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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 11. November 2003; 17:41
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Gross-Britannien:
> James Bond in Nordirland
von Bernadette McAliskey* (aus WoZ 45/03)
1969: ProtestantInnen, angefuehrt von ihrer Polizei, ueberfallen die
katholischen Quartiere von Derry und Belfast und stecken ganze Haeuserzeilen
in Brand. Die dort wohnenden Arbeiterfamilien fliehen - viele bis in die
Republik Irland, manche sollten nie wieder zurueckkehren.
Laut republikanischer Mythologie war es nur einigen Mitgliedern der alten
Irisch-Republikanischen Armee IRA, die Waffen ausgruben, zu verdanken, dass
der marodierende protestantisch-loyalistische Mob gestoppt werden konnte.
Kurz danach patrouillierten britische Truppen durch die Strassen, und die
«Provisional IRA», die «Verteidigerin des Volkes», entstand. Seither haben
die Briten an ihren Nachbarn alles ausprobiert. Sie griffen zu jeder
denkbaren Form der Unterdrueckung. Dennoch gaben die IrInnen nicht klein
bei.
Wer ist Stakeknife?
Ein «stake knife»ist ein Jagdmesser mit feststehender Klinge. Ueber ein
solches Messer verfuegen die britischen Regierungen offenbar seit ueber
dreissig Jahren; schon 1969 hatten die britischen Geheimdienste einen oder
mehrere Agenten ziemlich nah am Herzen der damals gerade neu entstehenden
IRA platziert. Als die Medien im Mai 2003 ueber den oder die Agenten
berichteten, sassen diese immer noch an zentralen Stellen in der
Organisation. Der Codename fuer den beziehungsweise die Agenten lautete
«stake knife».
Nach dieser Enthuellung jagten sich die Beschuldigungen und Dementis. Die
IRA verurteilte die Story als Teil eines «Propagandakriegs» zur
Destabilisierung der IRA und des Friedensprozesses. Die britische Regierung
bewahrte offiziell zwar Stillschweigen, liess aber weiter Informationen
durchsickern.
Fuer eine kurze Zeit geriet die Welt der Spionage zur Farce. AgentInnen,
Spitzel und InformantInnen drohen ihrer Arbeitgeberin - der britischen
Regierung - mit Klagen, weil sie sich in dem einsetzenden Frieden nicht
genuegend geschuetzt fuehlten; und mit jedem Tag schwand die Aussicht, dass
jemals eine Wahrheitskommission oder eine oeffentliche Untersuchung ans
Licht foerdern wuerde, was in den letzten Jahrzehnten wirklich gespielt
wurde. Doch die Farce hatte schon vorher begonnen. Im Maerz 2002 fiel die
bis dahin undurchdringbare Festung von Castlereagh, das Verhoerzentrum der
nordirischen Polizei, in dem tausende schikaniert und gefoltert worden
waren, einem Raubzug zum Opfer. Eine kleine Gruppe bewaffneter und
maskierter Maenner spazierte praktisch am helllichten Tag in das
bestbewachte Gebaeude von Belfast und klaute geheime Unterlagen. Natuerlich
verdaechtigten alle zuerst die IRA, die auch kurz in dem Ruhm badete, den
solch kuehne Taten erzeugen, dann aber die Tat bestritt und britische
Geheimdienste beschuldigte.
Die oeffentliche Meinung hielt das IRA-Statement fuer glaubwuerdiger als die
Beschuldigung der IRA durch die Regierung; viele gehen davon aus, dass der
britische Inland-Geheimdienst MI5 die Finger im Spiel hatte. Auf alle Faelle
verschwanden bei dem Raub auch vertrauliche Unterlagen ueber Polizei- und
Armeespitzel.
Im Oktober 2002 untersuchten dann Polizeikraefte in einer vorher breit
angekuendigten Razzia die Bueros der Sinn-Fein-MinisterInnen in der
Regionalregierung, die vorher in Kenntnis gesetzten Medien waren hautnah
dabei. Die IRA-nahe Partei Sinn Fein habe die protestantische Unionist Party
(UUP) die mit ihr in der Regionalregierung sitzt, und die britische
Nordirland-Behoerde ausspioniert, lautete die Beschuldigung. Alle
JournalistInnen im Umkreis von fuenfzig Meilen wussten von der Durchsuchung,
und alle spielten brav die ihnen zugedachte Rolle in dem vom Fernsehen
uebertragenen Drama: Die Polizei schleppte die
Sinn-Fein-Regierungsmitglieder und kistenweise Unterlagen ab, danach
kollabierte die Regionalregierung, London uebernahm wieder die Verwaltung
Nordirlands. Der vereinbarte Prozess zur Loesung des Konflikts brach
zusammen, jeder beschuldigte den anderen, nur der schmutzige Krieg ging
weiter.
