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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 13. Mai 2003; 14:35
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Pensionszerform:

> Hallo, Generation Elvis

In halb Europa laeuft derzeit der Streit um die Pensionen - auch in der
Schweiz. Und auch wenn das dortige Pensionssystem (Grundpension durch die
umlageorientierte AHV=Alters- und Hinterlassenenversicherung, die Butter auf
Brot durch kapitalgedeckte betriebliche Pensionskassen und Privatvorsorge)
etwas anders als in Oesterreich strukturiert ist, sind die Debatten und
oeffentlichen Irrtuemer sehr aehnlich den unseren, wie nachfolgendes
Interview aus der WoZ mit dem Soziologen François Hoepflinger zeigt.


FRAGE: Die Schweiz ist hoffnungslos ueberaltert und verknoechert. Dies ist
der Eindruck, der im Streit um die Altersvorsorge erweckt wird. Was sagt der
Altersforscher dazu?

François Hoepflinger: Von «verknoechert» kann allenfalls bezueglich der
Politik die Rede sein. Der Begriff Ueberalterung ist falsch, in der
Altersforschung sprechen wir von demografischer Alterung. Vor allem aber:
Ein wachsender Anteil aelterer Menschen ist ein Zeichen zivilisatorischen
Fortschritts.

FRAGE: Inwiefern?

Zwei Indikatoren weisen auf schwierige Lebensverhaeltnisse in einer
Gesellschaft hin: hohe Saeuglingssterblichkeit und ein geringer Anteil von
aelteren Menschen. Die Gruende dafuer sind Kriege, Hunger, Seuchen, Mangel
und Not. In Wohlstandsgesellschaften ist die Saeuglingssterblichkeit klein,
und der Anteil aelterer Menschen steigt im Laufe der Zeit an. Global gesehen
ist die demografische Alterung nicht ein Problem, sondern die Loesung eines
Problems, naemlich des permanenten Bevoelkerungswachstums. Die Rede von
Ueberalterung geht voellig an der Realitaet vorbei, denn die demografische
Alterung wird seit mehr als einem Jahrzehnt ueberlagert durch eine
soziokulturelle Verjuengung. Die heute Siebzigjaehrigen sind ja die erste
Elvis-Presley-Generation: Die ersten Halbstarken beziehen heute Rente. Diese
Pensionierten sind aktiver, sie bleiben laenger gesund, sie bleiben laenger
modisch, innovativ und konsumfreudig.

Die wirtschaftliche Situation der alten Menschen hat sich insgesamt deutlich
verbessert. Seit Mitte der achtziger Jahre ist in der Schweiz das
Armutsrisiko bei Kindern hoeher als bei RentnerInnen. Die Haelfte der Leute,
die jetzt ins Rentenalter kommen, sind HauseigentuemerInnen, und ein
Fuenftel von ihnen hat eine Zweitwohnung. Das ist das allgemeine Bild. Dem
steht entgegen, dass das Armutsrisiko bei Frauen immer noch hoeher ist. Im
Vergleich zum Bevoelkerungsdurchschnitt sogar doppelt so hoch ist das
Armutsrisiko bei der ersten EmigrantInnengeneration, die in den sechziger
Jahren in die Schweiz gekommen ist. Tatsache ist auch, dass die Ungleichheit
innerhalb der einzelnen Rentnerjahrgaenge stark zugenommen hat,
wirtschaftlich, aber auch gesundheitlich.

FRAGE: Stichwort Gesundheit. In der oeffentlichen Diskussion werden Alter
und Gesundheit oft in einen engen Zusammenhang gebracht: Die Menschen werden
immer aelter, kein Wunder, explodieren die Gesundheitskosten.

Die demografische Alterung macht bei der Zunahme der Gesundheitskosten
hoechstens ein Fuenftel aus. Die anderen vier Fuenftel sind die Folge der
allgemeinen medizinischen Entwicklung. Es gibt immer mehr Aerzte und
Aerztinnen, wegen der Ausstattung mit immer mehr medizinischen Apparaten
muessen sie sich immer hoeher verschulden und entsprechend mehr Umsatz
machen. Solche Aspekte werden weitgehend ausgeklammert.

FRAGE: Aeltere Menschen rennen also nicht wegen nichts und wieder nichts
staendig zur Aerztin. Wie kommen wir aber zu solchen Zerrbildern?

