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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 24. Juni 2003; 12:24
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Polizei/Ruestung:
> Gib dem Vermummten mal 50 000 Volt
Nichttoedliche Waffen im Kampf gegen Terrorismus und Bevoelkerung
Wenn alles glatt geht, werden demnaechst Polizisten mit der M26 oder der X26
herumfuchteln, harpunieren, blenden, schockieren.
Mitte Mai fand in Ettlingen (D) eine hochkaraetig besetzte Weltkonferenz
fuer HerstellerInnen und NutzerInnen "nonletaler Waffen", organisiert vom
Fraunhofer-Institut vuer Chemische Technologie, statt. Dort wurden die
Waffen der Zukunft, naemlich Pistolen, die Stromharpunen verschiessen,
Gewehre zum Abfeuern kleiner Gastabletten und Markierfarben,
Mikrowellenstrahler gegen Personen und Computer, sowie Barrieren in
Airbagtechnik vorgestellt.
Am Symposium zeigten 160 WissenschaftlerInnen und Waffenfabrikanten aus 23
Laendern (darunter acht Schweizer) den anwesenden Militaers,
Polizeispezialkraeften und dem Fachpublikum, wie man mit Gas, Schall, Strom
und Licht gezielt Terroristen, revoltierende Gefangene oder Randalierer
ausschalten kann. Dass «nichtletale Wirkmittel» keinesfalls zu sorglosem
Gebrauch einladen und sich nicht immer im Einklang mit bestehenden Gesetzen
befinden, machen die Vortraege kritischer WissenschaftlerInnen, JuristInnen
und des Roten Kreuzes deutlich.
Anwesende VertreterInnen von nichtstaatlichen Organisationen und
FriedensforscherInnen gehen noch weiter. Sie sehen in «mass incapacitation
tools», Mitteln zur flaechendeckenden Ausserkraftsetzung groesserer
Menschengruppen, schlicht Folterwerkzeuge in einer neuen Dimension. Ein oft
zitiertes Beispiel ist die Moskauer Musical-Theater- Belagerung im letzten
Herbst. Nach Ansicht der meisten Vortragenden war dies eine gelungene
Aktion. Denn ohne den Gaseinsatz, so die gaengige Meinung, waere die Zahl
der Todesopfer vermutlich noch hoeher ausgefallen.
Nichtletale Wirkmittel, hoert man von den Fachleuten, seien die Loesung fuer
viele der aktuellen Sicherheitsprobleme. Ihre technisch-taktischen Vorzuege
sind dennoch ueberraschend schnell aufgezaehlt. Es gibt naemlich fast keine.
Die sicherere Waffe ist immer noch die toedliche. Das machte die
Zwischenfrage eines Offiziers der US Air Force deutlich: Soldaten werden
trainiert, in schwierigen Situationen verlaesslich zu funktionieren.
Dasselbe duerfen sie von ihrer Waffe erwarten. Was aber, wenn deren Effekt
nicht exakt abschaetzbar ist? Wird sie den Gegner erfolgreich lahm legen und
wie lange?
Es ist grundsaetzlich kein schlechter Traum der Repressionsspezialisten,
Entfuehrer, Bankraeuber und Randalierer nicht gleich mit toedlicher Dosis
behandeln zu muessen. Vor allem im inneren Einsatz, wo Kollateralschaeden
komplexere Folgen haben, bergen die neuen Waffen, die heute technisch noch
in den Kinderschuhen stecken, hoffnungsvolle Aspekte. Die Abwaegung zwischen
Festnahmedringlichkeit und dem Ueberleben des Verdaechtigen faellt weg. Im
Ernstfall steht die althergebrachte toedliche Dosis dem Beamten
selbstverstaendlich weiterhin zur Verfuegung. Aber verlangt das groessere
Spektrum an Moeglichkeiten nicht nach einer verbesserten Ausbildung? Welche
Waffe ziehen? Elektro-Taser, Fangnetz, Mikrowellenkanone, Gummigeschoss oder
doch besser die Gaspistole? Alles loesbare Probleme, sagen die anwesenden
PolizeipraktikerInnen und VertreterInnen der Herstellerfirmen - bevor sie
sich in Lobbyisten verwandeln und ein trauriges Lied von der Muehsal der
Ueberzeugungsarbeit bei den Entscheidungstraegern anstimmen. Es klingt nach
leeren Kassen, komplizierten Strukturen und der Angst vor oeffentlichen
Diskussionen. Neue Polizeibewaffnung «muss ja immer gleich politisiert
werden».
