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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 25. November 2003; 16:36
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Israel/Kommentar der Anderen:

> Nationale Einheit oder Klassenkampf?

Die politische Situation Israels wird meistens im Lichte des
Palaestina-Konfliktes beschreiben, wobei die israelische Bevoelkerung als
homogen dargestellt und wahrgenommen wird. Das ueberdeckt die Grenzen, die
innerhalb der israelischen Gesellschaft selbst verlaufen. Denn auch im
"Heiligen Land" findet sich eine Klassengesellschaft, die in sich tief
gespalten ist.

Die soziale Situation innerhalb Israels ist nicht weniger explosiv als die
Spannungen aufgrund des palaestinensischen Widerstandes. Angesichts des
immer lebendiger werdenden Klassenkampfes in Israel versucht die herrschende
Klasse, diese Realitaet zu verzerren und propagiert umso mehr die
Notwendigkeit der Einheit der israelischen Bevoelkerung gegen den
gemeinsamen aeusseren Feind.

Dass die israelische Gesellschaft in sich vielfach gespalten ist, reicht bis
zur Gruendungszeit des Staates zurueck. Zu Beginn bildeten die
aschkenasischen JuedInnen, also EinwandererInnen aus Mittel- und Osteuropa,
die Mehrheit der Bevoelkerung. In den 50er Jahren kam eine grosse Zahl
sephardischer EinwandererInnen, die aus arabischen Laendern vertrieben
wurden, hinzu. Sephardische JuedInnen waren meist arm, wenig ausgebildet und
bilden bis heute den groessten Teil der ArbeiterInnenklasse, waehrend die
herrschende Klasse und die Mittelschicht von aschkenasischen JuedInnen
dominiert ist. Die Elite nutzte die aus den arabischen Laendern kommenden
JuedInnen als billigen Ersatz fuer palaestinensische ArbeiterInnen in den
landwirtschaftlichen Genossenschaften. Sie wurden in Slums untergebracht, wo
viele von ihnen bis heute leben und aufgrund der nichteuropaeischen Herkunft
mit Misstrauen betrachtet und kulturell unterdrueckt werden.

In der juengeren Geschichte immigrierte etwa eine Million JuedInnen aus der
ehemaligen Sowjetunion nach Israel. Diese kamen zum groessten Teil nicht aus
religioesen Gruenden, sondern weil sie nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion ihrer Lebensgrundlage beraubt worden waren. Es handelt sich
hauptsaechlich um hochqualifizierte Personen, AertztInnen, IngeneurInnen.
Obwohl die Universitaeten und qualifizierten Stellen z.B. in Krankenhaeusern
heute ueberproportional mit EinwandererInnen aus den heutigen GUS-Staaten
besetzt sind, erlitten dennoch viele, denen vorher Wohlstand und soziale
Sicherheit versprochen worden war, letztendlich ein aehnliches Schicksal wie
die sephardischen ZuwandererInnen der fuenfziger Jahre. Tausende ehemalige
SowjetbuergerInnen leben bis heute in Wohnwagensiedlungen und machen den
groessten Teil der arbeitslosen Bevoelkerung aus. Noch schlechter jedoch
erging es den aethiopischen ImmigrantInnen, die etwa zur gleichen Zeit -
wenn auch in viel geringerer Zahl - nach Israel kamen. Die Kluft zwischen
schwarzen und weissen JuedInnen ist gross. ZuwandererInnen aus Aethiopien
sind besonders betroffen von Verarmung, Arbeitslosigkeit, Kriminalitaet,
Drogenmissbrauch und sie stellen den hoechsten Anteil an
SchulabbrecherInnen.

Teil der ArbeiterInnenklasse Israels sind ausserdem die etwa 140 000
nicht-juedischen ArbeitsmigrantInnen, von denen etwa die Haelfte illegal im
Land lebt und arbeitet. Mittlerweile leben ganze Wirtschaftszweige von
diesen hauptsaechlich aus der ehemaligen Sowjetunion, den Philippinen,
Afrika und Lateinamerika stammenden EinwandererInnen. Sie dienen der
israelischen Wirtschaft als billige Arbeitskraefte abseits der
PalaestinenserInnen und werden auf arbeitsrechtlicher und gesellschaftlicher
Ebene massiv diskriminiert.

