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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 17. Juni 2003; 12:46
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Globalisierung/EU/Widerstand/Polizei/Recht:

Zum Verstaendnis: Nachfolgender Text von SILKE STUDZINSKY ist ein
Arbeitspapier zum ANWAeLTiNNEN-Kongress "Europa, Raum von Freiheit,
Sicherheit und Recht?" -- Die (Re-)Organisation der Inneren Sicherheit in
Europa", der am 27.6. im Berliner Abgeordnetenhaus stattfindet:

> Die Macht der Strasse

Neue Wege europaeischer Anti-Repressionsarbeit


In der Anti-Repressionsarbeit konnten auf nationaler Ebene seit vielen
Jahren in den verschiedenen Staaten wertvolle Erfahrungen gesammelt und ein
hohes Niveau erreicht werden. Inzwischen sind die Grenzen der nationalen
Arbeit deutlich und eine neue Struktur ist notwendig.

Die Ausgangslage:

Der Druck von oben steigt, denn mit dem rasanten Voranschreiten der
Globalisierung organisiert sich auch der Widerstand dagegen international -
und damit natuerlich auch die Repression grenzuebergreifend. Permanent
werden neue repressive Eingriffe entwickelt. Zu dem Arsenal gehoeren
Ausreiseverbote, Vorverlagerungen von Grenzkontrollen, die
Ausserkraftsetzung des Schengener Durchfuehrungsabkommens, also die
Wiedereinfuehrung von Grenzkontrollen. Aber auch weitgehend unkontrollierte
zentrale Datensammlungen im Schengener Informationssystem (SIS), die Planung
von SIS II, in dem sich der Datenaustausch bis zu den Geheimdiensten
erstreckt und eine eigene Datei von troublemakers aufgenommen werden soll.
SIS II (1) ist nicht nur im Hinblick auf die Datenmenge eine quantitative
Erweiterung, sondern bedeutet auch eine qualitative Veraenderung. So ist
z.B. geplant, die personenbezogenen Datensaetze um Fotos, Fingerabdruecke,
DNA und weitere biometrische Daten zu ergaenzen. In Verbindung mit Gesichts-
und Iriserkennungssystemen liesse sich damit die Identifizierung der
ueberprueften Personen perfektionieren. Dazu soll der Kreis der
Zugriffsberechtigten erheblich erweitert werden, naemlich u.a. auf
Nachrichten- und Geheimdienste, Sozial-, Auslaender- und Finanzbehoerden.
Aber bereits das jetzige SIS wird in Richtung auf ungezuegelten und
unkontrollierten Datenaustausch erweitert. In einem internen Papier der
Schengen-Arbeitsgruppe heisst es: "Ueber die Verwendung der SIS
Datenbestaende fuer anfaenglich nicht vorgesehene Absichten, insbesondere
fuer polizeiliche Informationszwecke im weitesten Sinn, herrscht ein breiter
Konsens, der mit den Schlussfolgerungen des Rates aus den Ereignissen des
11.9. uebereinstimmt." (2)

Der "breite Konsens", von dem die europaeischen Polizeibeamten hier
sprechen, ist selbstverstaendlich nicht das Ergebnis einer oeffentlichen
Diskussion und eines demokratischen Prozesses, sondern das Produkt geheimer
Verhandlungen. Auch der europaeische Haftbefehl, der die bisherige
Auslieferung durch ein vereinfachtes Verfahren ersetzt und davon ausgeht,
dass "in gegenseitigem Vertrauen Entscheidungen wechselseitig anerkannt
werden", greift massiv in die Rechte der Beschuldigten ein. Eine
"europaeische Verteidigung" ist nicht vorgesehen, insoweit funktioniert
alles auf nationaler Grundlage, waehrend sich die Justiz europaeisch
organisiert und kooperiert. Die angestrebte europaeische Staatsanwaltschaft
EUROJUST ist seit Dezember 2002 in Den Haag ansaessig. Ihre Zustaendigkeit
wird ueber den Schutz der EU-Finanzen hinaus erweitert werden, so dass etwa
Terrorismus, organisierte Kriminalitaet und "grenzueberschreitende Delikte"
hinzukommen. Der deutscher Vertreter bei EUROJUST, von Langsdorff, forderte
auf dem Strafverteidigertag in Dresden im Maerz 2003 die anwesenden
Verteidigerinnen und Verteidiger auf, sich doch ein eben solches Netz wie
EUROJUST, EUROPOL und das Europaeische Justizielle Netz aufzubauen.

