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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 16. Maerz 2004; 05:56
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Haiti:

> Der Sturz vom Tiger

Zum Schluss gab er sich als Opfer. Er sei entfuehrt worden, berichtete der
haitianische Praesident Jean-Bertrand Aristide Pressevertretern telefonisch
aus der Zentralafrikanischen Republik. «Weisse Amerikaner, weisses Militaer»
haetten ihn unter Gewaltandrohung aus seiner Residenz herausgeholt, in ein
Flugzeug gesetzt und nach Bangui verfrachtet. Seine AnhaengerInnen rief
Aristide inzwischen aus dem Exil auf, friedlichen Widerstand gegen die
«inakzeptable Besetzung» zu leisten.

Jetzt sitzt «Titid» Aristide in einem Gaestehaus der Regierung der
Zentralafrikanischen Republik und will zurueck in die Karibik. (Anm. akin:
Der Bericht stammt noch vom 11.3., mittlerweile ist Aristide ja in Jamaika)
Die Grundlage fuer einen Mythos und moeglicherweise auch fuer eine kleine
Lebensluege war und ist geschaffen. Was in jener Nacht vom 28. zum 29.
Februar in der Residenz von Aristide in Tabarre, dem kleinen Ort bei
Port-au-Prince, wirklich geschah, liess Aristide in all seinen Erklaerungen
seltsam unklar. Im ersten Telefoninterview mit dem spanischsprachigen
Programm des Nachrichtensenders CNN blieb er auch die Antwort schuldig, ob
er gewaltsam aus seinem Wohnsitz fortgeschafft worden sei. Auf die Nachfrage
des Nachrichtensprechers, ob er mit vorgehaltener Waffe zur Unterschrift auf
dem Ruecktrittsschreiben gezwungen worden sei, antwortete er nur indirekt.
Er habe ein Blutbad verhindern wollen. Auch seine erste Pressekonferenz in
Bangui am Montag hat keine hundertprozentige Aufklaerung ueber das Wie und
das Warum seines Abgangs gegeben.
Ist der alte Taktiker aus dem «Land der Berge» eventuell selbst ausgetrickst
worden? Bekam Aristide zum Schluss Angst vor der eigenen Courage? Hat er
moeglicherweise den Mund zu voll genommen, als er ankuendigte, er wolle
lieber sterben als vorzeitig sein Amt verlassen?

US-Aussenminister Colin Powell hat die Behauptung, Aristide sei Opfer eines
Putsches geworden, als «Bloedsinn» bezeichnet. Vieles spricht aber
inzwischen dafuer, dass der grosse Bruder aus dem noerdlichen Amerika mal
wieder in seinem Sinne ordnend in die inneren Angelegenheiten eines Landes
in seinem Hinterhof eingegriffen hat. Die Vereinigten Staaten kennen sich in
Haiti hervorragend aus: von einer militaerischen Stippvisite im Jahre 1914
und als Besatzungsmacht von 1915 bis 1934.

Es gibt einige Indizien dafuer, dass Aristide nicht ganz freiwillig
abgereist ist: Der Korrespondent der franzoesischen Tageszeitung «Le Monde»,
Jean-Michel Caroit, berichtete ueber die diplomatischen Aktivitaeten der
US-amerikanischen Botschaft in der Nacht vor Aristides ueberraschendem
Abgang. Der zweite Mann der Botschaft, Luis Moreno, habe in Begleitung von
«sechs Mitgliedern einer Spezialeinheit zur Sicherung der Botschaft»
Aristide in seiner Villa aufgesucht. Er habe das Ruecktrittsschreiben
abholen sollen, das zuvor zwischen dem Premierminister Yvon Neptune und dem
US-Botschafter James Foley ausgehandelt worden sei. Die Koffer seien schon
gepackt gewesen, berichtet Caroit. Danach habe Aristide zusammen mit seiner
Frau Mildred Trouillot in Begleitung der US-Vertreter seine Residenz
verlassen. Auf seinem Weg wurde er auch von Teilen seiner Praetorianergarde
begleitet. Diese Truppe hat Aristide seit der Rueckkehr aus dem ersten Exil
1994 an seiner Seite. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Bodyguards,
die alle eine Ausbildung bei verschiedenen US-Sicherheitsbehoerden hinter
sich gebracht haben.

