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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 16. Dezember 2003; 19:21
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EU/Kommentar:

> Tuerkischer Beitritt und Neutralitaetsidylle mit Sinn

Anton Pelinka beruhigt die Gemueter: Der EU-Beitritt ist doch erst in 10
Jahren. Aber spaetestens dann gibt es einen schlagartigen Zuwachs von ca. 70
Mill. frisch gebackenen EU-Buergern. Die Tuerkei waere nach Deutschland das
bevoelkerungsreichste Mitgliedsland der Union. Bis dahin ist es zwar noch
ein gutes Stueck, aber die Freude der bestehenden Mitgliedslaender ueber den
Beitrittswerber haelt sich in Grenzen. Die Regierung Erdogans hat zwar heuer
ueber 100 neue Reformen beschlossen, doch sie ist islamistisch und Erdogan
der Ziehsohn des frueheren Ministerpraesidentin Necmettin Erbakan, der fuer
eine islamische Wirtschafts- und Wehrgemeinschaft kaempfte. Heute sind es
besonders die laendlichen Gebiete, die den geeigneten Naehrboden fuer
Islamismus darstellen, wobei das Militaer die vom Staatsgruender Atatuerk
verordnete Saekularisierung des Landes unter Begehung haeufiger
Menschenrechtsverletzungen bewacht. Trotz Reformen sind staendig
Folterfaelle und Vergewaltigungen von Frauen in den Gefaengnissen oder
Polizeistationen zu beklagen. Was will oder besser, wer will die Tuerkei in
der EU?

Anderen Mitgliedslaendern lassen die finanziellen Aussichten eines
tuerkischen EU-Beitritts die Haare zu Berge stehen. Der Staat schuldet dem
IWF bis dato 31 Mrd. Dollar. Um die Tuerkei oekonomisch europareif zu
gestalten, muesste die EU Betraege in das Land transferieren, die so hoch
wie die aller anderen jetzigen EU-Bewerber sein wuerden. Die notwendige
Entmachtung der tuerkischen Armee koennte bei weiteren Eskalationen in
benachbarten Krisengebieten den Islamismus in der Tuerkei zusaetzlich
anheizen.

Zudem wird argumentiert, dass die EU-Aussengrenze dann mit diesem Beitritt
direkt an die Krisengebiete des Nahen Ostens stossen wuerde. Koennte eine
entmachtete Armee fuer den laizistischen Staat eintreten und dem
aufstrebenden sunnitischen Islam Paroli bieten? Kann die EU die gewaltigen
finanziellen Mittel frei machen, die die tuerkische Oekonomie zur
Europareife benoetigt? Und wieviel an kultureller Vielfalt vertraegt ein
Europa, das seine Wurzeln mehrheitlich im Christentum vermutet? So
ueberschreiten die ablehnenden Stimmen auch saemtliche Parteilinien. Der
CSU-Chef Edmund Stoiber lehnt den Beitritt der Tuerkei mit der Begruendung
ab, sie uebersteige die Integrationskraft Europas. Die Tuerkei sein kein
Teil der Wertegemeinschaft. Der Gruene EU-Abgeordnete Johannes Voggenhuber:
spricht vom Erben jahrhundertalter Konflikte: "Wo bleibt die Garantie fuer
Frieden und Stabilitaet?"

Es haette nicht des Scheiterns des Bruesseler Gipfels bedurft, um offen die
Diskussionen ueber ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten zu
fuehren. Die starre Haltung Polens und Spaniens ermoeglicht den Blick auf
eine voellig neue EU, die sich den bisherigen strikten Normen entzieht. Eine
Union, in der "Nein" gesagt werden kann, in der die Vielfalt der
Laenderinteressen wieder zum Vorschein kommt. Alle Konvente, saemtliche
Verfassungsbemuehungen sind letztendlich zum Scheitern verurteilt, wenn sie
von den Bevoelkerungen kaum mitgetragen werden. Auch wenn unter grossem
Tamtam dies und jenes per Medien von Bruessel verkuendet wird, es beruehrt
die Menschen kaum. Die Demokratisierungsversuche erfolgen im nachhinein und
zu spaet. Die als kalt, buerokratisch und diktatorisch empfundenen
EU-Institutionen haben es in all den Jahren nicht geschafft, die Herzen der
Bevoelkerungen zu treffen. So werden laufend neue Kandidaten
durchgepeitscht, ohne die allernoetigsten Demokratisierungsprozesse
durchzufuehren. Oekonomische Strukturen und Maastricht waren wichtiger als
eine Verfassung. Oekonomische Diktate zaehlten mehr als gewachsene
Laendertraditionen.

Ausser der schoenen Landschaft gibt es sicher wenig Gruende, sich ueber
Oesterreich euphorisch und positiv zu aeussern. Einer davon ist jedoch die
"Sturheit", mit der hierzulande die Neutralitaet wie eine Monstranz vor sich
hergetragen wird. Seien es die kolportierten Erfahrungen aus den
Europaeischen Kriegen, den Weltkriege, des Kalten Krieges, der Situation
des Nahen Ostens, der USA, Afghanistan oder Irak - wie auch immer. Sich fuer
die Neutralitaet zu entscheiden, mag in der oesterreichischen derzeitigen
geopolitischen Lage auch frucht- und sinnlos sein - selbst die Vorwuerfe,
das Land huete sich bloss vor Verantwortung und betreibe
Realitaetsverweigerung, vermoegen die Mehrheit hierzulande nicht davon
abzuhalten, vehement fuer die Beibehaltung dieses wichtigen politischen
Instruments zu sein. Selbst wenn die Oesterreicher des oefteren graesslich
waehlen, der Wahlsieger moege sich hueten, die Neutralitaet auch nur in
Frage zu stellen. Immerhin reduzierte dieser Standpunkt die Beistandspflicht
zur Beistandsmoeglichkeit. Haetten wir andere EU-Politiker und vor allem
einen anderen Bundeskanzler, waere es moeglich gewesen, dies wesentlich
prononcierter in der EU vorzubringen - aber was soll`s: Steter Tropfen
hoehlt den Stein. Ein Mini-Widerstand gegen die EU ist es allemal.

Womit die Tuerkei wieder ins Spiel kommt. Ihre, von Pelinka mit 10 Jahren
bemessene Beitrittsfrist haette durchaus Chancen, noch viel frueher zu
erfolgen. So wie Oesterreichs etwas verschwommen vorgebrachter
"Neutralitaetsvorbehalt" eine gemeinsame Beschlussfassung vorerst mal
verhinderte, so kann es mit dem Beitritt der 10 neuen Beitrittslaendern
jederzeit zu Konflikten innerhalb der bestehenden und der erweiterten EU
kommen. Es werden Streitigkeiten auftreten, deren Ausmass Bruessel dazu
zwingen koennte, Referenda einzufuehren oder zu wiederholen und in diesen
und jenen Punkten eine ueberwiegende Anzahl von "Nein-Stimmen" einzufahren.
Themen koennten z.B. die gewaltigen, von der EU geforderten Umwaelzungen der
Landwirtschaft in Polen oder der Tuerkei sein. Die Effizienz der
Unions-Buerokratie koennte sich darin zeigen, wie schnell sie wieder ihre
Heimatlaender erreichen. Denn mit dem zunehmenden Mut der Mitgliedslaender,
Nein zu sagen, waere die Rolle der Union eines Tages dort, wo sie eigentlich
hingehoert: eine soziale Friedensallianz mit ausgedehnter wirtschaftlicher
Zusammenarbeit.
*Fritz Pletzl*



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