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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 2. Dezember 2003; 17:22
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EU/Verfassung:

> "Europa braucht keinen Mini-Bush"

Eine Veranstaltung zur draeuenden EU-Verfassung verlief wie vohergesehen --
selbst der Titel der Berichte darueber war schon festgelegt.


Hans Buerger, ZiB-Redakteur fuer Inland und EU und ORFs oberster
Politkommentator, uebte sich in der Vorwoche als Hellseher. Als Moderator
einer Podiumsveranstaltung, die vom Informationsbuero des Europaeischen
Parlaments und der Vertretung der Europaeischen Kommission in Oesterreich
veranstaltet wurde, behauptete er, die Ueberschrift voraussehen zu koennen,
die von den meisten der anwesenden MedienvertreterInnen gewaehlt werden
wird. Er diktierte "Europa braucht keinen Mini-Bush" und ich schrieb mit,
letztlich war ich ja hochstapelnd zu den Presseunterlagen gekommen.

Als ich auf der marmorierten Prunkstiege im Palais Ferstel gefragt wurde, ob
ich von der Presse sei, antwortete ich, da ich derzeit in der Tat einen
Nebenjob in der Entsorgungsanlage Rinterzelt nebst der Muellpresse habe, mit
Ja. So erhielt ich zwar die fuer JournalistInnen reservierten kurz und
buendig aufgearbeiteten Unterlagen und musste mich nicht mit den plumpen
Broschueren oder ellenlangen Papieren begnuegen, die den normalen
BesucherInnen zugedacht waren, kam aber in die Verlegenheit angeben zu
muessen, von welchem Medium ich sei. Keinen Tau, unter was ich mich
eintragen koenne, schrieb ich nach kurzem Gruebeln akin hin. Meiner der
Rahmung nicht ganz passenden Kleidung zufolge in den Augen der
Mitarbeiterin, die den Zettel wieder entgegennahm, wohl eine verarmte, aus
einem beitrittswilligen Land stammende Nachrichtenagentur.

Die EU im Wandel und ihre Kaffee kochenden EU-KommissarInnen

Wie dem auch sei, jedenfalls kann man Karl Georg Doutlik, dem Leiter der
oesterreichischen Vertretung der Europaeischen Kommission, der gemeinsam mit
Michael Reinprecht, dem Leiter des Informationsbueros des Europaeischen
Parlaments, die Veranstaltung "Wohin geht Europa? Vom Konvent zur
Europaeischen Verfassung" eroeffnete, nur zustimmen, wenn er festhaelt, dass
Europa an der Schwelle eines grossen, historischen Umbaus steht -- auch wenn
einem der affirmative Unterton, mit dem die Elite fuer gewoehnlich Aussagen
dieser Art taetigt, angesichts der sich abzeichnenden Entwicklungen nicht
gefaellt.

Stutzig wird man allerdings, wenn so grosse Worte einleitend gewaehlt
werden, um dann die hochkaraetigen RepraesentantInnen der wichtigsten
Unionsorgane - am Podium war das EP durch dessen Praesidenten Pat Cox, die
EU-Kommission durch Kommissar António Vitorino, der als Vertreter der
Kommission bei der nun tagenden Regierungskonferenz fungiert, und der
Europaeische Rat durch Aussenministerin Benita Ferrero-Waldner vertreten -
die Zukunft Europas nur hoechst eindimensional beleuchten zu lassen. Denn
die Diskussion ueber den vom Europaeischen Konvent in Thessaloniki am 20.
Juni 2003 vorgelegten Verfassungsentwurf wurde nur entlang der Fragestellung
diskutiert, ob die vorgeschlagene doppelte Mehrheit (d.h. sowohl Mehrheit
der Mitgliedsstaaten als auch der Unionsbevoelkerung im Rat) kommen oder die
ausgewogene, aber aeusserst komplizierte Stimmgewichtung von Nizza
modifiziert werden soll, ob alle Laender nach der Erweiterung in der
Kommission vertreten sein sollen und wenn ja, ob es dann Mitglieder der
Kommission ohne Ressort und Stimmrecht, sogenannte B-KommissarInnen quasi
zum Kaffeekochen gegen Millionengagen, geben soll, um handlungsfaehig zu
bleiben, oder nicht.

