten zuerkannt, die auch in Sachen
Demokratie, Fortschritt und Modernitaet noch viel zu lernen haben...
Dann gibt es auch noch die dornige Frage der Subventionen: Selbst die
entwickeltsten der neuen Mitglieder - Zypern und Slowenien - sind deutlich
aermer als die meisten anderen EU-Staaten (ihr BIP macht 74 % bzw. 70 % des
EU-Schnitts aus.), das mittlere Einkommensniveau in diesen beiden Staaten
liegt nur ueber dem von zwei EU-Staaten - Portugal und Griechenland (69 %
bzw. 65 %). Die durchschnittliche Wirtschaftsleistung der Beitrittslaender
bewegt sich aber im Bereich der unteren Haelfte des EU-Schnitts7, und
aktuelle Studien deuten darauf hin, dass sie sogar im guenstigsten Fall erst
nach einer Generation zum EU-Niveau aufschliessen werden. Es ist in
Westeuropa bekannt, dass die Beitrittsstaaten einiges an Geldern ueber
Subventionen und Infrastrukturentwicklungsfonds aus dem EU-Budget erhalten
werden, und die Uebertreibung des Ausmasses solcher Ansprueche ist eine der
am weitesten verbreiteten Topoi, die routinemaessig in westlichen Medien zu
finden sind. Unnoetig zu sagen, dass die Frage der Erweiterung in der
Bevoelkerung der "alten" Union eher unpopulaer ist.
EU-Zustimmung
in Referenden
Die negativen Referenden in Norwegen und der Schweiz gegen den EU-Beitritt
und die Ablehnung des Beitritts zur Euro-Zone durch Schweden und Daenemarks
sowie die Unpopularitaet des Beitritts in Grossbritannien sind auch als
Weigerung wohlhabender Volkswirtschaften zu interpretieren, dann weniger
reiche Laender subventionieren zu muessen.
Der Beitritt ist auch in den neuen Mitgliedsstaaten ein ziemlich komplexer
politischer Prozess. Da die Mitgliedschaft durchaus einen gewissen Transfer
von Ressourcen von Bruessel zu den Beitrittslaendem nach sich ziehen wird
und die politischen und kulturellen Eliten dieser Laender den Beitritt
durchwegs als Ende der "Zweitklassigkeit" Osteuropas gefeiert haben,
erwarteten viele Beobachterinnen eine hohe Rate der Zustimmung zum Beitritt
unter der Bevoelkerung. Die liberal dominierten, den Beitritt stark
befuerwortenden Regierungen riefen die Bevoelkerung dazu auf, die
Bemuehungen zur Erreichung der EU-Mitgliedschaft mit demokratischen Mitteln
zu legitimieren. Von Maerz bis September 2003 wurden neun Referenden ueber
den EU-Beitritt abgehalten. Das Ergebnis entsprach den hochgesteckten
Erwartungen nicht.
Die Gesellschaften Osteuropas und der beiden Mittelmeerstaaten nehmen
unterschiedliche globale Positionen ein. Momentan liegen sie zwischen dem
25. (Zypern) und dem 50. Rang (Lettland) im Human Development Index. Dies
ist der Kontext, in dem die Beitrittsreferenden stattfanden. Die Frage
"Wollen Sie, dass Ihr Land Mitglied der Europaeischen Union werden soll?"
beinhaltet damit viel kompliziertere und vielschichtigere Bedeutungen. Die
zwei der wichtigsten Interpretationen, auf die hier kurz eingegangen werden
soll, stehen fiir folgende Alternative:
* JA: "Nachdem die multinationalen Konzerne der EU bereits die Kontrolle
ueber die meisten Besitz- und Marktanteile in unserem Land uebernommen haben
und ueberhaupt bereits so viel unserer Souveraenitaet an die EU und die NATO
verloren gegangen ist, stimmen Sie zu, dass unser Staat nun wenigstens ein
Mittel zur Kontrolle seiner eigenen Angelegenheiten - und vielleicht, wie
manche sagen, sogar ueber die Zukunft des Rests der Welt - erhalten soll und
nun an der enormen wirtschaftlichen und politischen Macht der EU
mitpartizipiert, auch wenn seine Stimme bei den Entscheidungen nicht
besonders wichtig genommen werden sollte?"
* Oder: NEIN: "Halten Sie es fuer wichtiger, unseren Protest gegen den
geopolitischen Status quo zu artikulieren, der die EU bevorzugt, selbst um
den Preis des Verzichts auf Subventionen und Entwicklungsfonds, die nur
Mitgliedsstaaten zur Verfuegung stehen?"