Mit dabei an allen Fronten
Wenn die Stakeknife-Geschichte stimmt, und daran gibt es keinen Zweifel,
dann hatte die britische Regierung seit Kriegsbeginn vorab Kenntnis von
allen Diskussionen innerhalb der IRA, von allen IRA-Plaenen und -Strategien.
So gesehen bekommt die IRA-Anschuldigung, derzufolge die britische Regierung
vor allem aufgrund ihrer Repressionspolitik fuer den Krieg verantwortlich
gewesen sei, eine ironische Note.
Denn alles deutet darauf hin, dass Britannien seit Beginn des Krieges die
Entscheidungen und Handlungen saemtlicher Krieg fuehrenden Parteien
beeinflusste. Dass britische Geheimdienste die loyalistisch-protestantischen
Paramilitaers anleiteten und kontrollierten, ist hinlaenglich bekannt. Kam
es also zu diesem Krieg, unter dem so viele zu leiden hatten, und dauerte er
so lange, weil die britischen Geheimdienste an allen drei Fronten
mitmischten und sich gegenseitig bekaempften? Viel Stoff fuer einen
surrealistischen Film.
Das Leiden, der Tod und die Zerstoerung, die dieser Krieg verursachte, sind
weniger surreal. Zumindest ein Stakeknife war direkt oder indirekt an der
Ermordung von rund vierzig Mitgliedern der katholisch-nationalistischen
Bevoelkerung beteiligt, denen vorgeworfen wurde, als InformantInnen die
IRA-Aktivitaet gefaehrdet zu haben. Stakeknife, der Spitzel der Briten, war
in der IRA fuer die Abwehr von anderen Spitzeln zustaendig.
Um ihren wertvollen Mann zu schuetzen, zoegerten die britischen Dienste auch
nicht, voellig Unbeteiligte ueber die Klinge springen zu lassen. Ziemlich
gesichert ist die Geschichte von einem britischen Agenten, der ein
loyalistisches Killerkommando (in das er eingeschleust worden war) auf eine
falsche Spur fuehrte. Die Todesschwadron hatte es auf ein Stakeknife
abgesehen - ermordete aber aufgrund der Information, die ihnen der Agent
zuspielte, den Rentner Francesco Notorantonio. Sein Pech war, dass er von
italienischen Immigrantinnen abstammte - wie Freddie Scappaticci, Chef der
IRA-Abwehr und ein guter Freund von Sinn-Fein-Praesident Gerry Adams. Dass
Scappaticci ein Stakeknife war, steht fuer die Medien fest, auch in der
republikanischen Bevoelkerung zweifelt kaum jemand daran.
War Scappaticci, der die Anschuldigung weit von sich wies und weiterhin in
Westbelfast lebt, Mitglied des beruechtigten IRA-Greifkommandos? Warum haben
dann ihn die Behoerden, die sonst jeden Verdaechtigen sofort festnageln, bis
heute nicht verhoert? Warum hat niemand wissen wollen, was er ueber die
vierzig Toten sagen kann, die sich die IRA «gegriffen» hat? Niemand
interessiert sich fuer Stakeknife und Scappaticci - schon gar nicht Sinn
Fein und die IRA. Die glauben seinem Dementi schon aus praktischen
Erwaegungen: Ihn anzuklagen, kaeme ja dem Eingestaendnis gleich, dass es
mindestens ein Stakeknife an ihrer Fuehrungsspitze gab.
Ausserdem ist es derzeit nicht opportun, einen britischen Agenten, wie das
frueher Brauch war, einfach umzubringen. Scappaticci und Stakeknife sind
Geschichten von gestern.
Drehbuch mit Fehlern
Dass in diesem Fall niemand Genaues wissen will, hat den ohnehin schon
komplexen Friedensprozess weiter kompliziert. Wer kann wem noch glauben? Die
UUP-Spitze um David Trimble hatte im letzten Herbst wegen angeblicher
Spitzeleien die ohnehin ungeliebte Allparteienregierung mit Sinn Fein
platzen lassen. Wenn es innerhalb der IRA Spione geben konnte, dann gibt es
sie ueberall. Ein gefundenes Fressen fuer die protestantischen
Unionistinnen.