Darueber hinaus existiert ein Heer von Verbindungsbeamten weltweit. Erst im
Januar 2003 (5) sind deren Befugnisse und Arbeitsweisen vom Rat der EU
geregelt worden, wobei zugleich auch der Datenaustausch mit EUROPOL
erleichtert wird. Die Verbindungsbeamten arbeiten weitgehend unbuerokratisch
und damit vor allem unkontrolliert und stellen so eine wertvolle Hilfe im
Gesamtsystem dar. Aber auch mit paramilitaerischen Sondereinheiten (6),
vorgeschlagen im Jahre 2001 nach den Gipfeln in Goeteborg und Genua von
Bundesinnenminister Schily, soll potenzieller Widerstand auf der Strasse
bekaempft werden. In Belgien ist erst kuerzlich der Einsatz des Militaers in
moeglichen sozialen Auseinandersetzungen beschlossen worden. Gleichzeitig
ist eine Verschaerfung des materiellen Strafrechts in den einzelnen
EU-Staaten zu beobachten, gerade unter dem Aspekt der Kriminalisierung
sozialer Bewegungen. So wird in Italien ein "Black Bloc" anhand von
Aeusserungen im Internet konstruiert und schwarze Kleidung zum
Verdachtsmoment. Aber auch die "Geheimbuendelei" ein z.B. in Italien
existierender Straftatbestand aus der Mussolini-Zeit, dient dazu, Personen
aus sozialen Bewegungen zu kriminalisieren, wenn ihnen ein konkreter
Tatvorwurf nicht gemacht werden kann. Dies haben zahlreiche Faelle in
Italien zuletzt erst im November 2002 nach dem Europaeischen Sozialforum
gezeigt.

Teilweise werden die Strafprozesse, die sich gegen auslaendische
AktivistInnen richten, jedoch auch an die Herkunftsstaaten abgegeben. So
werden weiterhin Verfahren gegen Deutsche in der Nachfolge des Gipfels in
Goeteborg in der Bundesrepublik verhandelt und die Beschuldigten in
Deutschland angeklagt. Die Verteidigung ist in solchen Verfahren erheblich
behindert: Ohne konkrete Kenntnisse der polizeilichen Strukturen,
Arbeitsweisen, oertlichen Verhaeltnisse und der konkreten Belastungszeugen
ist ein solches Verfahren hier kaum zu fuehren.

Wie Gegenmacht entsteht

So stellt sich die Frage, wie eine Gegenmacht im Bereich der
Anti-Repressionsarbeit aufgebaut und organisiert werden kann. Die
verschiedenen Gipfelereignisse der letzten Jahre zeigen teilweise
unterschiedliche Organisationsformen und vor allem Zielrichtungen der Legal
Teams. Einige Beispiele:

September 2000 in Prag

Anlaesslich der Tagung des Weltwaehrungsfonds und der Weltbank hatte sich
unter Anleitung der amerikanischen Organisation National Lawyers Guild ein
Legal Team gebildet. Einsatzfeld war der erste Rechtsschutz fuer die
tschechischen und auslaendischen DemonstrantInnen bei Festnahmen vor und
waehrend der Demonstration und an den Grenzen bei der Einreise. Es wurden
besonders gekennzeichnete BeobachterInnengruppen gebildet, die waehrend der
Demonstration auf der Strasse waren. Ihnen ging es darum, eine
"unparteiische" Beobachtung und Dokumentation der Ereignisse - also
Uebergriffe der Polizei sowie Traenengaseinsaetze und Einkesselungen - zu
gewaehrleisten. Gleichzeitig ging es aber auch darum, vor Ort zwischen
DemonstrantInnen und Sicherheitskraeften zu vermitteln und Eskalationen zu
vermeiden.

