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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 20. Mai 2003; 14:38
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Buecher:

> Marx ist schuld!

Christine Recht:
Warum mit Marx marschiert, aber schlecht Walzer getanzt werden kann;
Versuch einer Kritik der Tanzschule
Dissertation aus Philosophie
WUV, Reihe Dissertationen der Universitaet Wien
Dezember 2002
190 Seiten, 19 Euro, ISBN 3-85114-752-9


Manche Buecher sollte man, so sie urspruenglich zu einem anderem Zweck als
der Veroeffentlichung produziert worden sind, umschreiben, bevor man sie
dann doch publiziert. Das gilt fuer die meisten Dissertationen, so eben auch
fuer diese. Dies ist hier leider nicht geschehen, womit die Lektuere fuer
Leute, die nicht in Philosophie graduiert sind, eher zaeh sein duerfte. Man
kann als politisch interessierter Mensch daher locker die aeusserst
sophistische Zerfledderung des Begriffs "Metaphysik" ueberblaettern, worin
man -- wohl gegen die Absichten der Verfasserin -- lediglich von der
Unbrauchbarkeit dieses Begriffs ueberzeugt wird. Auch den Titel des Buches
inclusive aller hinkend-tanzenden Vergleiche, die in dieser Diss leider sehr
viel Raum greifen, sollte man gleich wieder vergessen.

Wenn man das alles ausblendet, bleibt ein gutes Drittel des Buches ueber,
das aber sehr interessant und intelligent respektlos, leider manchmal auch
etwas schlampig mit der Philosophie Marxens umgeht.

Ganz kann man bei einer Rezension dieses Buches aber denn doch nicht die
Auseinandersetzung mit der "Metaphysik" ignorieren, durchdringt sie doch
alle Bereiche des Werks. Eine von Rechts vielen Definitionen der
"Metaphysik", naemlich -- mit Bloch gesagt -- die Philosophie des
"Noch-nicht-Seienden" zu sein, liefert durchaus einen brauchbaren Ansatz. Es
ist das "Alles fliesst" des Heraklit, ein Verstaendnis der zukuenftigen
Geschichte als zwar gestaltbarer, aber nicht nur noch nicht entschiedener,
sondern auch niemals beendeter Prozess. Es geht ihr um eine Philosophie des
"Staunens". Recht: "Das Staunen als Anfang der Metaphysik und Philosophie
ueberhaupt zieht als Eigenschaft sich durch -- vorausgesetzt, die
Philosophie wird nicht anderen Zwecken wie der Religion oder der
Wissenschaft unterworfen. Staunen, Sich-Wundern heisst Fragen stellen und
In-Frage-Stellen. Mit dem Staunen wuerde sich auch die Philosophie
aufhoeren."

Dass Marxisten ihre Ideologie tatsaechlich so dem Relativismus der
Weltanschauungen entheben wollten, belegt Recht mit einem Zitat Max Adlers,
dass der Marxismus eben keine Weltanschauung sei, der immer etwas
Unbeweisbares zugrunde liegt, sondern Wissenschaft, "das einzige Gebiet, wo
... es nur eine einzige zulaessige Meinung gibt". Der Mechanismus, eine
Ueberzeugung zur Wissenschaft zu erheben, die quasi "ex cathedra" spricht,
um sie unantastbar zu machen, funktionierte in der Moderne des 19. und
beginnende 20.Jahrhunderts noch ganz gut. Recht: "Heute kann man wissen,
dass auch bei wissenschaftlichen Erkenntnissen Intuition am Werk ist, dass
auch in der Wissenschaft Unglaubliches, Widersprechendes geglaubt werden
muss, damit sie als Wissenschaft weiter existieren und arbeiten kann." Recht
wendet damit die Methoden der klassischen Wissenschaftskritik -- also die
Kritik einer dogmatischen Erkenntnisfindung durch Etikettierung als
Wissenschaft -- auf den Wissenschaftsanspruch einer Marxschen und
marxistischen Sozialismustheorie an.