Israelische PalaestinenserInnen

PalaestinenserInnen mit israelischer Staatsbuergerschaft machen etwa 20% der
Bevoelkerung aus und sind besonders stark von systematischer
Schlechterstellung betroffen. Aus dem Selbstverstaendnis Israels als
"juedischer Staat" resultiert bereits strukturell eine Benachteiligung und
ein Ausschluss der nichtjuedischen Bevoelkerung. Oeffentliche
Dienstleistungen wie Gesundheits- und Sozialfuersorge und Bildung sind ihnen
in weitaus geringerem Masse zugaenglich, obwohl sie die gleichen
Steuerabgaben zu leisten haben. Einige palaestinensische Doerfer und
Kleinstaedte innerhalb des israelischen Staatsgebietes sind nicht einmal auf
den Landkarten verzeichnet und damit auch vollstaendig von kommunalen
Diensten ausgeschlossen. Kulturelle Diskriminierung aeussert sich in der
Unterdrueckung der arabischen Sprache in den Medien, in der Ignoranz
gegenueber einer arabischen oder palaestinensischen Identitaet in den
Schulen, wo ausdruecklich "juedische" Geschichte gelehrt wird. Die Freiheit
palaestinensischer Israelis wird durch institutionalisierten Rassismus
beschnitten, staendig werden sie von der Polizei kontrolliert und
schikaniert. Der israelische Staat bemueht sich seit Jahren, die
palaestinensische Bevoelkerung aus den gemischten Staedten zu vertreiben, in
dem sie z.B. keine Baugenehmigungen an sie erteilt und bereits errichtete
Haeuser und Wohnungen nachtraeglich fuer illegal erklaert.

Saekularitaet und Religion

Auch in der Glaubensfrage spaltet sich die israelische Gesellschaft, die
Spannung zwischen religioesen und saekularen JuedInnen steigt. Ueber 70% der
Bevoelkerung stufen sich zwischen "saekular" und "nicht orthodox" ein. Der
groesste Teil der Bevoelkerung lehnt daher auch religioese Einschraenkungen
im Bereich des oeffentlichen Lebens und Privilegien wie die der orthodox
religioesen Jeschiwot-Schulen ab. Selbst die Mehrheit der SiedlerInnen in
der Westbank und Gaza lebt dort nicht aus militanter Ueberzeugung, um den
vermeintlichen Anspruch auf diese Gebiete zu verteidigen, sondern einfach
deswegen, weil Wohnraum in Staedten wie Tel Aviv oder Jerusalem nicht
erschwinglich ist.

Wirtschaftskrise...

Um als Staat angesichts der schwierigen Umstaende und all der vorhandenen
Widersprueche nicht zusammenzubrechen, braucht Israel den starken
gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine Strategie dazu war in der
Vergangenheit ein besonders starkes Eingreifen des Staates in das Leben der
Israelis sowie eine geschuetzte Wirtschaft. Sowohl der Grossteil der
Industrie wie auch eine relativ weitgreifende Gesundheits- und
Sozialversorgung und ein gutes Bildungssystem lagen bis Mitte der neunziger
Jahre in der Hand der staatlichen Organisation Histadrut, die heute nur noch
als Gewerkschaftsdachverband fungiert. Dadurch wurde das Gefuehl einer
gewissen sozialen Sicherheit erzeugt, und Klassenunterschiede kamen nicht so
stark zum Ausdruck.

In den neunziger Jahren aenderte sich die protektionistische
Wirtschaftspolitik. Der gesamte staatliche Industriebesitz und dann auch das
Gesundheits- und Bildungssystem wurden schrittweise privatisiert. Der
neoliberale Umschwung fuehrte zu einer massiven Verschlechterung der
oeffentlichen Versorgung, zu steigender Arbeitslosigkeit und zur Verarmung
grosser Teile der Bevoelkerung. Selbst Phaenomene wie Obdachlosigkeit, die
frueher undenkbar waren, nehmen zu.

Heute befindet sich die israelische Wirtschaft in einer tiefen Krise, die
nicht urtsaechlich, aber auch durch die explodierenden Kosten, die durch die
Aufrechterhaltung der Besatzung der palaestinensischen Gebiete entstehen,
verursacht wird. Auf Israels ArbeiterInnen werden so nun massive Angriffe
gestartet, die bereits zu einer breiten Verarmung gefuehrt haben. Mehr als
50% der Bevoelkerung verdienen lediglich den Mindestlohn, und die
Arbeitslosigkeit liegt bei fast 20%.