Dezember 2000 in Nizza

Die seit 1995 aus AktivistInnen bestehende Gruppe Collectif d'Aide aux
Manifestant(e)s Interpellé(e)s (CAMI) bietet im Internet einen juristischen
Leitfaden fuer die festgenommenen DemonstrantInnen und klaert ueber die
verschiedenen Polizeieinheiten und deren Taktiken und Techniken auf. (7) Die
Gruppe ist eingebunden in die sozialen Bewegungen und Teil von ihnen. Die
Struktur ist informell und arbeitet mit AnwaeltInnen zusammen, die nicht der
Gruppe angehoeren.

Dezember 2001 in Laeken

Nach den Ereignissen von Genua im Juli 2001 bildeten eine Gruppe von
Anwaeltinnen, Jurastudentinnen und anderen, die entsprechend juristisch
fortgebildet wurden, das Legal Team. Die Aufgaben bestanden darin, an der
Landesgrenze gegen die Behinderungen der DemonstrantInnen bei ihrer Einreise
bzw. bei Zurueckweisungen juristisch dagegen vorzugehen; dazu wurden
Eilantraege zur Intervention bei den Verwaltungsgerichten vorbereitet.
Waehrend der Demonstrationen wurde durchgehend die unentgeltliche
juristische Unterstuetzung der Festgenommenen gewaehrleistet. Gleichzeitig
waren Beobachtergruppen auf der Strasse praesent.

Maerz 2002 in Barcelona

Das Legal Team war hier von einer Gruppe von AnwaeltInnen organisiert, die
durchgehend in den Raeumlichkeiten der Anwaltskammer praesent waren und die
dort vorhandene Infrastruktur nutzten. Die Gruppe war aus katalanischen,
belgischen, hollaendischen und deutschen AnwaeltInnen zusammengesetzt. Auch
eine Praesenz an den Grenzuebergaengen war gewaehrleistet.

Juli 2002 in Strassburg

Das Legal Team bei diesem no-border- camp bestand ausschliesslich aus
AktivistInnen, die juristisch vorbereitet waren und alle Aufgaben
uebernahmen. Erst nach Inhaftierungen, wenn den AktivistInnen der Zutritt
verweigert war, wurden vorher ausgewaehlte AnwaeltInnen eingeschaltet, die
bei den richterlichen Vorfuehrungen die Verteidigung uebernahmen und die
Festgenommenen im Gewahrsam aufsuchten. Ein Leitfaden in verschiedenen
Sprachen wurde im Internet zur Verfuegung gestellt.

Fragestellungen fuer ein internationales Netzwerk von Legal Teams

* Die Schaffung eines europaeischen Legal-Team-Netzwerks ist ein
wesentlicher Schritt, um der Europaeisierung der Repression nicht mehr nur
auf nationaler Ebene entgegen zu treten. Allerdings zeigen die obigen
Beispiele bereits ein sehr unterschiedliches Selbstverstaendnis. Die
bisherigen Aufgabenbereiche lassen sich folgendermassen zusammenfassen:

* Recherche und Dokumentation der aktuellen Entwicklungen von Richtlinien,
Rahmenbeschluessen etc. auf europaeischer Ebene,

* Intensivierung des Austauschs der AnwaeltInnen und AktivistInnen in Europa
ueber die jeweiligen nationalen Gesetze und Entwicklungen eines effektiven
Rechtsschutzes gegen Repressionsmassnahmen, wie z.B. Antraege beim
Europaeischen Gerichtshof gegen die Be- und Verhinderung der Teilnahme an
Demonstrationen,

* Koordinierung der Demonstrationsbeobachtung,

* Unterstuetzung/Aufbau der Legal Teams vor Ort und Entwicklung der
Kooperation der Legal Teams untereinander,

* Erstellung einer zentralen Internetseite mit allen notwendigen
mehrsprachigen Informationen ueber die jeweilige Situation in dem jeweiligen
Staat, in dem der Gegengipfel statt findet.