Die Russen sind angesichts der aengstlichen Nachfragen ihrer
westeuropaeischen Kollegen oft perplex. Die Amerikaner laecheln. Schneller
als die Europaeer haben sie die Vorteile der nichtletalen Waffen im
strategisch-politischen Bereich erkannt. Es sind klinisch saubere Waffen.
Sie fuegen sich nahtlos in die Philosophie der chirurgischen Eingriffe
moderner Kriege ein, die komplette Operation mit Anaesthesie.
Frueher galt: «Toetet sie alle. Gott wird die Seinen erkennen.» Heute, im
Zeitalter der Kriege, die Befreiung von Diktatur versprechen, tritt das
technische Vermoegen, die zielgenaue Hightech-Waffe, an die Stelle des
Glaubens. Jetzt kann dank nichtletalen Wirkstoffen Genauigkeit durch
Gruendlichkeit ersetzt werden, konkret zum Beispiel durch ein nur auf
spezifische Bevoelkerungsgruppen wirkendes Gas. Wir werden die unseren
hinterher retten koennen. Die Selektion zwischen angepeiltem Ziel und dem
uninteressanten oder schuetzenswerten Rest ist bei nichtletalen Waffen
erheblich preiswerter. John Alexander demonstriert das in seinem Vortrag mit
Hilfe einer Differenzialgleichung. Seine Mathematik fuer Militaers
errechnet, dass das Gefuehl persoenlicher Sicherheit einen direkten Einfluss
auf die Oekonomie haben wird.
In Ettlingen bleibt unuebersehbar, wenngleich unausgesprochen, dass
Strahlen, Stroeme und Chemikalien zum Zauberstab der neuen Weltordnung
verschmelzen koennten. Die «Bush-Doktrin» genannten Optionen im weltweiten
Krieg gegen den Terror, vor allem Praeventivschlaege gegen
Extremistengruppen im Ausland und Strafaktionen gegen tatsaechliche und
vermutete Unterstuetzerstaaten, scheitern sicher nicht an mangelnder
militaerischer Schlagkraft. Die eigentliche Wirkungskraft nichtletaler
Waffen ist die Verheissung politischer Durchsetzbarkeit geplanter
Operationen. Unbeteiligte koennten weitgehend geschont werden. Vor allem im
urbanen Raum, dem bevorzugten Feld von Terroristen, ist das bislang nicht
gewaehrleistet. Die Aktionen waeren schneller, leiser, sauberer, auch
umweltfreundlicher und billiger. Die ueberlebenden Terroristen und Despoten
koennten auf diese Weise den Gerichten zugefuehrt werden.
Doch die Vorzuege sind zugleich Schwaechen. Nichtletale Waffen sind keine
Hightech-Waffen. Sie sind eher einfach herzustellen und anzuwenden. Sie sind
die ideale Waffe der «Gegenseite», der RandaliererInnen, der TerroristInnen,
die Waffe der Armen und der Dritten Welt. Zwar ist der Einsatz untoedlicher
«Wirkmittel» eine echte Alternative zum Polizeikessel oder zur schwierigen
Trennung der gewaltbereiten Demonstranten von stoerrischen Friedlichen nach
der Methode: «Gib dem Vermummten da hinten mal 50 000 Volt.» Das gilt ebenso
fuer Heckenschuetzen, die sich hinter Kindern verbergen wollen oder fuer
Bombenbastler in Wohngebieten.