... und Massenbewegung

Schon in den letzten Jahren gab es Massenbewegungen der israelischen
ArbeiterInnen gegen Lohnkuerzungen und Entlassungen, vor allem im
oeffentlichen Bereich. Nun hat sich die Situation enorm zugespitzt. Seit dem
29. September streikten in Israel ueber 60.000 Beschaeftigte im
oeffentlichen Dienst. Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr setzen sie sich
gegen heftige Einschnitte der rechtskonservativen Regierung in den
Staatsausgaben und der Sozialversicherung zur Wehr. 600 Entlassungen hatte
die Gewerkschaft bereits im Mai zugestimmt - nun sollen weitere 2.000
Stellen gestrichen werden, das gesamte Kuerzungsprogramm umfasst rund 2
Milliarden Euro. Insbesondere in den Haefen wurde der Streikaufruf massiv
befolgt - ueber 40 Schiffe lagen bereits nach zwei Tagen wartend in den
Anlagen. Zusaetzlich planen nun auch die Studierenden einen Streik, nach dem
sich die Regierung weigert die Studiengebuehren wie versprochen zu
verringern. Nach wochenlangem Drohen hat der Histadrut weitreichende
Streikmassnahmen angekuendigt. Anfang November streikten der oeffentliche
Dienst, Banken, Postaemter, Zuege und der Flughafen in Tel Aviv vier Stunden
lang. Ein Generalstreik war per Gericht verboten worden. Ein
Generalstreikszenario versetzt die herrschende Klasse verstaendlicherweise
in Angst und Schrecken, die angekuendigt hatte, "alle notwendigen Mittel"
einzusetzen, um einen Massenstreik zu brechen.

Klassenkampf statt nationaler Einheit

Der entscheidende Trumpf, den der israelische Staat in Haenden, haelt ist
die Angst der Bevoelkerung vor der aeusseren Bedrohung. Der
palaestinensische Terrorismus spielt der herrschenden Klasse in die Haende,
die damit die Notwendigkeit eines enormen Repressionsapparates begruenden
kann. Sharon versucht, den Aerger gegen das korrupte Regime zu kanalisieren
und in eine nationalistische Richtung zu lenken, was sich in besonders
brutalen Angriffen auf die PalaestinenserInnen, aber auch in den juengsten
Militaerschlaegen gegen Syrien ausdrueckt.

Diese Strategie scheint jedoch immer mehr an Wirksamkeit zu verlieren, da
neben den oekonomischen Kaempfen auch die Bewegung innerhalb Israels gegen
die Repression in den besetzten Gebieten waechst. Das juengste Beispiel nach
den "Refuseniks", die den Militaerdienst in der Westbank und dem
Gazastreifen verweigern, sind nun 27 protestierende Piloten. Sie hatten in
einer oeffentlichen Deklaration bekannt gegeben, sich nicht weiter an
gezielten Toetungen palaestinensischer militaerischer und politischer
FuehrerInnen zu beteiligen, bei denen in der Realitaet dann
palaestinensische ZivilistInnen ermordet werden.

Diese Weigerung der Piloten spiegelt nicht nur die breite Unzufriedenheit
innerhalb der Armee, sondern auch in der israelischen Gesellschaft als
ganzes wider. Die oeffentliche Debatte ueber die Unrechtmaessigkeit der
Besatzung ist ein Ergebnis der allgemeinen oekonomischen und sozialen Krise.
Immer mehr Israelis erkennen, wo ihr hart verdientes Geld investiert wird,
naemlich in den Militaerapparat und in den Ausbau und Schutz der Siedlungen.
Der blutige Krieg kostet nicht nur unzaehlige palaestinensische und
israelische Leben, sondern hat auch einen hohen sozialen und oekonomischen
Preis. Die Klassenkaempfe, die sich nun auf einem neuen Hoehepunkt befinden,
bieten einen konkreten Ansatzpunkt dafuer, dass die israelischen
ArbeiterInnen sehen, dass ihre wahren BuendnispartnerInnen nicht ihre
israelischen Bosse sind, sondern ihre palaestinensischen KollegInnen.
*Marina Kosara, aus: Der Funke*

Quelle: http://www.derfunke.at/hp_artikel/israel_f54.htm




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