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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 27. Jaenner 2004; 15:51
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Weltsozialforum:

> Bombay, Mumbai, Slumbay

16.1.2004 - Wer neu in Bombay ankommt, reibt sich erst einmal die Augen.
Schon wegen der Luftverschmutzung, die trotz der kuehlen Meeresbrise ueber
der Halbinsel liegt, in die sich das kommerzielle und industrielle Zentrum
Indiens draengt. Die GlobalisierungskritikerInnen, die jetzt in der Stadt
eintreffen, haben noch einen anderen Grund. Waehrend sie die brasilianische
Hafenstadt Porto Alegre bei den ersten Treffen des Weltsozialforums jeweils
eine Woche lang uebernahmen und in eine Feststadt verwandelten, werden sie
in Bombay kaum wahrgenommen. Die Achtzehn-Millionen-Stadt ueberspuelt in
ihrem hektischen Verfolgen von Profit und der Sicherung taeglichen
Ueberlebens selbst die Grossveranstaltung mit ihren 75.000 Teilnehmern. Und
waehrend Porto Alegres tropischer Reichtum noch -- verschaemt -- ein
bisschen Kolonialnostalgie aufkommen lassen mochte, stellt Bombay gnadenlos
die Haerte der Globalisierung zur Schau.

Die Stadt eignet sich auch als historisches Schaustueck weltwirtschaftlicher
Prozesse, denn sie wurde ein Opfer der Globalisierung, als sie noch ein
kleines Dorf war. Im Jahr 1662 war sie naemlich ein Teil des Brautpreises,
den die portugiesische Koenigsfamilie entrichten musste, damit die Infantin
Katharina von Braganza Koenig Karl II. von England ehelichen konnte. Das
Fischerdorf mit seinen acht vorgelagerten Inseln war zwar keine lukrative
Mitgift, aber "Bom Bahia" stellte sich als gute Investition heraus. Die
Buchten zwischen den Inseln bildeten einen natuerlichen Tiefseehafen und
wurden von der britischen Krone an die "East India Company" weiterverkauft.
Die Company, das Urmodell des modernen Multis, machte aus dem Nest die "Urbs
prima in Indis" und spaeter ihren lokalen Hauptsitz. Bombay wurde ein
wichtiger Werftplatz fuer die Herstellung britischer Kriegs- und
Handelsschiffe. Dann verdraengte die Stadt die bluehenden Textilmanufakturen
an der Westkueste, als die ehrenwerte Gesellschaft sie zum Umschlagplatz
fuer die Baumwolle machte, die in England der Rohstoff fuer die industrielle
Revolution wurde.

Inzwischen sind die Buchten zwischen den Inseln laengst aufgeschuettet und
so eine laengliche Halbinsel geformt, an deren landwaertiger Seite der
groesste Hafen Suedasiens entstanden ist. Taeglich waelzt sich ein Strom von
einer halben Million Fahrzeugen und zweieinhalb Millionen Menschen in
Vorortzuegen an die schmale Suedspitze, das kommerzielle Zentrum nicht nur
der Stadt, sondern auch des Bundesstaats Maharashtra und des ganzen Landes.
Zwei Drittel der indischen Industriefirmen haben sich im Norden der
Metropole angesiedelt, und das Hochhaus der Boerse ueberragt die
neugotischen Kolonialbauten. Auch der Name wurde geaendert. Vor einigen
Jahren wollte ihn die Lokalpartei "Shiv Sena" von kolonialen Anklaengen
reinigen und benannte die Stadt in Mumbai um. Heute geben die Bewohner ihrer
Stadt manchmal noch einen dritten Namen -- "Slumbay". Die Stadt hat hunderte
von Elendsvierteln, davon den groessten Slum Asiens namens Dharavi, in dem
allein 500.000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben. Die Slums
sind allerdings nicht das erste Ziel, das die rund 200 Familien erreichen,
die taeglich in die Stadt einsickern. Die meisten Migranten landen auf der
Strasse -- in Pipeline-Rohren, die darauf warten, verlegt zu werden, im
Umkreis der Abfallhalden vor der Stadt, entlang der Boeschungen der
Eisenbahnlinien. Oder sie breiten nach Einbruch der Nacht ihr Hueft- oder
Sarituch einfach auf den Gehsteigen aus und legen sich nieder. 60 Prozent
der 1.200 Kilometer des staedtischen Strassennetzes verwandeln sich in der
Nacht in Schlafstaetten.

