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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 27. Mai 2003; 13:45
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Soziales:

> Die Gefaehrdung des Zusammenhalts

Bericht ueber die Fachtagung "Grundeinkommen und sozialer Zusammenhalt"


ExpertInnen haben am 17. Mai in Linz eine Fachtagung ueber aktuelle
Gefaehrdungen des sozialen Zusammenhalts in Oesterreich abgehalten und die
Moeglichkeit der Einfuehrung eines Grundeinkommens weiterentwickelt. Das im
vergangenen Herbst gegruendete "Netzwerk Grundeinkommen und sozialer
Zusammenhalt" hatte gemeinsam mit ksoe (Kath. Sozialakademie Oesterreichs)
und dem Sozialreferat der Dioezese Linz dazu eingeladen.


Im Zentrum der Analysen standen die wachsende Armutsgefaehrdung in
Oesterreich, die drastischen Veraenderungen der Erwerbsarbeit, die sinkende
Lohnquote der Beschaeftigten und die ungenuegende Situation von Frauen in
der oesterreichischen Gesellschaft. Eine verfehlte Politik des Sparens (auf
Kosten armer bzw. armutsgefaehrdeter Menschen) und der sozialen Ausgrenzung
von Menschen (z.B. zunehmende Restriktionen fuer Arbeitslose), eine
verfehlte Geschlechterpolitik und einseitige Steuer- und Budgetpolitik
wuerden den sozialen Zusammenhalt zusehends gefaehrden und nicht mehr
sicherstellen, wie immer wieder behauptet wird. Grundeinkommen, zumindest
eine bedarfsorientierte Mindestsicherung, wurde von den ExpertInnen als
klare politische Reformoption genannt und diskutiert.

Christine Stelzer-Orthofer (Inst. f. Gesellschafts- und Sozialpolitik,
Universitaet Linz) konstatierte, dass es fuer den grundsaetzlich gut
ausgebauten Sozialstaat zahlreiche Gefaehrdungen gebe: wachsende
Arbeitslosigkeit, ein hohe Armutsrisiko, zunehmende Luecken im Sozialsystem,
Vertrauensverlust in das sozialstaatliche System, eine Veraenderung der
Beschaeftigungsformen. Die Sozialhilfeexpertin verwies auf das besondere
Armutsrisiko weiblicher Arbeitsloser: Das durchschnittliche Arbeitslosengeld
betrage Euro 591 und die durchschnittliche Notstandshilfe lediglich EURO
460.

"Entgegen der herkoemmlichen Ansicht ist Armutsgefaehrdung kein marginales
und kein ruecklaeufiges Problem", analysiert Stelzhofer und: "Neue
politische Massnahmen laufen entgegen anderslautender Meinungen auf ein
hoeheres Armutsrisiko hinaus". Es werde also eine "Politik der Ausgrenzung"
betrieben. Als Beispiele nannte Orthofer die Strategie der zunehmenden
Restriktionen in der Arbeitsmarktpolitik, die geplante Pensionsreform, aber
auch besonders die vorgesehene Ueberfuehrung der Notstandshilfe in
Sozialhilfe. Die Nachteile der Sozialhilfe seien klar: Weniger
Rechtssicherheit, mehr Ermessensspielraum bei den Aemtern, Regresszahlung
(d.h. Zurueckzahlung der Sozialhilfe auch Jahre im Nachhinein).


Sozialhilfe nur ein Kredit

Dietmar Koehler, Sozialexperte und Initiator der Arbeitsloseninitiative "Zum
alten Eisen?" betonte ebenfalls, dass die Notstandshilfe deutlich unter der
Armutschwelle von EURO 730 liege. 13.000 Personen wuerden in etwa von der
Notstandshilfe ausgeschlossen werden, weil der "Versicherungsgedanken nicht
mehr zum Tragen kommt" und (Ehe)-Partner fuer die Grundsicherung aufkommen
muessen. An der "Sozialhilfe" kritisierte Koehler, dass sie eigentlich
"Sozialkredit" heissen muesse, weil sie armen Menschen eigentlich lediglich
einen zinsenlosen Kredit zur Verfuegung stelle, der zurueckzuzahlen ist. Ein
weiteres enormes Problem bei der Sozialhilfe sei, dass sie aus Gruenden wie
Scham oder Unwissenheit vielfach nicht genommen wird. Koehler plaedierte aus
diesem und anderen Gruenden fuer die Einfuehrung eines Grundeinkommens.
Atypische Beschaeftigung unumkehrbar

Die Sozialexpertin der AK Wien Gabriele Schmid stellte fest, dass es einen
Bedarf an "sozialstaatlicher Regulierung" gebe, was den Arbeitsmarkt angeht:
Der Trend, dass atypische Beschaeftigung (Teilzeit, geringfuegig, bereits
28%) Frauensache sei, erscheine unumkehrbar. Ablesbar auch an der
unterschiedlichen Einkommenssituation von Frauen und Maennern: Betrug 2001
das durchschnittliche Maenner-Einkommen Euro 1866, so erhielten Frauen Euro
1251. Ganz krass seien auch die Branchenunterschiede. 90% der Frauen im
Tourismus erhielten im Durchschnitt weniger als die 20% niedrigsten
maennlichen Einkommensbezieher im Bankenbereich. Schmid wies auch darauf
hin, dass die Realloehne massiv hinter der Produktivitaet zurueckblieben
(1994-2003). Die Produktivitaetsgewinne gingen also vermehrt weg von den
ArbeitnehmerInnen, was bedeute, dass Geldmittel zur Finanzierung der von ihr
vorgeschlagenen Bedarfsorientierten Mindestsicherung vorhanden waeren.