Das Bild des Alters hat im europaeischen Kulturkreis schon seit dem
Mittelalter eine negative Praegung. Wir haben die koerperliche Aesthetik der
Griechen in der Renaissance uebernommen: Das Ideal ist der junge Koerper,
die faltenlose Gesellschaft. Zu dieser kulturellen Praegung kommt hinzu,
dass es politisch sehr viel einfacher ist, der demografischen Alterung die
Schuld fuer politische Fehlentscheide zuzuweisen als der Politik selbst. Die
Demografie ist zudem eine Projektionsflaeche fuer kulturpessimistische
Haltungen, wie sie seit dem 18. Jahrhundert immer wieder auftreten.

FRAGE: Im Sinne von: Der einzelne Mensch wird im Alter bloed und
verknoechert, und dasselbe gilt auch fuer Gesellschaften, in denen der
Anteil der Alten zunimmt?

Genau. Diese «biologistische Metapher» ist voellig unhaltbar. Ihren Ursprung
hat sie zum Teil darin, dass die Abnahme der Lernfaehigkeit im Alter - die
Abnahme der kognitiven Faehigkeiten allgemein - aufgrund falscher Studien in
der Vergangenheit stark ueberschaetzt worden ist. Heute sehen wir, dass sich
die Pensionierten auf das Internet stuerzen. Wir beobachten, dass die
Beziehungen zwischen Grosseltern und Enkelkindern sehr viel intensiver
geworden sind, weil die Grosseltern diesen Kontakt suchen, um sich zu
verjuengen und von den nachrueckenden Generationen zu lernen. Ein anderer
Bereich, der fuer aeltere Menschen eine enorme Bedeutung bekommen hat, ist
das Reisen. Ganz wichtig ist auch, dass Sexualitaet im Alter praktisch
tabulos diskutiert und gelebt werden kann. Wer damit Muehe hat, sind die
Kinder der sexuell aktiven aelteren Menschen.

FRAGE: Hat mit der Elvis-Generation eine stille Kulturrevolution des Alterns
eingesetzt?

In der Altersforschung spricht man sogar von einem historischen Paradox: Das
Altern in der heutigen Form ist die juengste Erfahrung in der
Menschheitsgeschichte. Es gibt historisch kein Vorbild dafuer, wie die Leute
eine solch lange Altersphase gestalten koennten. Dies fuehrt auch zu
Verunsicherung, und diese wird in der politischen Auseinandersetzung um die
Renten von einzelnen Parteien gezielt ausgenuetzt. Aeltere Menschen werden
so in eine defensive Haltung gedraengt, die durch ihre reale Lebenssituation
gar nicht begruendet waere.

FRAGE: Vor der Einfuehrung der Altersvorsorge waren die Eltern im Alter auf
die Unterstuetzung der Kinder angewiesen. Heute werden junge Familien durch
ihre Eltern unterstuetzt. Gibt es Zahlen dazu?

Aus der Schweiz haben wir keine Daten. In Deutschland fliessen zehn Prozent
der Renten an die Jungen zurueck. Die familialen Beziehungen haben sich -
auch dies entgegen der oeffentlichen Wahrnehmung - eher verbessert als
verschlechtert. Ein Grund dafuer ist, dass die aeltere Generation gelernt
hat, mit der juengeren «nichtautoritaer» zu kommunizieren. Der frueher
familiale Generationenkonflikt wird heute abstrakt im politischen Bereich
verhandelt. Die Altersvorsorge hat die Familien emotional entlastet, dafuer
hat sie zu einem Dauerkonflikt in der Politik gefuehrt.

FRAGE: Ein Konflikt, der heute durch einen Widerspruch gepraegt ist:
Einerseits halten die meisten Politiker und Politikerinnen eine Erhoehung
des Rentenalters fuer unvermeidbar. Andererseits werden immer mehr
Beschaeftigte vorzeitig pensioniert oder finden mit ueber fuenfzig keine
Stelle mehr.

Die aktuelle Tendenz, Beschaeftigte vorzeitig in Pension zu schicken, ist
kein gangbarer Weg. Wenn Leute schon mit 55 pensioniert werden, gehoeren
ploetzlich die 40-Jaehrigen zu den aelteren Beschaeftigten, und die
Erfahrungs- und Wissensbasis wird zu schmal. Die Situation ist zurzeit
blockiert, weil sich die Forderungen nach Flexibilisierung gegen oben und
Flexibilisierung gegen unten starr gegenueber stehen. In der Altersforschung
stellen wir fest, dass Regelungen aufgrund des biologischen Alters immer
sinnloser werden. Dies gilt fuer den Schuleintritt ebenso wie fuer das
Rentenalter. Dieses sollte nach unten aufgrund der Belastung abgestuft
werden - beispielsweise bei Arbeit auf dem Bau oder beim Personal in
Gaststaetten. (Interview: Roger Monnerat, WoZ 19/2003, gek.)


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