Die allgegenwaertige Armut kennt eine Vielzahl von feinen Abstufungen.
Verglichen mit den tausenden von Familien, die nicht einmal ein Plastik-
oder Kartondach ueber dem Kopf haben, leben die Einwohner von Dharavi schon
beinahe im Luxus. Und das unerbittliche Marktgesetz der Knappheit hat dafuer
gesorgt, dass dort die Monatsmiete fuer einen winzigen Wohnraum von zwei mal
drei Metern inzwischen 8.000 Rupien (140 Euro) kosten kann -- das Einkommen
eines Tageloehners in fuenf Monaten. Noch besser gestellt ist etwa die
BDD-Kolonie im alten Industriezentrum der Stadt, obwohl sie den Besucher an
die voll gedraengten Elendsbehausungen der industriellen Fruehzeit erinnert.
Es sind 207 identisch (und identisch schlecht) gebaute dreistoeckige Haeuser
mit insgesamt 16.000 Einzimmerwohnungen von 12 bis 18 Quadratmetern und
einer Toilette auf jedem Stockwerk. Die Einwohnerzahl der Kolonie entspricht
der einer mittelgrossen europaeischen Stadt - hunderttausend Menschen wohnen
in den 207 Haeusern.

Ist es die Relativitaet der sozialen und oekonomischen Position, die dafuer
sorgt, dass die Ameisenhaufen der Slums "in Wahrheit vitale soziale
Organismen sind", die einen hohen Grad an Selbstorganisation und die Pflege
von Gemeinschaftsformen aufweisen, wie die Journalistin Kalpana Sharma in
ihrem Buch ueber Dharavi behauptet? Oder ist es der Fatalismus des Inders,
der raetseln laesst, dass dieses enorme Gefaelle zwischen Reich und Arm
keine permanenten Sozialkonflikte ausloest? Der Besucher erinnert sich an
den Arbeiter auf einer Baustelle fuer Luxus-Appartements. Fand der es nicht
empoerend, dass er in einer Blechbude wohnte, so gross wie der Ankleideraum
in einer dieser Wohnungen? Seine Antwort war eine stumme Gebaerde. Er
streckte dem Fragenden die Hand entgegen, die Finger gespreizt: "Schau meine
Hand an", sagte er damit, "sind die fuenf Finger etwa alle gleich lang?"

Doch solche Gesten koennen ebenso taeuschen wie der froehlich-geschaeftige
Laerm, der aus den winzigen Wohnungen der BBD-Kolonie ertoent. Die Stadt ist
zwar stolz darauf, dass in ihr das ganze Voelkergemisch des Subkontinents
ein Einkommen findet, von Pathanen bis zu Bengalen und Tamilen. Man braucht
aber nur einen Blick auf die Shiv Sena zu werfen, um die Brueche und
Spannungen zu erkennen. Die heute groesste Lokalpartei begann ihren Aufstieg
in beinahe klassisch faschistischer Weise als brutale Streikbrecherin im
zweijaehrigen Tarifkonflikt der lokalen Textilindustrie, des wichtigsten
Arbeitgebers der Stadt. Darauf mobilisierte Parteichef Bal Thackeray -- eine
Anglisierung des einheimischen Namens Thakre -- seine Schlaeger gegen die
fleissigen Suedinder, die den eingeborenen "Soehnen der Erde" die Arbeit
wegnahmen. Als auch dieser Konflikt seine identitaetsstiftende Rolle
einbuesste, wurde die alteingesessene Muslimen-Minderheit zum Feind
gestempelt. Nach der Zerstoerung der Ayodhya-Moschee im Dezember 1992
brannten Shiv-Sena-Banden nicht nur ganze Slumquartiere mitsamt ihren
Bewohnern nieder, sie besuchten auch die Hochhaeuser im exklusiven Malabar
Hill und brandschatzten die Wohnungen mit muslimischen Namensschildern an
der Tuer.

Inzwischen ist die Shiv Sena ein Koalitionspartner der nationalistischen
BJP-Regierung in Delhi, sie hat mit der BJP den Bundesstaat regiert und
beherrscht das Gemeindeparlament von Bombay. Die Pfruende der Macht haben
nicht nur zu endemischer Korruption gefuehrt, sie haben auch den
Opportunismus der chauvinistischen Ideologie freigespuelt. So kann es
vorkommen, dass "Sainiks" jeden Februar durch die smarten Geschaeftsstrassen
ziehen und die Schaufenster einschlagen, die es wagen, "Valentine"-Herzen
auszustellen. Doch wenn es Thackerays Sohn beliebt, kann er Michael Jackson
zu einem Konzert einladen. Die Shiv-Sena-Vandalen stellen dann den
Schutzdienst.

Die Partei fand auch nichts dabei, Slums freizuschlagen, als es darum ging,
den stockenden Privatverkehr der Mittelklasse mit dem Bau von 56
Ueberfuehrungen ueber Strassenkreuzungen wieder in Fahrt zu bringen.
Inzwischen ist auch die antimuslimische Hindu-Identitaet nur noch ein
Feigenblatt. Als kuerzlich Hindus aus Bihar nach Bombay kamen, um sich fuer
ein paar hundert Stellen bei der Indischen Eisenbahn zu bewerben, wurden sie
von Sainiks aus den fahrenden Zuegen geworfen, weil sie die "jobs for the
boys" gefaehrdeten. (Bernard Imhasly, taz / gek.)

Quelle: http://www.taz.de/pt/2004/01/16/a0243.nf/text



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