Institutionelle Fragen sind natuerlich Machtfragen. So wird sich das
kuenftige Gewicht kleiner und mittlerer Staaten innerhalb der EU in den
naechsten Monaten - die Ratifizierung der sich in Ueberarbeitung
befindlichen Verfassung ist fuer Mitte 2004 terminisiert - entscheiden.
Entsprechend betonte Ferrero-Waldner als Vertreterin eines "mittleren
Staates", und nicht etwa eines kleinen, wie sie mehrmals unterstrich, dass
neben der Revision des Euratom-Vertrags, der vom Konvent ausgeblendet blieb,
die Zusammensetzung der Kommission und die Entscheidungsmodi im Rat
einschliesslich der eventuellen Abschaffung der Rotation der
Praesidentschaft noch Gegenstand von Verhandlungen sind. Auch Vitorino, der
als Portugiese ebenso wie Cox als Ire, seine nationalen Wurzeln in der
grossen Gruppe der Klein- und Mittelstaaten in der EU hat, widmete sich in
seinen Ausfuehrungen dem Problemkreis, wie in einer erweiterten Union
einerseits der Einfluss von kleinen und mittleren Staaten gesichert und
andererseits die vom Europaeischen Rat von Laeken (Ende 2001) fuer die
Verfassung formulierte Vorgabe nach Arbeitsfaehigkeit der Organe erfuellt
werden kann. Strittig sind also nur mehr die institutionellen Arrangements,
die Zusammensetzung des Orchesters wird debattiert, die - um im Bild zu
bleiben - musikalische Richtung (Neoliberalismus als Verfassungsauftrag
[Art. II-188] mit militaerischer Begleitmusik [Art. I-40]) steht aber ausser
Streit, nur ueber das genaue Repertoire und Nuancen in der Tonart gibt es
noch Meinungsverschiedenheiten.

Verfassungen und PolitikerInnen, die ueber den Politikinhalt schweigen

Europa muesse, so lautet sinngemaess eine weitere Vorgabe, die dem Konvent
durch die "Erklaerung von Laeken zur Zukunft der Europaeischen Union" auf
den Weg mitgegeben wurde, ein Stabilitaetsfaktor in der neuen Weltordnung
werden. Die Einschaetzung, dass es aufgrund dieser Aufgabenstellung
unweigerlich zu einer Festlegung der politischen Ausrichtung der
Gemeinschaftspolitik auf Verfassungsebene kommen musste, wurde von António
Vitorino insofern bestaetigt, indem er darauf verwies, dass der wesentliche
Unterschied der EU-Verfassung, die seiner Meinung nach die Limitierung von
Macht und die Schaffung einer europaeischen Identitaet bezweckt, zu
nationalen Verfassungen darin besteht, dass letztere fuer gewoehnlich nichts
ueber den Inhalt von Politik aussagen; eine Eigenschaft im Uebrigen, die
sie, wie soeben erwaehnt, von der supranationalen Verfassung unterscheidet,
jedoch nicht von den massgeblichen supranationalen AkteurInnen, denn diese
schienen an diesem Abend ueber die Politikinhalte Stillschweigen vereinbart
zu haben.

Selbst Pat Cox, der sich mit seiner Aussage, dass die Fuesse unterm
Kommissionstisch im Vergleich zu den Agenden darauf unerheblich seien, sehr
nahe an den eigentlichen Kern der fuer die Veranstaltung namensgebenden
Frage "Wohin geht Europa?" heranwagte, vermied es tunlichst, konkret zu
werden. So war wohl neben der Grundrechtscharta, die der Union
Rechtspersoenlichkeit verleihen wird, vorwiegend das in Hinkunft per
Verfassung vorgegebene Ziel zur weltweiten Durchsetzung des Freihandels
gemeint, als er vom Europa der Werte schwaermte. Ein Europa, das seines
Erachtens in der gesammelten Weisheit der Verfassung gegenstaendlich wird,
die, wie er sagte, gemeinsam mit der Erweiterung den groessten Fortschritt
in der Idee Europa seit der Zeit Robert Schumanns darstellt. In Erwiderung
auf bzw. in Anlehnung an Rumsfelds Europadichotomie definierte er sodann das
neue Europa als das Europa der Verfassung und Erweiterung, waehrend er das
alte Europa auf den Schlachtfeldern des ehemaligen Jugoslawiens ausmachte,
ehe er aus Konsequenz aus dem Massaker von Srebrenica von der Notwendigkeit
zur Uebernahme von politischer Verantwortung in der Welt sprach, um nicht
von der jetzt zur Entscheidung anstehenden verfassungsmaessigen
Verpflichtung zur schrittweisen Aufruestung und systematischen Staerkung der
militaerischen Interventionskapazitaeten sprechen zu muessen. Verantwortung,
die seinem Dafuerhalten uebernommen werden kann, weil die Verfassung
Ausdruck des politischen Willens dazu ist und eben nicht leeres Papier.
Europa brauche deshalb auch keinen starken Bush oder eine Miniausgabe von
ihm - da erntete Cox Lachen seitens dem Auditorium - wiewohl die
Kompetenzverteilung zwischen Kommissionspraesident/in, Ratspraesident/in und
EU-Aussenminister/in einer Klaerung bedarf und deren Zustaendigkeit
eindeutig zuordenbar gemacht werden muss, um derzeit noch bestehende
Verantwortungsluecken schliessen zu koennen.