Ein halbes Jahr danach verschob die britische Regierung die Wahl zur
nordirischen Versammlung, die im Juni haette stattfinden sollen, auf
unbestimmte Zeit. Und setzte den «demokratischen Prozess», der mit dem
Karfreitagsabkommen 1998 mit grossem Tamtam angekuendigt worden war,
kurzerhand aus. Es folgten Monate intensiver Verhandlungen. Die Republikaner
und Nationalistinnen forderten eine Neuwahl der Versammlung und eine
Zusicherung der UnionistInnen, das Regionalparlament nicht jedes Mal
aufloesen zu lassen, wenn ihnen etwas nicht passt. Diese befuerworteten
ebenfalls Wahlen, verlangten aber, dass Sinn Fein erst dann in die vom
Karfreitagsabkommen festgelegte Allparteienregierung eintreten duerfe, wenn
sich die IRA voellig entwaffnet habe. Um dem britischen Wunsch nach einer
Wahl noch in diesem Jahr nachzukommen, trafen sich UUP und Sinn Fein sogar
zu bilateralen Gespraechen. Und so kam es am 21. Oktober zu einer filmreifen
Abfolge an Ereignissen: Zuerst verkuendete Tony Blair den neuen Wahltermin
(26. November), dann sprach Gerry Adams von einer neuen
Abruestungsinitiative der IRA (Applaus von allen Seiten), worauf die IRA die
Buehne betrat und Adams' Statement wiederholte (Umarmungen, Kuesse,
Haendeschuetteln) und alle nur noch auf den ebenfalls abgesprochenen Part
von zwei Akteuren warteten - auf eine Bestaetigung des
Abruestungsbeauftragten John de Chastelain und auf ein Lob des UUP-Chefs
David Trimble. Doch de Chastelains Auftritt war merkwuerdig flau, und
Trimble fiel voellig aus dem Skript: Ein weiterer Abruestungsschritt genuege
nicht, sagte er, die IRA muesse sich ganz entwaffnen. Blair hatte den
Wahltermin verkuendet, bevor Sinn Fein und UUP ihre Zugestaendnisse gemacht
hatten, und so zogen die Unionistinnen ihr Angebot im Laufe des Tages wieder
zurueck. Die Medien berichteten spaeter ueber Geheimdienstmeldungen, laut
denen die IRA General de Chastelain so lange festgehalten haben soll, bis
der Wahltermin verkuendet war. Sie teilten jedoch nicht mit, ob die
Geheimdienstquelle innerhalb der IRA den Codenamen Stakeknife traegt. (stark
gekuerzt)
*Zur Autorin
1972 wurde Bernadette McAliskey, damals noch unter dem Nachnamen Devlin,
weltweit bekannt, als sie nach einem Massaker der britischen Armee bei einer
friedlichen Kundgebung in Derry den verantwortlichen Innenminister Maudling
in einer Unterhausdebatte ohrfeigte. Zur bewegten Geschichte der «irischen
Jeanne d'Arc» siehe auch WoZ 20/03,
http://www.woz.ch/wozhomepage/nirl/mcaliskey20j03.htm
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Kasten: Stolperpfad zur britischen Loesung
- 1998: Im Karfreitagsabkommen vereinbaren London, Dublin und die grossen
nordirischen Parteien die Bildung einer Regionalversammlung und einer von
allen Parteien gestellten Regierung. Damit soll der Konflikt geloest werden.
IRA und Sinn Fein verzichten auf ihre bisherigen Ziele (Vertreibung der
Briten, Zusammenschluss mit der Republik Irland); die Unionistinnen
akzeptieren dafuer Sinn Fein als Koalitionspartnerin.
- 1999-2002: Die Regionalregierung wird von London immer wieder suspendiert,
weil die Unionistinnen staendig neue Bedingungen stellen. Grund dafuer: Die
protestantische Bevoelkerungsmehrheit sieht sich durch das
Karfreitagsabkommen benachteiligt, obwohl es die Zugehoerigkeit Nordirlands
zum Vereinigten Koenigreich staerkt. Daran aendern auch die Massnahmen der
IRA nichts, die zweimal groessere Mengen ihres Waffenarsenals «ausser
Gebrauch» setzt. Die loyalistischen Paramilitaers lehnen bis heute ihre
Entwaffnung kategorisch ab.
- Oktober 2002: London suspendiert erneut die nordirische Versammlung.
- Sommer 2003: Im Mai verschiebt Tony Blair die fuer Juni vorgesehene
Neuwahl der Versammlung, weil ein Sieg der Partei von lan Paisley droht, die
den Friedensprozess grundsaetzlich ablehnt. Im Juni kommt es fast zur
Spaltung der UUP, protestantische Hardliner wollen keine
Regierungsbeteiligung der IRA-nahen Partei Sinn Fein, solange es die IRA
gibt.
- Herbst 2003: Im September beginnen neue Verhandlungen unter Beteiligung
des frueheren CIA-Vizechefs Richard Kerr. Am 21. Oktober verkuendet Tony
Blair (etwas zu frueh) das Wahldatum 26. November.
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Kasten: Zur Begriffserklaerung
«Republikanisch» nennt sich jener Teil der katholischen Bevoelkerung, der
bislang eine Abtrennung Nordirlands vom Vereinigten Koenigreich auch mit
Gewalt befuerwortete, waehrend die gemaessigten NationalistInnen eine
einheitliche irische Nation wuenschen. Die protestantischen UnionistInnen
pochen auf die Union mit Britannien, die militanteren LoyalistInnen (loyal
zur Krone) kaempfen dafuer auch mit der Waffe.
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