Sozialversicherungen haben enorme Wirkung

Schmid betonte weiters die Wirksamkeit von Sozialversicherungen fuer
Armutsbekaempfung. Ohne die Umverteilung durch den Sozialstaat gaebe es
zusaetzlich ca. 970.000 Armutsgefaehrdete (dzt. bereits ca. 900.000), dazu
wuerden weitere 275.000 Menschen in Armut schlittern (dzt. bereits ca.
330.000). Die Sozialhilfe haette beim bestehenden System kaum eine
armutsbekaempfende Bedeutung. Die groesste Wirksamkeit entfalten die
Sozialversicherungen. Sie kaemen besonders armutsgefaehrdeten Haushalten
zugute.

Schmid forderte die Einfuehrung einer bedarfsorientierten Mindestsicherung,
die aktivierende Angebote fuer Arbeitslose beinhalten sollte. Die
Erwerbsarbeit stelle nach wie vor den zentralen Anknuepfungspunkt dar.
Schmid verwies dabei auch auf die erfolgte Erhoehung der Erwerbsbeteiligung
(Frauen auf 60%). Seit 1962 sei die Zahl der unselbstaendig Beschaeftigten
um 82% angewachsen.


Geschlechtergerechtigkeit als Pruefstein

Die Politologin Margit Appel (ksoe) betonte, dass der soziale Zusammenhalt
einer Gesellschaft speziell an der "Geschlechtergleichheit" bemessen werden
koenne. Appel nannte eine Reihe von Hindernissen fuer Frauen, ihre Existenz
eigenstaendig und weitgehend selbstbestimmt sichern zu koennen: die
Zustaendigkeit fuer Kinderversorgung, -erziehung, Grossteil der
Haushaltstaetigkeit, Pflegehandlungen; die Zustaendigkeit fuer "nicht
bezahlbare", aber gesellschaftlich notwendige Arbeiten in Form von Pflege-,
Kultur- und Gemeinwesentaetigkeiten; geringe Durchlaessigkeit bestehender
maennlicher Hierarchien in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft.


Grundeinkommen bringt mehr Verteilungsgerechtigkeit

Was ein Grundeinkommen leisten koenne, sei eine Verbesserung der
Verteilungsgerechtigkeit und ein Mehr an Rechtssicherheit. Grundeinkommen
sei aber kein Instrument der Leistungsgerechtigkeit und zur Vermeidung
geschlechtsspezifischer Ungleichheit.

Appel betonte, dass ein Grundeinkommen sowohl ein Mehr an materieller
Sicherheit und als auch ein Mehr an Freiheit fuer Frauen bewirken kann.
Sicherheit u.a. in Form von Existenzsicherung, Absicherung unbezahlter
Taetigkeit oder Krankenversicherung. Freiheit u.a. dadurch, dass es nicht an
bestimmte Lebensform oder an eine Rolle gebunden sei und die
Verhandlungsmacht sowohl am Arbeitsmarkt als auch im Bereich privater
Beziehungen erhoeht werde.

Grundeinkommen fuer alle Die Sozialwissenschafterin Lieselotte Wohlgenannt
(ksoe) plaedierte in ihrem Statement fuer die Einfuehrung eines
erwerbsunabhaenigen Grundeinkommens, das allgemein, existenzsichernd,
personenbezogen, arbeits-unabhaengig, leistungsfreundlich und demokratisch
sein muesse. Wohlgenannt konstatiert ein "Ende der Arbeitsgesellschaft".
Bereits heute seien 2/3 der Arbeitsplaetze im Dienstleistungssektor, der
durch flexiblen Arbeitseinsatz, hohe Einkommensunterschiede,
Entsolidarisierung, Diversifizierung und die Aufloesung traditioneller
Arbeitsverhaeltnisse gekennzeichnet ist. Die Veraenderungen der Arbeitswelt
stellen hohe Anforderungen in Bezug auf berufliche, zeitliche und oertliche
Mobilitaet. "Um menschlich zumutbar und sozial vertraeglich zu sein, muesste
diese Flexibilisierung der Arbeits- und Lebensgestaltung durch eine
existenzsichernde, erwerbsunabhaengige Grundsicherung abgesichert werden",
so Wohlgenannt.