In allen neun Faellen, von Malta bis Lettland, ueberstieg die
Wahlbeteiligung die von der Verfassung vorgeschriebene Mindestbeteiligung,
und die Mehrheit der Bevoelkerung stimmte mit "Ja". Somit waren die
Referenden rechtlich bindend, und der Beitritt konnte wie geplant vonstatten
gehen.
Allerdings ist den pro-europaeischen Regierungen in Osteuropa mittlerweile
alles andere als zum Feiern zumute. Die Ergebnisse der Referenden haben
ihnen naemlich auch eine subtile Botschaft vermittelt, die lautet: Es
geschieht etwas, jenseits des Offensichtlichen. Blicken wir, um diese
Botschaft zu erkennen, zuerst einmal auf die folgende Tabelle (siehe
Anhang), welche die relevanten Informationen zu den Abstimmungen in
chronologischer Reihenfolge wiedergibt.
Diese Daten legen zwei grundlegende Schlussfolgerungen nahe, die relativ
weit vom Bild des "Siegesmarsches" in Richtung EU-Beitritt abweichen.
Auffaellig ist, dass die Wahlbeteiligung von 45,6 % (Ungarn) bis fast 90 %
(Malta) schwankte, die Resultate aber eine bemerkenswerte Uebereinstimmung
in allen neun Faellen aufweisen. Wie die Tabelle zeigt, war die Zahl
gueltiger Ja-Stimmen dort am hoechsten, wo die Wahlbeteiligung niedrig war
und umgekehrt am niedrigsten, wo die Wahlbeteiligung am hoechsten war. Mit
anderen Worten: Die Wahlbeteiligung war umgekehrt proportional zur
Zustimmung zum Beitritt und zum geopolitischen Projekt der EU im
Allgemeinen. Man koennte also daraus auch folgern, dass die meisten
derjenigen Waehlerinnen, die es nicht fuer Wert erachteten, zu den Urnen zu
gehen, jene waren, die eigentlich gegen einen Beitritt eingestellt waren.
Dies war genau jene Art von Resultat, das auch zu erwarten war, da die
BeitrittsgegnerInnen allen Grund zu der Annahme hatten, die Erweiterung sei
bereits ein fait accompli (eine vollendete Tatsache), ein Prozess einer
geopolitischen Transformation mit Dimensionen, ueber die man als einzelner
keine Kontrolle mehr hat. In Anbetracht der Geschwindigkeit und Effizienz,
mit der das westeuropaeische Kapital und die westeuropaeisch-amerikanische
geostrategische Allianz die Kontrolle ueber jenen Teil der Welt gefestigt
haben, den gerade erst das sowjetische geopolitische Projekt aus ihrer
Kontrolle entlassen hatte, ist die Resignation der osteuropaeischen
Waehlerinnen aeusserst gut nachzuvollziehen.
Eine wahrscheinlich noch verheerendere Schlussfolgerung kann gezogen werden,
sobald man auch den Inhalt der Abstimmungen betrachtet. Da die EU verlangt,
dass sich ihre Mitgliedsstaaten dem EU-Recht sowie ihren Regeln und ihrer
Politik unterwerfen, bedeutet die EU-Mitgliedschaft eine partielle Aufgabe
von Souveraenitaet. Die EU wird weithin als eine supranationale Einheit
betrachtet, die eine "Teilung und Buendelung" der Souveraenitaet der
Mitgliedsstaaten vorsieht. Misstrauen in die EU als
Souveraenitaetsgemeinschaft erklaert zu einem grossen Teil das Zoegern der
norwegischen und schweizerischen Bevoelkerung, die Bemuehungen ihrer
Regierungen zu unterstuetzen, ihre Staaten in die Union zu fuehren. Im Fall
der ostmitteleuropaeischen Staaten sind Souveraenitaetsfragen sogar noch
bedeutender; wenn nicht auch aus anderen Gruenden, dann zumindest aufgrund
der juengsten Erfahrungen als Mitglieder des sowjetischen Blocks, der sich
als supranationales Konstrukt entpuppte, in dem die kleineren Staaten einer
geopolitischen Logik unterworfen waren, die von der UdSSR diktiert wurde.
Der erneute substanzielle Verlust an Souveraenitaet, der in den 14 Jahren
seit dem Kollaps des Ostblocks zu verzeichnen war, unterstreicht nur die
Bedeutung formeller Souveraenitaet.
Die Abgabe von Souveraenitaet
Es ist natuerlich eine voellig offene Frage der politischen Philosophie, zu
welchem Grad ein Staat oder seine Buergerinnen wirklich das Recht haben,
formelle Souveraenitaet ueberhaupt aufzugeben. Man kann argumentieren, dass
Souveraenitaet Besitzrechten im Kapitalismus insofern gleicht, als dieses
Recht auch das Recht der Aufgabe, Weitergabe oder Zerstoerung umfasst. Die
Souveraenitaet gehoere demnach dem Volk, das somit berechtigt ist, sie auch
aufzugeben.