Fuer die zukuenftige Arbeit und den Aufbau effektiver Legal Teams ist jedoch
eine grundsaetzliche Debatte ueber die verschiedenen Ansaetze zu fuehren,
und ich moechte an dieser Stelle einige der Fragestellungen skizzieren:

* Ist die "unabhaengige" Beobachtung von Demonstrationen eine Aufgabe der
Legal Teams, insbesondere der AnwaeltInnen, und soll eine Vermittlerrolle
zwischen OrganisatorInnen und Sicherheitskraeften uebernommen werden, oder
dient eine solche scheinbar "unparteiische" Mediatorenrolle der
Rechtfertigung von Polizeieinsaetzen, wenn sie sich z.B. gegen
"Gewalttaeter" richtet?

* Ist die Anwaltschaft aus standesrechtlichen Gruenden an einem Einsatz auf
der Strasse gehindert, und ist qua Selbstdefinition der Platz der
Anwaltschaft nicht auf der Strasse, sondern im Buero?

* Bezieht das Legal Team eine inhaltliche Position zu den verschiedenen
Veranstaltern bzw. verschiedenen Aktionsformen oder ist das Legal Team fuer
alle linken Aktionen und Demonstrationen zustaendig, unabhaengig von den
Vorwuerfen und den politischen Standorten der AktivistInnen?

* Welche Rolle sollen die AnwaeltInnen in den Legal Teams uebernehmen, und
wie ist das Verhaeltnis zu den AktivistInnen?

* Sollen die Legal Teams sich mit den permanenten neuen Entwuerfen und
Entwicklungen von Richtlinien, Ramenbeschluessen und Verschaerfungen des
Repressionsapparates beschaeftigen, oder ist es verlorene Zeit, insbesondere
wenn bereits existierende Gruppen wie z.B. Statewatch daran arbeiten?

* Arbeiten die AnwaeltInnen nicht nur im Moment des ersten Zugriffs, sondern
auch bei der Uebernahme der Verteidigung unbezahlt, oder gehoert zur
Anti-Repressionsarbeit der sozialen Bewegungen auch, dass die Kosten fuer
die anwaltliche Arbeit gemeinsam getragen werden?

* Sollen die Moeglichkeiten, die das Recht bietet, im Interesse der sozialen
Widerstandsbewegungen genutzt werden? Oder handelt es sich letztlich um das
Recht und die Repressionsinstrumente der Herrschenden, und begibt man sich
systemimmanent auf eine Ebene, die gleichzeitig immer dazu dient, die
sozialen Widerstandsbewegungen in ihren Handlungsspielraeumen zu
beschraenken? Oder bewegt man sich so in einem staendigen Kompromiss?
(Quelle: Gipfelsoli-Newsletter/gek)



1) Vgl. Europaeischer Rat 2002: "New Functions of the SIS II" (Document
5968/02 Limite, 5. Februar), Brussels.

2) Vgl. Council of the European Union; 15525/02 sowie Jelle van Buuren
"Ueberwachen und Schengen". In: Le Monde Diplomatique (Nr. 7004), 14.3.2003
(unter: http://www.no-racism.net/migration/sis_ueberwachung270303.htm ).

5) Vgl. Council of the European Union; 15525/02.

6) Vgl. http://www.statewatch.org/news/2001/oct/01paramilitary.htm

7) Vgl. http://www.vertsmp.free.fr/presse/guide_du_manifestant.htm



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