Dass Botschafter Foley sowohl bei der angeblichen Unterzeichnung der
Ruecktrittserklaerung als auch bei der Amtsuebernahme des
Interimspraesidenten Boniface Alexandre anwesend war, zeigt, wie offen und
international akzeptiert die USA als Weltpolizist agieren koennen, diesmal
assistiert von Frankreich. Moeglicherweise hat sich Aristide vom Delegierten
der US-Botschaft bluffen lassen, der erklaert haben soll, der «bewaffnete
Poebel» stehe schon vor seinem Privathaus und ein Blutbad muesse verhindert
werden.

Der jetzige Uebergangspraesident Boniface Alexandre war 2001 von Aristide
zum Obersten Richter berufen worden. Zuvor arbeitete er in einer
Rechtsanwaltskanzlei als Spezialist fuer Scheidungen und als Rechtsberater
der franzoesischen Botschaft. Kaum im Amt, forderte der 68-Jaehrige in einem
Schreiben den Uno-Sicherheitsrat auf, Truppen zur Garantierung der
Sicherheit im Land zu entsenden. Inzwischen befinden sich 1600
Marineinfanteristinnen aus den USA, 800 franzoesische sowie eine kleinere
Zahl von chilenischen und kanadischen SoldatInnen im Land. Die ersten
fremden Soldaten tauchten aber schon vor Aristides Abgang in Port-au-Prince
auf; angeblich, um die Botschaften und die Ausreise von AuslaenderInnen zu
sichern. So standen auf wundersame Weise ploetzlich hundert Schwerbewaffnete
einer kanadischen Spezialeinheit am internationalen Flughafen Toussaint
Louverture.

Von der Uno haben die fremden Truppen das Plazet als «Friedenskontingent»,
aber offizielle Blauhelmtruppen einer Uno-Friedensmission sind sie nicht.
Die Vereinigung der karibischen Staaten (Caricom) hat es wegen des
«ungeklaerten Abgangs» von Aristide abgelehnt, Soldaten zu entsenden. Die
internationalen Streitkraefte sind inzwischen im Staatspalast in
Port-au-Prince sowie an einigen zentralen Punkten der Hauptstadt praesent.
Auch wurden Truppenkontingente in die zweitgroesste Stadt des Landes, nach
Cap Haitien, geflogen.

Die fremden Streitkraefte haben die Rebellenarmee unter dem Kommando des
frueheren Chefs der Polizeiverwaltung von Cap Haitien, Guy Philippe,
unbehelligt agieren lassen. Waehrend sich in Port-au-Prince US-SoldatInnen
im ehemaligen Amtssitz von Aristide einnisteten, zog Philippe in einem
Triumphzug mit seinen bewaffneten Mannen in die 2,5-Millionen-Kapitale ein.
Nur der Versuch, einen Tag nach seinem 36. Geburtstag auch noch den
Praesidentenpalast unter sein Kommando zu bringen, scheiterte. Er sei von
einem US-Offizier freundlich aufgefordert worden zu gehen, berichteten
Zeugen.

Waehrend die «Friedenstruppen» in den Regierungsgebaeuden fuer Ordnung
sorgen, beherrschen Philippes Garden die Strassen. Sie haben sich ausserdem
im Polizeihauptquartier und im ehemaligen Armeehauptquartier niedergelassen.
Das zwischenzeitlich dort untergebrachte Museum fuer haitianische Kunst
besteht nicht mehr. Die ausgestellten Bilder naiver MalerInnen wurden unter
Gejohle der irregulaeren Soldaten auf einem Scheiterhaufen in Brand
gesteckt. An Philippe und seinem bewaffneten Haufen wird in Zukunft niemand
vorbeikommen.

