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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 9. Maerz 2004; 23:45
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Wahlrecht/USA/Debatte:

> Die Unlogik des Vergleichs

zu B.Redl: "Die Logik der Macht" (akin 6/04, akin-pd 24.2.2004)

Antiamerikanismus in Ehren: Was aber, wenn er auf falschen Annahmen und
typisch europaeischem Unverstaendnis fuer ein voellig anderes demokratisches
System beruht? Regeln als "veraltet" zu bezeichnen, nur weil sie (250 Jahre)
alt sind, ist gewagt. Vielleicht war das System sogar ausgesprochen gut und
"erfolgreich".

Es gibt drei fundamentale Unterschiede im System zwischen den USA und den
europaeischen Demokratien, mit allen Vor- und Nachteilen. Die muss man
vergleichen, nicht Aepfel mit Birnen. Meiner Ansicht nach ueberwiegen die
Vorteile. Ausserdem glaube ich, dass manche Fehler der amerikanischen
Politik (z.B. Todesstrafe, Kriegspolitik, Kommunistenhysterie in den 50ern,
Rassentrennung bis in die 60er in manchen Staaten...) genau darin liegen,
WEIL sie die "bessere" Demokratie ("das Volk entscheidet") sind.

1) das Persoenlichkeitswahlrecht

2) the winner takes it all

3) die Bundestaatliche Verwaltung

ad 1) Wieso ist das so schwierig zu verstehen? In den USA regieren nicht
Parteien, sondern Personen! Vom Praesidenten abwaerts bis zum kleinsten
Sheriff! Die Ansichten der gewaehlten Personen differieren weit mehr als in
einer europaeischen Partei. Der derzeitige Buergermeister von San Franzisko
z.B. ist "fortschrittlicher" als viele Gruene! Ideologie und Lagerdenken
sind dort - relativ - unwichtig. Wichtig sind Meinungen, Ideen und Loesungen
fuer konkrete Probleme.

Es gibt oft mehr als zwei Kandidaten. Von der Oeffentlichkeit voellig
ausgezogen, Ansichten bis ins Letzte ueberprueft. Wahlspenden duerfen eine
bestimmte Groesse nicht ueberschreiten und sind ueberall oeffentlich
einsehbar. Jede(r) AmerikanerIn kann selbst ueberpruefen, wer welchen
Einfluss auf welchen Kandidaten hat und welche Meinung er vertritt. Und sie
werden danach gefragt und dafuer gewaehlt! Auf "Luegen" sind Amerikaner ganz
allergisch (Clinton hatte seine Probleme nicht wegen Sex, sondern wegen
seiner falschen Angaben dazu). Wer der Luege ueberfuehrt wird, braucht sich
kaum nochmal zur Wahl stellen. In Europa auch so? Hoechst zweifelhaft, dass
ein Grasser drueben noch Finanzminister waere! Hier reissen sich Parteien -
nicht nur fuer die Wahl - unkontrolliert soviel Geld unter den Nagel wie sie
gerade brauchen: Der Steuerzahler blecht - zwangsverpflichtet - ohne dass
seine Ansicht den geringsten Einfluss hat.

Immer wieder wurden Independent-Kandidaten gewaehlt, dennoch haben Personen
meist nur dann eine Chance, wenn sie in einer der beiden Parteien
organisiert sind. Doch das macht nicht viel aus. Es gibt viele Kandidaten.
Heuer sind es z.B. mindestens zehn und man muss natuerlich die Vorwahlen
dazurechnen. Dass John Kerry fuehrt, ist eine Riesen-Ueberraschung, mit der
kaum jemand gerechnet hat. Grosser Favorit war Howard Dean, der war
Gouverneur eines Staates - hab ich mir von jemand dort lebenden sagen
lassen - mit einem "Sozialismus" und einer Umwelt, von der wir hier nur
traeumen koennen.

In Europa werden Kandidaten vom Parteivorstand festgelegt. Nur die Gruenen
kamen - als es noch Basisdemokratie gab - in etwa dem nahe, was in den USA
vorherrschendes, seit vielen Jahrzehnten erfolgreich funktionierendes System
ist. Das dazu fuehrt, dass im Kongress Gesetze nur nach langen oeffentlichen
Verhandlungen beschlossen werden. Kontroll- und Untersuchungsausschuesse
sind JEDERZEIT moeglich. In Europa gegen die Regierung fast unmoeglich.