Doch was passiert, wenn DemonstrantInnen ihrerseits die Vorteile der
gefahrlosen Eskalation entdecken? Wie reagieren die Polizeikraefte, wenn
statt Steinen Strahlen fliegen? Was passiert, wenn Terroristen den
praktischen Handkoffer mit Mikrowellenrichtstrahler der
Diehl-Munitionssysteme aus dem deutschen Roethenbach in die Haende bekommen?
Wenn Aktivistinnen selber aus ihrem Kuechenofen eine Mikrowellenkanone
basteln? Technisch denkbar ist dies, antworten die ExpertInnen auf besorgte
Zwischenfragen. Der Tanz, so nennt der amerikanische Militaerforscher Donald
A. Lund bildhaft den wechselseitigen Schlagabtausch, geht also weiter.
Todesfaelle im Zusammenhang mit dem Einsatz von M26, einem viel beworbenen
und bereits verwendeten Elektro-Taser, sind angeblich nicht bekannt. "Wir
sind stark an Dokumenten ueber angebliche Faelle interessiert. Wir werden
sie unabhaengigen medizinischen Gutachtern zur Pruefung uebergeben." sagt
der Firmenvertreter. Nebensaetze existieren nicht. Zweifel ebenso wenig.
Die humane Waffe ist erfunden.
Drei deutsche Sondereinsatzkommandos (SEK) haben das Modell seit einem Jahr
im Testeinsatz. Britannien hat ein Paket geordert. Die Schweiz hat alle
rechtlichen Huerden laengst genommen und arbeitet mit den Geraeten seit
geraumer Zeit. In Brasilien soll kuerzlich ein kleiner Junge den Einsatz
nicht ueberlebt haben. Was passiert, wenn versehentlich Augen getroffen
werden? Eine Consumer-Variante, im Volksmund «Dog-Taser» genannt, ist in den
USA frei erhaeltlich und geeignet, Attacken von Kampfhunden abzuwehren.
Die Euphorie der Ettlinger Elite wird zurzeit noch durch juristische
Probleme gebremst. Genau genommen sind die meisten Waffen heute schlicht
verboten. Selbst der Taser-Einsatz in der EU ist ein rechtliches Problem.
Viele der Waffenkonventionen des 20. Jahrhunderts aechten nichtletale
Waffen, in den meisten Faellen zum Schutz der Soldaten vor unnoetigen
Qualen. So wurde der Kriegseinsatz von Reizgasen nach den Erfahrungen des
Ersten Weltkrieges 1925 im Genfer Protokoll verboten. Seit 1993 liegt ein
Bann auf aetzenden, klebenden, einschlaefernden und in anderer Form die
Rechte des freien Buergers einschraenkenden Mitteln. Dass Gase im
Polizeieinsatz gegen DemonstrantInnen seit Jahrzehnten erfolgreich
angewendet werden, rief die Militaers auf den Plan. Beim Ausraeuchern der
Taliban aus ihren Hoehlen, das zeigt Seliwanow von der Bauman-Universitaet
Moskau in einer humorvoll aufbereiteten Flash-Animation, die den ganzen Saal
zum Lachen bringt, waere Gas die ideale Waffe gewesen.
Schon arbeiten JuristInnen am gleichen Recht fuer alle. Anstatt das
Naheliegende zu tun und das teilweise restriktivere Kriegsrecht fuer das
Polizeirecht einzufordern, finden sich offenbar ausreichend Juristen bereit,
internationales Recht und die zahlreichen Konventionen auf neue
Mindeststandards hin durchzuforsten. Bereits wird an kreativen
Loesungsansaetzen gearbeitet. Es ist viel Arbeit, Menschen zu schonen und zu
schuetzen.
(Olaf Arndt und David Artichouk, WoZ, 5.6.2003 / bearb.)
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Anmerkung des LayOuters: Die etwas unkritische Verwendung des Begriffs "Terr
orismus" und einige andere "Selbstverstaendlichkeiten" in diesem WoZ-Artikel
sind uns auch nicht ganz geheuer. Der Text erschien uns aber trotzdem
hilfreich als Beitrag zu einer Diskussion, die viel zu wenig gefuehrt wird.
Originaltext: http://www.woz.ch/wozhomepage/23j03/waffen23j03.htm
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