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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 27. Mai 2003; 13:31
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Schweiz/Frankreich/Gipfelhuepfen:
> Rettet die Autos!
G8 - das heisst mittlerweile immer Ausnahmezustand. Goeteborg und Genua sind
allen noch in gruseliger Erinnerung. Der Schweizer Gewerkschafter Eric
Decarro analysiert die Lage kurz vor dem Gipfel im franzoesischen Ort Evian
am Genfer See.
«Die G8-Entscheide kann man nicht verbessern, man muss sie bekaempfen», sagt
Eric Decarro. Der Praesident der Gewerkschaft VPOD Schweiz ist Mitglied des
Forum social lémanique, das am Genfersee die Protestaktionen gegen den
G8-Gipfel vorbereitet. Fuer Decarro ist klar: «Der G8 wird versuchen, einen
Ausweg aus der globalen Wirtschaftskrise zu finden. Das bedeutet Krieg als
Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln, verstaerkte Ausbeutung des
Suedens, haertere Austeritaetspolitik, Abbau oder Privatisierung des Service
public, Angriffe auf Lohnabhaengige, Renten und sozialen Schutz. Alles
andere sind fromme Wuensche.»
Die von Decarro genannten Themen stehen im Zentrum des alternativen «Gipfels
fuer eine andere Welt», der zwischen dem 29. und 31. Mai in Genf und im
grenznahen franzoesischen Annemasse durchgefuehrt wird. So veranstaltet etwa
die Organisation Attac in Genf einen Diskussionstag zum Thema
«Wirtschaftlicher und sozialer Krieg gegen die Voelker». Eine
Generalversammlung der sozialen Bewegungen in Genf debattiert ueber Krieg,
WTO und Verschuldung, waehrend es im franzoesischen Annemasse vor allem um
den Kampf gegen Rentenabbau und Zerstoerung der Sozialversicherungen geht.
Der grosse Fehler
Die Veranstaltungen werden gemeinsam vom Forum social lémanique (FSL) und
vom Comité haut-savoyard de résistance au G8 (Charg8) vorbereitet, die auch
fuer die grenzueberschreitende Grossdemonstration zwischen Genf und
Annemasse am 1. Juni und fuer die auf den fruehen Sonntagmorgen geplanten
gewaltfreien Blockadeaktionen in Genf verantwortlich zeichnen. In beiden
Organisationen sind Gewerkschaften, Linksparteien, Gruene und
globalisierungskritische Bewegungen vertreten. Mit dem Unterschied, dass auf
franzoesischer Seite die grossen Gewerkschaftszentralen dabei sind, waehrend
sich auf Schweizer Seite Einzelorganisationen wie VPOD, GBI oder Comedia
engagieren, der Gewerkschaftsbund (SGB) es aber bei einem
Demonstrationsaufruf bewenden laesst.
Fuer Gewerkschafter Decarro ist die «abwartende» Haltung des SGB ein
Problem. «Die Globalisierung hat eine neue Ausgangslage fuer die
Gewerkschaften geschaffen: Gewerkschaftliche Kaempfe, die nur im eigenen
Land gefuehrt werden, sind zum Scheitern verurteilt», analysiert er. Die
Antiglobalisierungsbewegung sei im Moment die einzige Bewegung, die die
entscheidende Frage stelle, «die Frage nach einer Veraenderung der
Kraefteverhaeltnisse im internationalen Massstab». Wer eine solche
Mobilisierung verpasse, mache einen grossen Fehler, auch im Hinblick darauf,
dass die neue Bewegung erstmals seit Jahrzehnten wieder die Jugend
anspreche.
Die grosse Offensive
Erbost ist Decarro aber auch ueber die Angstkampagne, die zurzeit von
offiziellen Stellen ebenso wie von Interessengruppen und buergerlichen
Parteien in Genf gefuehrt wird. So raet ein offizielles Infotelefon
beunruhigten BuergerInnen, sie sollten ihr Auto rechtzeitig in Sicherheit
bringen. Interessenverbaende von Ladenbesitzern empfehlen, die Vitrinen zu
verbarrikadieren, Immobilienverwalter schlagen vor, Zusatzversicherungen
abzuschliessen, Luxuslaeden machen gleich eine Woche lang dicht und schicken
ihr Personal in Zwangsurlaub. «Es war bis heute kaum moeglich, eine Debatte
ueber die Inhalte unseres Protestes zu fuehren», beklagt sich Decarro. «Man
hat Aengste geschuert, um die Bewegung zu kriminalisieren und die Anzahl
DemonstrantInnen moeglichst klein zu halten.» Die Offensive stelle
demokratische Grundrechte wie Demonstrations- und Ausdrucksfreiheit infrage.
Fuer Decarro begann das Ganze am 29. Maerz mit dem Uebergriff der Polizei
auf eine Gruppe von Anti-WTO-DemonstrantInnen am Genfer Bahnhof, bei dem
eine Comedia-Gewerkschafterin verletzt wurde. «Wir haben bis heute keine
Antwort auf unsere Fragen nach der Verantwortung der Polizei und erfuhren
erst am 24. April, dass eine Untersuchung eingeleitet wurde.» Anschliessend
widerrief die Genfer Polizeiministerin Micheline Spoerri, Mitglied der
Liberalen Partei, die Zusage von Bundesrat Pascal Couchepin fuer eine
grenzueberschreitende Demonstration zwischen Genf und Annemasse: «Sie
entsprach damit dem Wunsch ihrer Partei, die jede Demonstration auf Genfer
Boden verbieten wollte.» Es brauchte einen Entscheid des
Gesamtregierungsrats am 30. April, um die Demonstration doch noch zu
bewilligen: «Da haben wir einen ganzen Monat Vorbereitungszeit verloren.»
Die grosse Zerstoerung
Anschliessend kam die Debatte um ein Demonstrationsverbot im Grossen Rat und
der erfolglose Versuch der Buergerlichen, ein Berufsverbot gegen
FSL-Mitglied Olivier de Marcellus durchzusetzen. «Bis heute ist die
Demoroute noch nicht definitiv geklaert, und der Ort, wo die gewaltfreien
Strassenblockaden im Stil der Aktionen von Seattle stattfinden sollen, ist
ebenfalls noch nicht bestimmt», sorgt sich Decarro. Er setzt nun auf die
entscheidende Sitzung am Freitag, 23. Mai, an der die offenen Fragen
zwischen politischen Verantwortlichen, Polizei und den
GlobalisierungsgegnerInnen beider Laender geklaert werden sollen - wobei
wenigstens die Demoroute kein Problem mehr sein sollte. Fuer Decarro ist
klar: «Die Mobilisierung gegen den G8 kann nicht aufgehalten werden. Es ist
eine Bewegung, die ins Nervenzentrum des neoliberalen Systems zielt. Ein
System, das fuer die Mehrheit der Menschen zerstoererisch ist.»
(Helen Bruegger, WoZ, 22.5.2003/gek.)
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