Von Kleinigkeiten und letzten Resten

Dass die Ausgestaltung der Architektur des Institutionengefueges, die
Machtverteilung zwischen den supranationalen Unionsgremien und den
Mitgliedsstaaten keine Kleinigkeiten sind, die der Diskussion nicht wert
sind, wurde bereits angemerkt. Dennoch, wenn Aussenministerin
Ferrero-Waldner, selbstredend unter Hinweis darauf, dass
Kommissionsmitglieder auf die EU vereidigt werden und es folglich
unzulaessig waere, sie als nationale VertreterInnen zu betrachten,
befuerwortet, dass alle Laender einen Sitz in der Kommission erhalten
sollen - was hoechstwahrscheinlich auch der Fall sein wird, da vermutlich
neben dem Kollegium kleinere zu spezifischen Themen arbeitende
Kommissionsgruppen gegruendet werden - weil dadurch die Moeglichkeit
bestehe, auch das oesterreichische Denken, das durch Franz Fischler ihrer
Meinung nach oekosoziale Landwirtschaft heisst, ins vereinte Europa
einzubringen, dann kann nur erwidert werden, dass die Haltung der EU etwa
bei der WTO-Konfernz in Cancun hinsichtlich der Exportfoerderung von
Agrarprodukten den inhaltlichen Festlegungen, die nun in Verfassungsrang
gehoben werden sollen, geschuldet ist und keine Aenderung erfahren wird,
gleichviel welche Antwort auf die institutionelle Herausforderung gegeben
wird. Entscheidend sind und bleiben die Positionen, die Ziele der EU. Um so
mehr ging der Appell von EP-Praesident Cox, sich nicht mit Kleinigkeiten,
unwichtigen Fragen zu beschaeftigen angesichts der historischen Chance, die
letzten Reste der Berliner Mauer durch die Aufnahme weiterer zehn
Mitgliedsstaaten wegzubrechen, wie er formulierte, an diesem Abend ins
Leere.

Nur 11% wollen lesen, was sicher kommt

Vor dem Hintergrund, dass ueber 60% der UnionsbuergerInnen, das sind in
absoluten Zahlen mehr als 300 Millionen Menschen, noch nie etwas von dem
Vorhaben, der EU eine Verfassung zu geben, gehoert haben, was Hans Buerger
eine Erhebung zitierend anmerkte, ist es nicht verwunderlich, das die
EntscheidungstraegerInnen hinsichtlich der Verfassungsinhalte nicht gerade
fuer Transparenz sorgen. Als problematisch sah Buerger ferner die geringe
Bereitschaft der Bevoelkerung (11%) an, die EU-Verfassung lesen zu wollen.
Dass aber im Konvent 340 der 465 Artikeln nicht debattiert wurden, sondern
zwischen den Aussenkabinetten in Paris und Berlin und dem Praesidium des
Konvents mit seinem Vorsitzenden Valéry Giscard dEstaing (dem ehemaligen
franzoesischen Staatspraesidenten, der sich aufgrund der Annahme einer Reihe
von Diamanten vom zentralafrikanischen Diktator Bokassa Anfang der 80er
Jahre politisch zurueckziehen musste), ausgehandelt wurden, erwaehnte der um
die Demokratie besorgte Buerger Buerger nicht. Jedenfalls wurde der so
entstandene Verfassungsentwurf von Benita Ferrero-Waldner als gute Grundlage
bezeichnet, die nur mehr zu 5 bis 10% diskutiert wird, und das
ausschliesslich im Hinblick auf die Zusammensetzung der Institutionen,
weshalb sie auch konstatierte, dass es zu dieser Verfassung frueher oder
spaeter kommen wird.

Wie haettens denn gern Kerneuropa? Mit oder ohne Verfassung?

So sicher wie Kerneuropa, denn fuer den Fall des Scheiterns der Verfassung -
mit Referenden, auch wenn man sie gegebenenfalls nur einfach zu wiederholen
braucht, kann man, wie Cox als Ire leidgeprueft eingestand, durchaus seine
schlechten Erfahrungen machen - wurde die deutsch-franzoesische
Zusammenarbeit ausserhalb des Rahmens der EU prophezeit. Dass durch die im
Verfassungsentwurf vorgesehene Ausweitung der vertieften zur strukturellen
Zusammenarbeit und die Schaffung einer militaerischen Kerngruppe, "die
anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die militaerischen Faehigkeiten"
erfuellt, genau dieses Integrationsmodell der unterschiedlichen
Geschwindigkeiten im Rahmen der EU ermoeglicht werden soll, war gerade mal
eine Randbemerkung wert. Ja, weil wichtig, so die womoeglich bald schon
hoechste Frau im Staat, ist in Bezug auf Kerneuropa nur die Moeglichkeit des
Anschliessens, wenn man, so Ferrero-Waldner woertlich, "national soweit
ist - das gilt auch fuer die Gemeinsame Sicherheits- und
Verteidigungspolitik."
*Roman Gutsch*



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