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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 27. Mai 2003; 13:47
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Soziales:

> Defizit als neoliberales Instrument

Zu einer beliebten Denkfalle an einem Beispiel: Der "Club Behinderter und
ihrer Freunde in Frankfurt und Umgebung" befragt derzeit behinderte Menschen
und deren FreundInnen, was die Regierung gegen Arbeitslosigkeit und
Haushaltsdefizit tun sollte.

*

Die autonomen Behindertenverbaende, die mit und nach der 68er Bewegung
entstanden, brachen mit ihrem Selbstbestimmt-Leben-Ansatz radikal mit der
Vorstellung, dass behinderte Menschen "dankbar, lieb, ein bisschen doof und
leicht zu verwalten" seien bzw. sein sollten. Sie forcierten die
Politisierung der Behindertenbewegung und wurden neben den Verbaenden, die
sich der Kriegsopfer- und Behindertenfuersorge widmen, und den
Selbsthilfeorganisationen, die sich nur einer spezifischen Behinderungsart
annehmen und die sich nicht fuer die volle und gleichberechtigte Teilhabe
aller Behinderten an der Gesellschaft einsetzen, zu der dritten Saeule der
heutigen Behindertenbewegung. Der "Club Behinderter und ihrer Freunde",
abgekuerzt: CeBeeF, der in der Bundesrepublik Mitte der 70er Jahre von
Betroffenen gegruendet wurde, ist eine jener Vereinigungen, die dem
emanzipatorischen Part der Bewegung zuzuordnen ist.

Vor diesem Entstehungshintergrund beschraenkt sich der CeBeeF nicht
ausschliesslich darauf, Menschen mit Behinderungen und pflegenden
Angehoerigen durch das Bereitstellen diverser Dienstleistungen zu helfen,
sondern er greift auch die grossen sozialen Gegenwartsfragen auf, an denen
es kein Vorbeikommen gibt, wenn man progressive Behindertenpolitik betreiben
moechte. Denn letztlich hat integrative Behindertenpolitik, wie es z.B. in
den Argumenten des Sozialstaat Oesterreich Volksbegehrens formuliert steht,
"soziale Sicherung und regionale soziale Strukturierung" zur Voraussetzung.

Angesichts der Tatsache, dass behinderte Menschen haeufiger und laenger von
Arbeitslosigkeit betroffen sind als Nichtbehinderte, dass sie ungleich
abhaengiger sind von den staatlichen Transferleistungen, die nun der
Sparwut, dem Sozialabbau zum Opfer fallen, startete der CeBeeF in seinem
Online-Magazin FORUM eine Umfrage. LeserInnen koennen bis Ende Juni unter
der Adresse http://www.cebeef.com/2003/konkret/f6172.html
Loesungsvorschlaege auf die Frage posten: Was sollte die Regierung tun gegen
Arbeitslosigkeit und Haushaltsdefizit? Die vorgegebenen Antwortkategorien
entsprechen den Vorschlaegen, die in der oeffentlichen Debatte am
haeufigsten genannt werden.

Die redaktionelle Einleitung der Umfrage stimmt jedoch, weil die
Staatsverschuldung als die eigentliche Ursache verwerflicher Folgen
dargestellt wird, ein wenig skeptisch. So als waere die zunehmende
Armutsgefaehrdung behinderter Personen durch ein Budgetdefizit, so
unangenehm gross es auch sein mag, an sich verursacht, und nicht erst durch
die Instrumentalisierung dieses Defizits (Stichwort: Maastricht-Kriterien)
als Vehikel zur Durchsetzung gesellschaftlicher Vorstellungen, in denen der
Sozialstaat keinen Platz hat. Nein, behinderte Menschen sind nicht besonders
von "den Folgen der Finanzkrise betroffen", sondern von den Folgen einer
Budgetpolitik, die im Dienst des neoliberalen Gesellschaftsumbaus steht.
Hinter den hegemonialen Konsolidierungsforderungen, die ja nur dann Sinn
machen, wenn man glaubhaft machen kann, dass auf Teufel komm raus gespart
werden muss, verstecken sich beinharte Verteilungsabsichten. Die
"Haushaltskrise", die ja nicht von ungefaehr herruehrt, ist eben nicht nur
Grund dafuer, dass die Sozialausgaben zurueckgenommen werden, sie dient
gerade fuer dieses Vorhaben auch als Begruendung.

Den defizitaeren Staatshaushalt von Laendern wie Oesterreich, aber auch den
von Deutschland als ein Problem in der Dringlichkeit und im Ausmass einer
Finanzkrise darzustellen, heisst demnach: partiell in den neoliberalen
Konsens einzustimmen, dass das Budget auf Biegen und Brechen saniert werden
muss. Es geht dann nur mehr um die Wege, die mehr oder weniger sozial
ausgewogen sind oder Haerten erzeugen, es geht aber nicht mehr um eine
alternative Problemdefinition. Mit dieser Aussage sollen die Budgetprobleme
keineswegs geleugnet werden. Damit soll auch nicht gesagt werden, dass etwa
die Einfuehrung einer Vermoegenssteuer oder die Besteuerung von
Spekulationsgewinnen (beide Forderungen koennen bei der Umfrage angekreuzt
werden) fuer die Finanzierbarkeit und den Ausbau des Wohlfahrtsstaats nicht
notwendig waeren, dass eh alles im Butter sei. Einzig soll auf einen
Sachverhalt aufmerksam gemacht werden, den die BEIGEWUM-AutorInnen in ihrer
Schrift "Mythos Nulldefizit. Alternativen zum Sparkurs" auf den Punkt
brachten: "Wer sich auf die Budgetsanierungs-Rhetorik einlaesst, kauft damit
auch andere Inhalte mit, die aus emanzipatorischer Sicht jedenfalls
unerwuenscht sind."

Die Frage also, was die Regierung tun sollte, sollte demnach im Hinterkopf
mit der Antwort auf die Frage verknuepft werden, was Alternative, gleichviel
in welchem inhaltlichen Zusammenhang sie taetig sind, auf keinen Fall tun
sollten: naemlich die Problemsicht jener zu uebernehmen, die die Probleme
erst schaffen.

*Roman Gutsch*



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