An seinen Absichten laesst der Expolizist, der in Ecuador eine
Militaerausbildung absolviert hat, wenig Zweifel. Seine Bewaffneten sollen
in eine umstrukturierte Polizei eingegliedert werden, fordert er. Andere
sollen Teil einer neu aufzubauenden Armee werden. Das fruehere Heer wurde
erst 1995 von Aristide nach seiner Rueckkehr aus dem ersten Exil
abgeschafft. Schliesslich waren es Armeeangehoerige um den General Raoul
Cedras, die ihn nur neun Monate nach seinem Amtsantritt im Februar 1991
gestuerzt hatten.

Die Truppe rund um Philippe, die die politischen Verhaeltnisse in nur
wenigen Wochen auf den Kopf gestellt haben, ist allerdings ein sehr
gemischter Haufen. Ihr gehoeren ehemalige militante Gefolgsleute Aristides
an, die sich von ihm losgesagt haben und als Kannibalenarmee die Region des
Artibonite und deren Provinzhauptstadt schon seit Monaten terrorisiert
haben. Aber auch ehemalige Anhaenger des Diktators Duvalier hoffen auf eine
Verwendung in kuenftigen Streitkraeften des Landes.

Der zweite militaerische Leiter der so genannten Front zur Befreiung und zum
Wiederaufbau, der inzwischen in den Hintergrund getreten ist, heisst
Luis-Jodel Chamblain. Der Exmilitaer ist in Abwesenheit zu lebenslaenglicher
Haft wegen zahlreicher Morde und Verletzung der Menschenrechte verurteilt
worden. Er schloss sich, aus seinem dominikanischen Exil kommend, der
Rebellenarmee an. Waehrend der Militaerdiktatur von Cedras war er einer der
Chefs der Todesschwadronen, die sich hinter dem euphemistischen Namen Forces
Revolutionnaires Armees pour le Progres en Haiti (FRAPH), Bewaffnete
revolutionaere Streitkraefte fuer den Fortschritt auf Haiti, versteckten.
Camblains Kumpel, Emmanuel Constant alias «Toto», berichtete 1995, dass er
als Gruender der FRAPH auf der Lohnliste des US-Geheimdienstes CIA gestanden
habe. Laut Informationen der Menschenrechtsorganisation Amnesty
International traegt Chamblain die Verantwortung fuer hunderte von Morden an
Anhaengern der Bewegung Fanmi Lavalas von Jean-Bertrand Aristide.

Innerhalb der Linken in den USA wird der abrupte Machtwechsel in Haiti als
Teil einer US-amerikanischen Destabilisierungskampagne gesehen, die von
langer Hand vorbereitet und taktisch klug orchestriert durch die bewaffnete
und so genannt demokratische Opposition eingeleitet wurde. Als Teil dieser
Kampagne koenne die Kuerzung der US-Hilfe fuer Haiti gesehen werden, wie
auch der Druck auf die internationalen Institutionen, ihre Hilfe ebenfalls
zu kuerzen. Auch Vertreter des Washingtoner Establishments, etwa der
ehemalige US-Diplomat und Haiti-Kenner Robert White oder der demokratische
Senator Christopher Dodd, kritisieren, dass die US-Regierung den Abgang
Aristides erzwungen hat.

Der demokratische Praesidentschaftskandidat John Kerry sagte in einem
Interview mit der «New York Times», dass er als Praesident Truppen nach
Haiti geschickt haette, um Aristide zu schuetzen. Bush haette kurzsichtig
gehandelt, einem demokratisch gewaehlten Fuehrer nicht zu helfen. Fuer die
ganze Region sei dies ein schlechtes Zeichen.