Ein chaotisch ablaufendes System ohne Hierarchien wie hier, wo Nachrichten
Kurzzitate jeweils eines Partei-Repraesentanten darstellen, die aneinander
vorbeireden, weil Gesetze ganz woanders beschlossen werden. In den USA
koennen viele verschiedene Personen mit ganz verschiedenen Meinungen zu
einem Thema zu Wort kommen, voellig unabhaengig, welcher Partei sie
angehoeren. Niemand kann vorhersehen, welchen Einfluss das Gesagte haben
wird. Nicht nur ein Unterschied in der Mentalitaet. In der europaeischen
Parteiendemokratie entscheiden selten (bessere) Argumente, oft Ansehen der
Person. In den USA verlaufen politische Entscheidungen vor allem kreuz und
quer, in Europa hierarchisch nur von oben nach unten.

Vielleicht sind Personen leichter beeinflussbar. Ich bezweifle aber, dass
Grosskonzerne in Europa geringeren Einfluss auf die Politik haben.

ad 2) Es hat seine Vorteile fuer die Demokratie. In Frankreich hiess das
Match kuerzlich Chirac gegen Le Pen. Zum Kotzen! Da muesste ich hingehen und
einem ueblen Burschen eine Stimme geben, die ich ihm niemals geben wuerde.
Man stelle sich vor, ich muesste Andreas Khol bei der Wahl gegen einen Joerg
Haider verteidigen!!! Will mir das Bernhard Redl wirklich antun??? Das soll
"demokratisch" sein? Ausserdem war die Stichwahl unnuetz! Reine
Geldverschwendung, weil sowieso wieder das Gleiche rausgekommen ist! Und hat
Chirac irgendeine Ansicht geaendert?

Eine 1% Partei kann eine Regierung erpressen und ein ganzes Land in
Geiselhaft nehmen! Wuerde die israelische Regierung z.B. gegen die
Palaestinenser noch immer so hart durchgreifen, wenn es dort die 5%-Huerde
gaebe? Wie oft zerfiel im Italien der Nachkriegszeit die Regierung? Ist es
"demokratischer", wenn jedes kleinste Grueppchen ins Parlament darf, die
Regierung aber nichts entscheiden kann? Beispiel Deutschland: Rot-Gruen
kann, weil die CDU - als Partei - in den Laendern alles blockiert, nichts
mehr durchsetzen! In den USA ist so eine Parteiblockade lange nicht so
einfach.

ad 3) Die USA haben 250 Jahre "Prozess" hinter sich, der das Verhaeltnis
Bundesstaaten zu Gesamtstaat ordnet. Bundestaaten mit wesentlich mehr
Kompetenzen als in Europa. Das System der "Wahlmaenner" ist nicht
"veraltet", sondern ein System, das Bedeutung und Verhaeltnis kleinerer und
groesserer Bundesstaaten im Verhaeltnis zum Gesamtstaat halbwegs gerecht
regelt. Ein aeusserst sensibles System. Das hat absolut nichts mit
"Interessen" zu tun. Ausserdem ist in den USA die Verfassung nur mit
Zustimmung von 2/3 des Kongresses und 4/5 (oder 3/4) der Bundesstaaten
veraenderbar. Das bedeutet einen Diskussionsprozess von mindestens zehn
Jahren! Und das ist auch gut so! In Oesterreich laesst sich die Verfassung
innerhalb von Tagen ohne viel Aufhebens aendern! Demokratisch?

Ausserdem: Was aendert es am Ergebnis? Man kann beweinen, dass Al Gore nicht
Praesident geworden waere, aber haette John F. Kennedy 1960 gegen Nixon
gewonnen? Nur selten gewannen in den USA Kandidaten, die insgesamt weniger
Stimmen hatten! Unvorstellbar in Europa? Parteien erhalten nicht selten mit
47% die absolute Mandats-Mehrheit (CDU, Hamburg, gestern, SPOe in Wien) und
manchmal mit weniger Stimmen mehr Mandate.
*Thomas Herzel (gek.)*




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