Ein wichtiger Hinweis auf das Ende der Arbeitsgesellschaft sei das Phaenomen
steigender Produktivitaet bei sinkender Lohnquote. Mit anderen Worten: Der
Anteil der ArbeitnehmerInnen am Volkseinkommen ist ruecklaeufig und bedeute
letztlich geringeres Masseneinkommen, weniger Konsum und somit weniger
Impulse fuer die Wirtschaft. Damit bekaeme auch der Sozialstaat
Finanzierungsschwierigkeiten. Sparmassnahmen wuerden wiederum vor allem die
treffen, die ohnedies am wenigsten haben wie etwa Erwerbsarbeitslose oder
Frauen. Die Folgen von Armut wie Krankheit etc. sind klar. Letztlich wuerde
damit auch eine gesellschaftliche Spaltung bewirkt.


Eine echte Steuerreform

Sparen - speziell bei den Ausgaben des Sozialstaates - loese das Problem
nicht. Es brauche daher eine "echte Steurreform" mit folgenden
Zielsetzungen:1) Entlastung der Erwerbsarbeit, Produktivitaetsabgabe,
Besteuerung von Energie und anderen nicht-erneuerbaren Ressourcen. 2)
Einfuehrung eines Allgemeinen Absetzbetrages in spuerbarer Hoehe, der immer
dann ausbezahlt wird, wenn die errechnete Einkommenssteuer niedriger ist.

Im Zusammenhang mit der kleinen Steuerreform 2004 verlangt Wohlgenannt als
unmittelbare politische Minimalforderung auszahlbare Absetzbetraege
(Negativsteuer) fuer jene, denen die "Steuerentlastung" nichts bringt, weil
sie zuwenig verdienen (die aber trotzdem von Energiesteuer und etwaigen
Selbstbehalten betroffen sind).


Wissensgesellschaft braucht Grundeinkommen

Manfred Fuellsack (Sozialwissenschafter, Uni Wien) analysierte die heutige
Entwicklung hin zu einer Wissensgesellschaft, von der immer mehr Menschen,
nicht nur WissenschafterInnen, betroffen sind. Heute werde es immer
schwieriger zuzordnen, wer welches Wissen erzeugt. Die Leistung sei immer
schwerer feststellbar. Bei der Anwendung bzw. Erarbeitung von Wissen werde
auf Generationen von Menschen, die gelebt haben oder leben,
zurueckgegriffen. Vielfach sei auch kaum bewertbar, welche Erarbeitung von
Wissen gesellschaftlichen Nutzen habe und welche nicht. Durch die enorme
Ausdifferenzierung von Wissen seien weder Leistung noch Wert einfach bzw.
kostenguenstig feststellbar. Viele kuenstlerische Taetigkeiten, aber auch
Forschungsarbeiten von Wissenschaftern, das Engagement politisch aktiver
Menschen, die an neuen Konzepten zur Veraenderung der Gesellschaft arbeiten,
wuerden schlecht oder auch unbezahlt. Aufgrund der schwierigen Messbarkeit
dieser Arbeiten bzw. des schwierigen Prozesses, sich ueber die
Sinnhaftigkeit bzw. den Wert zu verstaendigen, plaediert Fuellsack fuer ein
voraussetzungsloses Grundeinkommen, um solche Taetigkeiten dennoch
sicherzustellen. Manches Wissen wie z.B. Programme, die im Internet von
zahlreichen Personen gemeinsam und unbezahlt weiterentwickelt werde, werde
demokratisch (unter Beteiligung vieler) und nicht mehr ueber den Markt
produziert. Dennoch seien diese Arbeiten wirtschaftlich von enormer
Bedeutung.


"Netzwerk Grundeinkommen und sozialer Zusammenhalt"

Ziel des im vorigen Herbst gegruendeten "Netzwerk Grundeinkommen und
sozialer Zusammenhalt" ist es, Grundeinkommen verstaerkt in Diskussion zu
bringen und langfristig mehrheitsfaehig zu machen. Dem Netzwerk gehoeren
Einzelpersonen aus den Bereichen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften,
Philosophie und Ethik, aus Bildungseinrichtungen und dem Bereich
Arbeitsloseninitiativen an.

Das "Netzwerk Grundeinkommen und sozialer Zusammenhalt" steht fuer ein
Grundeinkommen als Recht auf Einkommen fuer alle - auf individueller Basis,
unabhaengig von Arbeit und sonstigem Einkommen und inkludiert eine
Krankenversicherung.

Netzwerksmitglieder sind u.a. der Sozialethiker P. Alois Riedlsperger SJ
(Leiter der ksoe), die Oekonomin Luise Gubitzer (Wirtschaftsuniversitaet
Wien), der Sozialwissenschafter Manfred Fuellsack (Universitaet Wien), der
Philosoph Karl Reitter (Universitaet Wien), der Oekonom Erich Kitzmueller,
die Politologin Margit Appel (ksoe) und die feministische Theologin Michaela
Moser.

*Margit Appel, margit.appel@ksoe.at/via MUND/gek.*

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Zu Fragen des Grundeinkommens und ueber die Taetigkeiten des "Netzwerks
Grundeinkommen und sozialer Zusammenhalt" informiert die homepage
http://www.grundeinkommen.at



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