*

Womit wir bei der Dialektik waeren, einem zentralen Begriff bei Marx und
Engels. Rechts Kritik setzt vor allem daran an, dass eine Dialektik in der
Begrifflichkeit von der Interpretation Heraklits bis zum dialektischen
Dreisprung Hegels etwas voellig anderes sei als bei Marx. Bei Hegel sei
Dialektik das gewesen, was man als Methode zur Erkenntnisfindung bezeichnen
kann: Die Auseinandersetzung mit These und Antithese -- sprich die
Nicht-Ausgemachtheit des "Richtigen". Bei Marx sei laut Recht die Dialektik
eine Auseinandersetzung zwischen "Richtig" und "Falsch", damit keine
Moeglichkeit tatsaechlich einen Fortschritt zu gewinnen.

Aber ist das ueberhaupt das, was Marx und Engels meinten? Nun, eine
ausfuehrliche Erlaeuterung der Begriffe der marxistischen und hegelianischen
Dialektik als Interpretation geschichtlicher Prozesse wie als Methode zur
Erkenntnisgewinnung wuerde den Rahmen dieser Rezension wohl endgueltig
sprengen. Daher muss an dieser Stelle ein Zitat Friedrich Engels genuegen,
wie er beschreibt, was er durchaus affirmativ als den "revolutionaeren
Charakter" der Hegelschen Philosophie ansieht: "Wie die Bourgeoisie durch
die grosse Industrie, die Konkurrenz und den Weltmarkt alle stabilen,
altehrwuerdigen Institutionen praktisch aufloest, so loest diese
dialektische Philosophie alle Vorstellungen von absoluter Wahrheit und ihr
entsprechenden absoluten Menschheitszustaende auf. Vor ihr besteht nichts
Endgueltiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die
Vergaenglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochene
Prozess des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum
Hoeheren, dessen blosse Widerspiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist"
(aus: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen
Philosophie).

*

Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn Recht Marx vorwirft, in seiner
Propaganda widerspruechlich zu sein: Denn zum einen vertritt Marx die These,
dass die Parole "Sozialismus oder Barbarei" heisst, dass also Kampf
notwendig sei, zum anderen die Naturgesetzlichkeit, dass der Sozialismus
quasi automatisch (also als historisch-dialektisches Produkt des
Widerspruchs) kommen muss -- eine These, die nicht nur im reinen
Propagandawerk des "Kommunistischen Manifestes" zu finden ist. Allerdings
muss man auch hier Marx konzedieren, dass der Widerspruch nur auf den ersten
Blick vorhanden ist: Marx hat m.W. den Kampf und sogar seine eigene
Beteiligung daran sehr wohl als Teil genau dieses Automatismus gesehen.

Marx hatte natuerlich auch ein Problem: Er war Philosoph und Politiker. Er
wollte wohl weder die Philosophie im Elfenbeinturm, noch die Politik allein
als praktischen Utilitarismus des Augenblicks betreiben. Doch steht es nur
dem Philosophen gut an, zweckungebunden zu denken, einer Art Wahrheit auf
der Spur. Er kann nicht nur, sondern er muss es sich leisten, niemals
wirklich bei einer letztgueltigen Antwort auf alle Fragen anzulangen. Der
Politiker hingegen muss eine bestimmte Vorstellung der Zukunftsgestaltung
haben, sonst kann er keine Forderungen stellen, was ihn in seiner Funktion
obsolet machen wuerde. Marx versuchte den Spagat. Das hat manchmal zu
ziemlich autoritaeren und illegitimen Tilgungsversuchen von Widerspruechen
in seinen eigenen Theorien gefuehrt. Die Loesung waere aber genau das
gewesen, was ihm Recht vorwirft, getan zu haben: Naemlich sich auf die Seite
des Aktiven zuungunsten des Kontemplativen zu werfen.

