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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 11. November 2003; 17:37
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Israel/Palaestina:

> Da bleibt nur noch Drueberklettern

Die Mauer, die das israelische Militaer in den palaestinensischenGebieten
bauen laesst, dehnt sich mit hohem Tempo aus. In den Vororten Jerusalems
zeigen sich die Folgen.

Noch laesst sich die Mauer in Jerusalem ueberqueren. An einigen Stellen ist
der Stacheldraht von den etwa 2,5 Meter hohen und einen halben Meter breiten
Betonelementen heruntergerissen und liegt lose am Boden. Herbeigeschaffte
Steinbrocken vereinfachen die Kletterei. An einem Ort haben
PalaestinenserInnen einen Strick in der Mauer verankert, daran koennen sich
die Leute hochziehen, und dank dem Strick muessen sie auch nicht
herunterspringen. Vom naechsten israelischen Wachposten, der nur etwa
fuenfzig steile Meter weiter oben liegt, laesst sich alles gut ueberblicken.
Manchmal intervenieren die Soldaten gegen die Mauerkletterer, meistens
lassen sie es bleiben. So koennen fast alle die Betonwand ungehindert
ueberqueren. Schwieriger ist es fuer einen Blinden mit seinem Stock und fuer
eine Frau in einem langen Rock mit viel Gepaeck. Doch beide schaffen es.
Anders ein Gehbehinderter: Nach zwei Anlaeufen muss er aufgeben.

Hier, in den palaestinensischen Aussenbezirken von Jerusalem, verlaeuft die
Mauer mitten auf der Strasse. Sie zerteilt sie laengs, und genauso zerteilt
sie die mit Jerusalem zusammengewachsenen Doerfer al-Aisarija und Abu Dis.
Wer auf die aussen gelegene Seite will, hat die Wahl: Entweder nimmt man das
Sammeltaxi bis zur Mauer und hofft auf freie Bahn, oder man macht einen gut
halbstuendigen Umweg und passiert einen Checkpoint. In die andere Richtung
ist die Wahl weniger frei. Waehlen kann nur, wer einen
Jerusalem-Personalausweis besitzt. Wer bloss einen Westbank-Ausweis hat,
kommt ohne Sonderbewilligung nicht legal nach Jerusalem. Da bleibt nur noch
Klettern. Die palaestinensische Al-Kuds-Universitaet liegt direkt an der
Mauer, und zwar aussen. Fuer die StudentInnen aus Jerusalem stellt sich die
Frage der richtigen Routenwahl taeglich. Ein Geschaeftsmann hilft sich
anders. Er bestellt einen Kurier zur Mauer, verstaendigt sich mit ihm per
Mobiltelefon und mit Rufen auf einen Ort und gibt dann Dokumente durch eine
der Luecken zwischen den einzelnen Betonelementen weiter.

Noch ist die Mauer, die Jerusalem von der Westbank trennen wird, nichts als
eine weitere Schikane, die nur die Schwaechsten gaenzlich blockiert. Doch
die PalaestinenserInnen vermuten, wohl zu Recht, dass die Mauer bald jener
bei der weiter noerdlich gelegenen Stadt Kalkilja gleicht. Bis zu acht Meter
hoch steht sie dort, lueckenlos, mit angeschlossenen Wachtuermen. Und noch
steht sie in Jerusalem erst in Abu Dis und al-Aisarija, die anschliessenden
Abschnitte sind erst im Bau. Bei Betlehem und Ramallah aber wird sichtbar,
wie die «Enveloppe», die Umhuellung Jerusalems, verlaeuft und wozu sie
dient. Bei diesen beiden Nachbarstaedten Jerusalems ist der Bau eines
Grenzstreifens weit fortgeschritten. «Lebensgefahr» steht auf diesem
vierfachen Zaun, dessen innere Gitter elektrisch gesichert sind. «Wer den
Zaun beruehrt oder ueberwindet, riskiert sein Leben.» Auf einer Strasse
zwischen den Zaeunen koennen israelische SoldatInnen Patrouille fahren,
feste Posten kontrollieren weite Abschnitte des Streifens. Durchlaesse gibt
es nicht, nur die seit langem bestehenden Checkpoints der Armee sind - mit
dem richtigen Ausweis - weiterhin passierbar.

