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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 4. Mai 2004; 16:58
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Schweiz/Streik/Kommentar:

> Die richtige Antwort

Oesterreich und die Schweiz haben vieles gemeinsam -- unter anderem auch
Jahrzehnte des "Arbeitsfriedens". Aber die neue Zeit macht selbst vor der
Schweiz nicht halt.
PAUL RECHSTEINER, Praesident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB
findet jedoch in der WoZ vom 29.4.2004 klarere Worte als sein
oesterreichisches Gegenueber.

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Erstmals seit Jahrzehnten streiken die Maler und Gipser in der
Deutschschweiz und im Tessin: fuer das in der Suisse Romande schon
realisierte Rentenalter 62. Waehrend sie fuer sozialen Fortschritt kaempfen,
wehren sich die Beschaeftigten bei der Post gegen die Verschlechterung des
Gesamtarbeitsvertrags. Trotz Rekordgewinnen will die Post die Loehne
druecken. Wenn sich daran nichts aendert, wird es demnaechst zu Warnstreiks
kommen. In der grafischen Industrie beginnt am 1. Mai der vertragslose
Zustand, weil sich der Arbeitgeberverband weigert, fuer den neuen
Gesamtarbeitsvertrag auch nur auf die bescheidensten Anliegen einzutreten.
Die Gewerkschaft comedia wird im Mai ueber Kampfmassnahmen abstimmen.

Das Streikrecht gehoert zur Gewerkschaftsfreiheit wie die Luft zum Atmen.
Das war und ist auch in der Schweiz nicht anders. Ein Sonderfall ist die
Schweiz insofern, als in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs die Ideologie des
Arbeitsfriedens dominierte: Die Schweiz wurde zum streikarmen, wenn auch
keineswegs streikfreien Land. Zahlte sich der Verzicht auf den Streik nach
den fuenfziger Jahren wenigstens materiell aus, drehte der Wind spaetestens
in der neoliberalen Aera. Waehrend die Arbeitsbedingungen immer staerker
unter Druck gerieten, wurde es jetzt zu einem grossen Nachteil, dass die
Beschaeftigten und ihre Gewerkschaften weitgehend verlernt hatten, dieses
elementare Kampfmittel einzusetzen.

Seit Ende der neunziger Jahre aendert sich dies: Einerseits verschaerft sich
der Klassenkampf von oben, andererseits konnten die Gewerkschaften ihre
Mobilisierungsfaehigkeit deutlich erhoehen. Die Zahl der Protestaktionen und
die Erfolgsbilanz der punktuell sehr wirksamen Streiks ist beeindruckend.
Bisheriger Hoehepunkt war der Streik der Bauarbeiter vom 4. November 2002,
mit dem das Rentenalter 60 auf dem Bau durchgesetzt wurde. Im Umfeld der
allgegenwaertigen Tendenz zum Sozialabbau war dies ein enormer Erfolg.

Nicht zu unterschaetzen sind die Schwierigkeiten, mit denen Streikbewegungen
in der Praxis konfrontiert sind. Noch laengst nicht alle haben sich daran
gewoehnt, dass der Streik ein Grundrecht ist, das sowohl von den Unternehmen
wie von den staatlichen Instanzen respektiert werden muss. Polizeieinsaetze
gegen Streikende - und gegen Streikposten - verbieten sich in einer
Demokratie genauso wie Entlassungsdrohungen. Dass das Streikrecht in der
neuen Bundesverfassung verankert werden konnte, ist ein Vorteil;
Streikverbote im oeffentlichen Dienst sind unhaltbar geworden. Auch eine
vereinbarte Friedenspflicht darf nicht bedeuten, dass das Grundrecht
ausgehoehlt wird. Gesamtarbeitsvertraege sind selbstverstaendlich
einzuhalten, von beiden Seiten. Wo aber der Unternehmer elementare
Voraussetzungen des Vertrags verletzt, etwa durch die Entlassung von
GewerkschafterInnen oder durch die profitorientierte Beseitigung von
Arbeitsplaetzen, also der Existenzgrundlage der Beschaeftigten, muessen sich
diese notfalls auch mit dem Mittel des Streiks zur Wehr setzen koennen.

Entscheidend bei einem Streik sind allerdings nicht die Rechtsfragen,
sondern das Bewusstsein der Betroffenen. Fuer viele liegt der Streik nach
wie vor ausserhalb des Vorstellungsvermoegens, so praegend ist das Gefuehl
der Vereinzelung und das verbreitete Klima der Angst. Gerade deshalb ist es
nuetzlich, daran zu erinnern, dass die objektiven Bedingungen fuer
erfolgreiche Streikbewegungen nicht schlechter sind als frueher. Die
Produktionsprozesse sind arbeitsteiliger und komplexer denn je, und weite
Teile des Dienstleistungssektors sind hoechst stoeranfaellig geworden. Wenn
sich die gegenwaertige Periode dadurch auszeichnet, dass es immer mehr auf
den Einzelnen, dessen subjektives Arbeitsvermoegen und die Kommunikation
ankommt, dann wird klar, wie viel im Arbeitsprozess von der freiwilligen
Kooperation der Beschaeftigten abhaengt.

Die Wiederaneignung des Streiks ist ein kollektiver Lernprozess, von dessen
Gelingen fuer die Entwicklung der Gesellschaft sehr viel abhaengt. Der
Streik ist ein Kampfmittel mit einer enormen emotionalen und sozialen
Wirkung. Von daher ist bemerkenswert, dass die Streiks der letzten Zeit fast
durchwegs von oeffentlicher Sympathie getragen waren. Die positive Resonanz
bestaetigt nicht nur die Legitimitaet der Forderungen; sie zeigt auch, wie
sehr viele Menschen entgegen den herrschenden wirtschaftlichen und
politischen Trends eine sozialere Entwicklung wuenschen.

Im Herbst 2004 entsteht aus dem Zusammenschluss von GBI, Smuv und VHTL die
neue interprofessionelle Unia, die mit Abstand groesste Gewerkschaft der
Schweiz. Sie definiert sich auch durch ihre Streikfaehigkeit. Verbunden mit
der Wiederaneignung des Streiks durch die Verbaende des oeffentlichen
Dienstes foerdert das die Moeglichkeiten, die Angriffe auf soziale
Errungenschaften mit sozialen Forderungen auf einem neuen Niveau zu
beantworten. ###

Quelle: http://www.woz.ch/18j04/streiks18j04.htm




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