Natuerlich gibt es Widersprueche bei Marx. Aber so wie es Unfug ist,
Marxsche Worte fuer sakrosankt und ewiggueltig zu halten und zu ignorieren,
dass auch Marx oefters seine Meinung aenderte, so sehr ist es andererseits
auch unfair und erbsenzaehlerisch, Marx diese Meinungsaenderungen
vorzuwerfen resp. zu ruegen, dass er es keiner Silbe wertgefunden hat, diese
zu erwaehnen. Dagegen ist Christine Recht sehr wohl vorzuwerfen, dass sie
sogar innerhalb eines einzelnen Buches sehr widerspruechlich ist. Denn
manchmal macht es sich die Autorin doch etwas zu leicht: Den beruehmtesten
Satz aus Marxens Thesen "Ad Feuerbach": "Die Philosophen haben die Welt nur
verschieden interpretiert, es koemmt darauf an sie zu veraendern",
kommentiert sie mit: "Dieses Auseinanderreissen von Theorie und Praxis,
Interpretieren und Veraendern, ist die Fortsetzung der Trennung von Denken
und Sein, diesmal mit der Bevorzugung des Seins, der scheinbar so
materiellen Praxis. Dass der Beweis der Diesseitigkeit des Denkens in der
Praxis auch eine Frage der Interpretation ist, dass jedem Versuch einer
Veraenderung eine bestimmte Interpretation zugrunde liegt, faellt hier
heraus." Sie hat schon recht, wenn sie damit meint, dass man sich nicht nur
fuer die vita activa und gegen die vita contemplativa wenden, sich also
einer Orientierung am Handeln alleine unterwerfen darf. Aber ist das Marx
ueberhaupt vorzuwerfen?

Denn wenn dann Recht an anderer Stelle schreibt: "Feudale Herrschaft wurde
ideologisch durch den Glauben an Gott abgesichert, Herrschaft des Kapitals
durch den Glauben an die Allmacht der Produktion, dazu hat Marx einen
wesentlichen Teil beigetragen und er ist insofern mehr Theoretiker des
Kapitalismus, mehr Apologet der grossen Industrie als Kommunist." so ist ihr
wohl zuzustimmen. Die Frage ist nur: Was stoert Recht daran? Denn zum einen
ist nicht die Industrialisierung als das eigentliche Problem anzusehen,
sondern doch wohl eher das Eigentum einiger weniger an den
Produktionsmitteln dieser Industrie. Zum anderen beschwert sich Recht doch
eben genau darueber, dass Marx ihrer Ansicht nach viel zuwenig Interpret
sei. Also: So what?

Und leider schiesst Recht auch mit dem letzten, quasi programmatischen Satz
des Buches uebers Ziel hinaus: "Statt gaerend-fluessig-prozessierender
Dialektik mit offenem Ausgang: die Moskauer Prozesse." Das ist wohl etwas
zuviel. Denn die Moskauer Prozesse waren von Menschen inszeniert, die zum
Grossteil weniger als Marxisten oder gar Kommunisten anzusehen waren, als
die meisten Angeklagten. Politische Prozesse sind immer -- unabhaengig von
der Ideologie -- eine Frage der Totalitaet von Macht. Die enstprechende
legitimierende Grundlage sich zurechtzuschneidern, war noch keinem Regime
ein Problem gewesen. Dass viele Kommunisten auch im Westen die Moskauer
Regierung nicht kritisierten, liegt wohl eher daran, dass sie der irrigen
Meinung waren, zwischen der Skylla des Kapitalismus und der Charybdis des
Stalinismus sich entscheiden zu muessen.

*

Marx war sicher kein einfacher Charakter. Seine Umgangsweisen mit Kritikern
waren oft autoritaer und seine Theorien oft dogmatisch. Aber so ist das mit
den meisten Menschen, die eine Ueberzeugung ins Volk bringen wollen -- ganz
gefeit sind auch die Autorin und der Rezensent nicht davor. Das Problem des
Marxismus -- dem vorzuwerfen ist, alleine schon durch diese
Selbstbezeichnung Personenkult zu betreiben -- ist, dass von Linken eine
kritische Auseinandersetzung mit Marx nur selten passiert ist und generell
seine Worte als richtig vorausgesetzt wurden. Pointiert ausgedrueckt: Die
Marxisten haben Marx nur interpretiert, es kommt darauf an, seine Thesen zu
hinterfragen und sie den heutigen Verhaeltnissen anpassend zu veraendern.

Dass das nicht passiert ist, muss man der Dogmatik der Marxisten anlasten.
Marx ist daran unschuldig.

*Bernhard Redl*

Die Dissertation ist erhaeltlich u.a. in den Buchhandlungen a.punkt
(B.Salanda), facultas (NIG), Laaber, Kuppitsch, Zentralbuchhandlung sowie
gratis im Internet abrufbar unter http://www.mnemopol.net (Abteilung
Philosophie)



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