Es ist aber auch moeglich zu argumentieren, dass Souveraenitaet,
insbesondere Volkssouveraenitaet, als eine Beziehung zwischen der
Gemeinschaft der Buergerinnen und des Staates etwas fundamental Anderes als
Besitzverhaeltnisse ist. Dieser Logik zufolge ist Souveraenitaet tiefer
verwurzelt als Besitzrechte und bildet eine Reihe von Rechten und
Verpflichtungen, die nicht der Logik von Kapitalfluessen unterliegen.
Demzufolge ist Souveraenitaet unteilbar und alle anderslautenden Argumente
sind neo-liberale Trugschluesse, die auf Denken in Analogien beruhen.
Wie auch immer, selbst wenn wir akzeptieren, dass "das Volk" in der Lage
sein muesste, auf Souveraenitaet zugunsten der Souveraenitaet eines anderen
Staates zu verzichten, stellt die Idee, Souveraenitaet an die Europaeische
Union abzutreten, zwei weitere Herausforderungen in den Raum, die es zu
klaeren gilt. Die eine ist theoretischer Natur, die andere laesst sich von
den ueberraschend uebereinstimmenden Ergebnissen der Beitrittsreferenden
ableiten.
Das theoretische Problem ist natuerlich das Faktum, dass - waehrend sich die
EU in einigen Faellen wie ein Staat verhaelt - sie in einer entscheidenden
Hinsicht trotzdem kein Staat ist: Sie hat keinen eigenen exekutiven Apparat.
Um ihre Beschluesse in rechtlichen und regulativen Angelegenheiten
umzusetzen, muss sie sich auf ein kompliziertes Netz von konstitutionellen
Arrangements verlassen, das den exekutiven Apparat der Mitgliedsstaaten
ebenso einschliesst wie verschiedene internationale Organisationen und
auslaendische Akteure. Die Abtretung von Souveraenitaet an die EU ist daher
ein ganz besonderer Vorgang, bei dem die Staatssouveraenitaet teilweise an
eine suprastaatliche Einheit abgetreten wird (die EU), die keine
unabhaengige Kapazitaet zu handeln und somit keine wirkliche eigene
Souveraenitaet besitzt.
Dann gibt es eben auch noch das empirische Problem der neun Referenden.
Selbst wenn wir grundsaetzlich annehmen, dass die Waehlerinnen eines Staates
der Regierung gestatten koennen, Teile ihrer Souveraenitaet an die EU zu
uebertragen, bleibt immer noch die Frage, wie sie dies tun koennen. Eine
vernuenftige Idee waere, dass - um eine Verfassungskrise, institutionelle
Instabilitaet und eine allgemeine politische Laehmung zu vermeiden - die
Entscheidung von einer ueberzeugenden Mehrheit der Waehlerinnen getragen
werden sollte, zum Beispiel von einer Zwei-Drittel-Mehrheit der
Wahlberechtigten. Eine solche qualifizierte Mehrheit waere noetig, wenn die
Parlamente der seit kurzem unabhaengigen Staaten Osteuropas die Verfassung
abaendern wollten. Die logistischen Probleme waeren bei einem Referendum
natuerlich um einiges groesser als im Fall einer Parlamentsabstimmung: Es
ist viel schwieriger, eine ueberzeugende Mehrheit bei einem Referendum zu
erhalten als im Parlament - egal worum es geht. Angesichts der Tragweite der
Entscheidung kann aber argumentiert werden, dass die Aufgabe eines Teils der
Souveraenitaet nicht nur das Herzstueck der staatlichen Autoritaet betrifft,
sondern auch ein irreversibler Schritt ist und somit einer derartigen
Mehrheit beduerfe. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine einfache numerische
Mehrheit -50 Prozent plus eine Stimme - ein ziemlich laxer Standard.
Die Zahlen in der rechtesten Spalte in Tabelle zeigen die numerische Staerke
des Mandats der neun Beitrittsreferenden. (Sie ergibt sich aus der
Multiplikation der Anzahl der gueltigen Stimmen mit dem Anteil der
Ja-Stimmen.)
Das Ergebnis ist duester. Sechs der neun Referenden brachten nicht einmal
ein Mandat, das die grosszuegigsten der oben genannten Kriterien erfuellt
haette (50 % plus eine Stimme), und keines der neun Referenden reicht auch
nur annaehernd an eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Wahlberechtigten heran.
Obwohl es wahr ist, dass die Zahlen ueber die Staerke des Mandats in etwa
der Wahlbeteiligung bei den letzten EU-Wahlen entsprechen (siehe die letzte
Spalte in Tabelle), so kann man doch die Tragweite der Entscheidung in
keiner Weise vergleichen.