«Titid» war noch nie der Wunschkandidat Washingtons gewesen. Bei den ersten
freien Praesidentschaftswahlen von 1990 konnte er zwei Drittel der
abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen. Der US-Favorit Marc Bazin blieb
abgeschlagen zurueck. Die US-Militaerintervention von 1994, die ihn nach
einem Putsch von
1991 wieder ins Amt brachte, war in Washington umstritten. Der fruehere
republikanische Sicherheitsberater Brent Scowcroft riet dem damaligen
US-Praesidenten Bill Clinton oeffentlich, sich mit den Putschisten zu
arrangieren statt Aristide zu unterstuetzen. Als Aristide schliesslich
wieder in Amt und Wuerde war, sah er sich weiterer US-Kritik ausgesetzt: Er
treibe die geforderte neoliberale Umstrukturierung des Landes nicht
entschieden genug voran.

Die haitianischen Oppositionsparteien wurden in den letzten Jahren
logistisch durch das politisch rechts stehende Internationale Republican
Institute (IRI) aus Washington unterstuetzt. Im IRI-Direktorium sitzt unter
anderem Brent Scowcroft. Auf seiner Homepage macht das IRI oeffentlich, wer
seine Haiti-Aktivitaeten finanziert: die staatliche US-Agentur fuer
Internationale Entwicklung (USAID). Verschiedene Quellen sprechen auch
davon, dass das IRI ein diskretes Treffen von Philippe und seinen Mannen im
dominikanischen Exil finanziell gesponsert haben soll. Das IRI behauptet
demgegenueber, dass es keine bewaffneten Gruppen unterstuetze.
In Haiti selbst wird derzeit die Wiederherstellung demokratischer
Verhaeltnisse vorgegaukelt. Der Interimspraesident Alexandre hat inzwischen
ein Triumvirat gebildet: Es besteht aus Paul Denis (von der oppositionellen
Demokratischen Plattform), Leslie Voltaire, dem bisherigen Minister fuer die
AuslandhaitianerInnen (als Vertreter der Aristide-Partei Lavalas) sowie dem
Gesandten der Uno Adama Guindo. Diese drei haben wiederum einen
siebenkoepfigen «Rat der Weisen» einberufen. Dieses Gremium - auch darin ist
die Lavalas mit einem Mitglied vertreten - soll Neuwahlen innerhalb der
naechsten neunzig Tage vorbereiten. Der Weisenrat hat sich inzwischen auch
auf einen neuen Ministerpraesidenten geeinigt, der eine Allparteienregierung
bilden soll. Es handelt sich um den frueheren Aussenminister Gerard
Latortue.

Dass die Sicherheitskraefte wenig fuer die konkrete Sicherheit der
Bevoelkerung tun, wurde am Wochenende deutlich. Sieben Menschen starben nach
einem Siegesumzug von Oppositionsgruppen. Wer wen und warum erschossen hat,
laesst sich kaum ausmachen: Jede Gruppe schiebt die Schuld an der
Schiesserei auf andere ab.

Bleibt die Frage, ob Aristide waehrend seiner Praesidentschaft je eine
wirkliche Chance gehabt hat, eine soziale Politik umzusetzen. Wahrscheinlich
nicht. Gegen die Reichen im eigenen Land nicht, die noch nicht einmal die
Brosamen verteilt wissen wollten. Und auch nicht gegen die USA, die ihre
eigene Vorstellung von Ordnung fuer die Menschen im Armenhaus hatten. Und
seine Unberechenbarkeit hat Aristide zu einem Aussenseiter gemacht. Ihm
fehlten solide Verbuendete, die er mit Argentinien, Brasilien, Venezuela und
Kuba in Lateinamerika haette haben koennen. Zum Schluss schlug sein Versuch
fehl, sich nach dem Aufstand der Rebellen mit auslaendischer Hilfe weiter an
der Macht zu halten. Er wollte den Tiger reiten und das Imperium fuer seine
Zwecke instrumentalisieren. Dabei haette er Machiavelli besser lesen oder in
den Buechern der neueren Geschichtsschreibung blaettern sollen. Sicher
kannte er auch das aus Asien stammende Sprichwort nicht: «Der Tiger aendert
seine Streifen nicht.»
*Hans-Ulrich Dillmann in WoZ 11/04*

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