Dieser Zaun umschliesst nicht Jerusalem und die die Stadt umgebenden
illegalen juedischen Siedlungen. Nein, er wendet sich gegen Ramallah und
gegen Betlehem. Sicher, auch bei der «Enveloppe» geht es um Landraub:
Palaestinensische Doerfer sind von grossen Teilen ihrer Felder
abgeschnitten. Nicht bloss ein einzelner Bauer kann ein paar Olivenbaeume
nicht mehr erreichen, sondern ganze Doerfer verlieren ihr bebaubares Land.
Und auch bei Jerusalem gibt es zwei Doerfer, die zwischen Mauer und
Jerusalem eingeklemmt sind, deren BewohnerInnen die «falschen» Ausweise
besitzen und nicht mehr vor und zurueck koennen. Sicher, bei der «Enveloppe»
geht es auch, wie ueberall, wo die Mauer schon gebaut ist, um Wasserraub:
Einzelne Doerfer der Westbank werden von ihren Brunnen abgeschnitten. Und
sicher, es geht auch um die Anbindung der Siedlungen ans israelische
Kernland. All diese beabsichtigten Folgen der «Sicherheitsmauer» sind
mittlerweile von Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen sowie der
Uno-Agentur fuer humanitaere Angelegenheiten gut dokumentiert (1). Doch fuer
Ramallah und Betlehem bedeutet der Zaun noch mehr: Er schnuert die beiden
Staedte ein. Zusammen mit den Siedlungen und den fuer Autos mit
palaestinensischem Nummernschild verbotenen Siedlerstrassen wuergt er die
Staedte ab. Wer von Betlehem in ein Dorf im Westen gelangen will, nimmt ein
Sammeltaxi bis zur Siedlerstrasse Nummer 60, ueberquert diese zu Fuss und
nimmt dann ein weiteres Sammeltaxi. Ramallah und Betlehem sind von ihrem
Umland abgeschnitten. Sie werden ersticken. Sie haben keine Moeglichkeit
mehr, sich auszudehnen und zu entwickeln. Es ist beinahe egal, wo man sich
in diesen Staedten bewegt - man sieht den Zaun oder juedische Siedlungen
oder eine Siedlerstrasse.

Zurueck zur Provinz

So wird das staedtische Leben Palaestinas zerstoert. Die Staedte verlieren
ihren Sinn als materielle und geistige Markt- und Umschlagplaetze.
Erwerbsmoeglichkeiten gehen verloren, und der kulturelle Freiraum, die Luft,
die eine Stadt jungen und unkonventionellen Menschen bieten kann, zerfaellt.
Die palaestinensische Metropole Ramallah, die in der zweiten Haelfte der
neunziger Jahre boomte und Kulturschaffende und Lebenslustige anzog, hat
nunmehr wieder den zweifelhaften Charme einer arabischen Provinzstadt. Doch
nicht genug: Ramallah und Betlehem drohen aehnlich zu ersticken wie
Kalkilja. Kalkilja ist bis auf einen einzigen Checkpoint und vier Tore, die
nach Belieben der israelischen Armee geoeffnet und geschlossen werden, von
Mauer und Zaun eingeschlossen. Von den rund 40 000 EinwohnerInnen Kalkiljas
sind laut Angaben des palaestinensischen Umweltschutznetzwerks Pengon
mittlerweile drei Viertel von Lebensmittelhilfe abhaengig. Die
Arbeitslosenquote liegt bei 67 Prozent. Bereits sind 4000 Menschen aus der
Stadt weggezogen.

Da weder die israelische Regierung noch das Militaer Plaene der Mauer
veroeffentlicht haben, mussten die MitarbeiterInnen von Pengon ihren
mutmasslichen Verlauf in Erhebungen der angedrohten und bereits vollzogenen
Enteignungen vor Ort ermitteln. Wird sie tatsaechlich und vollstaendig so
gebaut, wie Pengon das dokumentiert, so wird die Westbank «gasa-isiert», dem
Gasastreifen angeglichen. Dank der Mauer koennen die israelischen
Rechtsaussenpolitiker inner- und ausserhalb der Regierung auf den
«Transfer», wie die von ihnen angestrebte massenhafte Vertreibung von
PalaestinenserInnen aus der Westbank beschoenigend umschrieben wird,
verzichten. Stattdessen pfercht man die PalaestinenserInnen in
Eingeborenenreservate ein, die weitgehend abgeschnitten sind von der
modernen Welt, von den sie umgebenden Schnellstrassen mit Tunnels und
Bruecken, den Wasserleitungen und den Staedten und Siedlungen westlichen
Stils. Durchgefuettert werden die Eingeborenen dann von der «internationalen
Gemeinschaft»: von den Hilfswerken und den Uno-Agenturen.

In Betlehem gilt, als einziger vollzogener Schritt der Roadmap, seit Juli
wieder die Regelung der palaestinensisch-israelischen Oslo-Abkommen. Das
heisst, dass sich die israelischen Truppen umgruppiert haben und die
Palaestinensischen Autonomiebehoerden erneut die gestaffelte Souveraenitaet
in A-, B- und C-Gebieten uebernommen haben. Die Polizisten der
Autonomiebehoerden verfuegen nun wieder autonom ueber den Stadtkern von
Betlehem, gelb-schwarze Betonbloecke an den Strassen zeigen das Ende ihres
Hoheitsgebietes an. In den Aussenbezirken, den C-Gebieten, haben die
israelischen Truppen vertragskonform die volle Kontrolle. Die
Autonomiebehoerden von Jassir Arafat regieren und kontrollieren also
immerhin ein Stadtzentrum und den entlegenen Gasastreifen. Ausserdem sind
sie zurzeit in der Lage, die Gehaelter zu bezahlen und beispielsweise
Schulen und Kliniken am Laufen zu halten. Politisch bleiben sie machtlos.
Doch diese Fiktion einer Autonomiebehoerde ist dennoch weitgehend mit sich
selber beschaeftigt, mit der Ernennung und Auswechslung von Ministern, die
zwar ein Portefeuille, aber kaum Kompetenzen besitzen. Und so hat sie es
bisher nicht einmal ansatzweise geschafft, eine wirksame Kampagne gegen die
Mauer zu organisieren, die ein lebensfaehiges Palaestina in einigen Monaten
schon gaenzlich zur Utopie machen wird.
*Armin Koehli, in Woz 45/2003*


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