Die drei Staaten, in denen das Mandat zumindest die grosszuegigsten
Kriterien erfuellen wuerde - Litauen (57%), Slowenien (53,99%) und Lettland
(50,48%) - sind alle das Produkt der Aufloesung der beiden grossen
multiethnischen Bundesstaaten der Region, der UdSSR und Jugoslawiens. Keiner
von ihnen hatte eine laengere Tradition staatlicher Unabhaengigkeit vor dem
Zusammenbruch des Realsozialismus, und allen dreien wurde von ihren
nationalistischen Eliten "alleine" bessere Chancen auf die EU-Mitgliedschaft
zugesprochen als mit dem Rest ihrer Bundesstaaten. Weiters wuerden sie auch
insofern enorm vom Beitritt profitieren, als die Mitgliedschaft in der EU
die Wiederherstellung der Bundesstaaten verhindern wuerde, von denen sie
sich gerade losgeloest hatten. In diesem Sinn ist das ueber 50 % starke
politische Mandat zumindest teilweise ein Akt politischer Katharsis der
betroffenen Staaten, der die Trennung von der UdSSR bzw. von Jugoslawien als
endgueltig festschreibt.
Resuemee
Alles in allem haben die grossen geopolitischen Umwaelzungen eine hoechst
widerspruechliche Situation in Osteuropa erzeugt. Auf der einen Seite sind
die EU-Referenden formal gueltig und bindend, auf der anderen Seite gaben
sie dem Beitrittskurs nur einen schwachen politischen Rueckhalt. Die
Spannungen, die sich aus diesen beiden Faktoren ergeben, haben ein Gefuehl
tiefer Unsicherheit und Zurueckhaltung im heutigen Osteuropa hinterlassen.
Bedeutet dies, dass man sich in Osteuropa in absehbarer Zeit auf
Instabilitaet und Anti-EU-Kundgebungen gefasst machen muss? Nicht unbedingt.
Das wahrscheinlichste Resultat ist eine Mitgliedschaft in Unzufriedenheit
und Frustration, die auch von Misstrauen und Abneigung gepraegt ist. Als
Resultat davon wird die EU-bezogene Politik innerhalb der Beitrittsstaaten
und damit auch das Verhalten der Staaten innerhalb der Institutionen des
EU-Entscheidungsprozesses wohl wechselhaft, unvorhersehbar und gelegentlich
sogar widerspruechlich sein. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine
Mischung von Ironie und Distanzierung auf der einen und Kooperation und
Streben nach Finanztoepfen auf der anderen Seite fuer das politische
Verhalten der neuen Mitgliedslaender charakteristisch sein werden.
Aufgrund ihrer langen historischen Erfahrung in der Rolle als nach aussen
hin abhaengige Pufferzonen mit einem tief verletzten Souveraenitaetsgefuehl,
eingezwaengt zwischen vier Imperien - dem Habsburgischen, dem Osmanischen,
dem Russischen und dem preussischen Deutschen - sind die politischen
Kulturen der osteuropaeischen Staaten an eine solche Situation des
Dazwischen-Liegens und einer erzwungenen Unterwuerfigkeit allerdings gut
angepasst. Die Geschichte hat sie eine grosse Fertigkeit darin gelehrt,
widerspruechliche Interessen miteinander zu vereinen, multiple Allianzen zu
schmieden und mit aeusserem Druck umzugehen. Die widerspruechliche Botschaft
der Beitrittsreferenden passt genau in dieses historische Muster.
(aus dem Englischen von Martin Prochazka)
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Tabelle: Resultate der Referenden in den Laendern, die im Mai 2004 der EU
beitraten (in %)
Staat(1) Datum Wahlbeteiligung Ja-Stimmen
Staerke des Mandats(2)
Malta 8.Maerz 03 89,82
53,60 48,14
Slovenien 23.Maerz 03 60,25
89,61 53,99
Ungarn 12.April 03 45,60
83,76 38,19
Litauen 10. 11.Mai 03 62,59
91,07 57,00
Slovakei 16. 17.Mai 03 52,15
92,46 48,22
Polen 7. 8.Juni 03 58,43
77,45 45,25
Tschechien 13. 14.Juni 03 53,96 77,33
41,72
Estland 14.Sept.03 64,06
66,83 42,81
Lettland 20. Sept.03 72,53
69,60 50,48
1) In Zypern fand kein Beitrittsreferendum statt
2) gemeint ist der Anteil der gueltigen Ja-Stimmen an der Zahl der
Wahlberechtigten
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József Boeroecz ist Professor der Soziologie an der Rutgers University (New
York) und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts fuer Politische
Studien der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest.
Die Ost-West-Gegeninformationen erscheinen seit dem Fruehjahr 1989 und
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