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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 6. Mai 2003; 19:52
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Prinzipielles:

> Amok und Normalitaet

Ein Jahr nach Erfurt --Selbstmordattentaeter als Subjekte der Krise


Seit einigen Jahren ist in der westlichen Welt der Begriff des
"Schul-Massakers" sprichwoertlich geworden. Die Schulen, einst Orte mehr
oder weniger autoritaerer Erziehung, pubertaerer Erotik und harmloser
jugendlicher Streiche, ruecken mehr und mehr als Schauplatz blutiger
Tragoedien ins Blickfeld der Oeffentlichkeit. Gewiss, Berichte ueber
einzelne Amoklaeufer sind auch schon aus der Vergangenheit bekannt. Aber den
heutigen blutigen Exzessen kommt eine eigene und neue Qualitaet zu. Sie
lassen sich nicht durch einen grauen Nebel anthropologischer Allgemeinheit
verschleiern. Vielmehr handelt es sich eindeutig um spezifische Produkte
unserer zeitgenoessischen Gesellschaft.

Die neue Qualitaet dieser Amoklaeufe laesst sich in mehrfacher Hinsicht
feststellen. So sind es keine zeitlich weit auseinanderliegenden Ereignisse
wie in frueheren Zeiten, sondern die Massaker finden seit den 90er Jahren in
immer dichterer Folge statt. Neu sind auch zwei andere Aspekte. Ein
ueberproportional grosser Prozentsatz der Taeter sind Jugendliche, teilweise
sogar Kinder. Und sehr wenige dieser Amoklaeufer sind im klinischen Sinne
geistesgestoert; vielmehr galten die meisten vor ihrer Tat als "normal" und
gut angepasst. Wenn die Medien immer wieder scheinbar ueberrascht diese
Tatsache feststellen, geben sie indirekt und unfreiwillig zu, dass die
aktuelle gesellschaftliche "Normalitaet" die Potenz zum Amoklauf in sich
traegt. Auffaellig ist auch der globale und universelle Charakter dieser
Erscheinung. Es begann in den USA. 1997 erschoss in West Paducah (Kentucky)
ein 14-Jaehriger nach dem Morgengebet drei Mitschueler, fuenf weitere wurden
verwundet. 1998 eroeffneten ein 11- und ein 13-Jaehriger in Jonesboro
(Arkansas) das Feuer auf ihre Schule und erschossen vier Maedchen und eine
Lehrerin. Im gleichen Jahr erschoss ein 17-Jaehriger an einer High-School in
Springfield (Oregon) zwei Mitschueler und verletzte zwanzig andere. Ein Jahr
spaeter richteten zwei 17- und 18-jaehrige Jugendliche das beruehmte Blutbad
von Littleton (Colorado) an; mit Schusswaffen und Sprengsaetzen toeteten sie
in ihrer Schule zwoelf Mitschueler, einen Lehrer und anschliessend sich
selbst. In Europa wurden diese Schul-Massaker zunaechst noch im Kontext des
traditionellen Antiamerikanismus als kulturspezifische Konsequenz von
Waffenkult, Sozialdarwinismus und mangelnder sozialer Erziehung in den USA
gedeutet. Aber die USA sind eben in jeder Hinsicht das Vorbild fuer die
gesamte kapitalistische Welt der Globalisierung, wie sich bald zeigen
sollte. Nur eine Woche nach der Tat von Littleton schoss in der kanadischen
Kleinstadt Taber ein 14-Jaehriger um sich und toetete einen Mitschueler.

Weitere Schul-Massaker wurden in den 90er Jahren aus Schottland, Japan und
mehreren afrikanischen Laendern gemeldet. In Deutschland erstach im November
1999 ein 15-jaehriger Gymnasiast seine Lehrerin mit zwei Messern; im Maerz
2000 erschoss ein 16-Jaehriger seinen Schuldirektor und beging danach einen
Selbstmordversuch; im Februar 2001 toetete ein 22-Jaehriger mit einem
Revolver den Chef seiner Firma und danach den Direktor seiner frueheren
Schule, um sich zuletzt selber mit einer Rohrbombe in die Luft zu sprengen.
Der juengste Amoklauf eines 19-Jaehrigen in Erfurt, der Ende April 2002 mit
einer Pump-Gun waehrend der Abiturpruefung 16 Menschen (darunter fast das
gesamte Lehrerkollegium seiner Schule) niedermetzelte und sich danach selbst
in den Kopf schoss, war nur der bisherige Hoehepunkt einer ganzen Serie.
Natuerlich kann das Phaenomen der Schul-Massaker nicht isoliert gesehen
werden. Die barbarische "Kultur des Amoklaufs" ist laengst in vielen
Laendern zum periodischen Medienereignis geworden; die jugendlichen
Amok-Schuetzen an den Schulen bilden nur ein Segment dieser sozialen
Mikro-Explosion. Die Agenturberichte ueber Amoklaeufe aus allen Kontinenten
lassen sich kaum mehr zaehlen; wegen ihrer relativen Haeufigkeit werden sie
von den Medien nur noch uebernommen, wenn sie besonders spektakulaer
ausfallen. So kam jener biedere Schweizer, der Ende 2001 mit
Schnellfeuerwaffen ein halbes Kantonats-Parlament durchsiebte und danach
Selbstmord beging, ebenso zu trauriger Weltberuehmtheit wie jener
arbeitslose franzoesische Hochschulabsolvent, der wenige Monate spaeter mit
zwei Pistolen das Feuer auf den Stadtrat der Pariser Vorstadt Nanterre
eroeffnete und acht Kommunalpolitiker toetete.


Selbst-Mord

Ist der bewaffnete Amoklauf allgemeiner als die speziellen Schul-Massaker,
so sind beide Phaenomene wiederum in den groesseren Zusammenhang einer
binnengesellschaftlichen Gewaltkultur eingeordnet, wie sie die gesamte Welt
im Zuge der Globalisierung ueberschwemmt. Dazu gehoeren die zahlreichen
virtuellen und manifesten Buergerkriege, die Pluenderungsoekonomie in allen
Kontinenten, die bewaffnete Massenkriminalitaet von Banden in den Slums,
Ghettos und Favelas; ueberhaupt die allgemeine "Fortsetzung der Konkurrenz
mit anderen Mitteln". Es ist einerseits eine Kultur des Raubs und des Mords,
deren Gewalt sich gegen andere richtet; die Taeter nehmen allerdings bewusst
das "Risiko" in Kauf, selber getoetet zu werden. Gleichzeitig waechst aber
andererseits auch die unmittelbare Auto-Aggression an, wie die steigenden
Selbstmordraten bei Jugendlichen in vielen Laendern beweisen. Zumindest fuer
die moderne Geschichte ist es dabei ein Novum, dass der Selbstmord nicht nur
aus individueller Verzweiflung, sondern auch in organisierter Form und
massenhaft veruebt wird. In so weit auseinanderliegenden Laendern und
Kulturen wie den USA, der Schweiz, Deutschland und Uganda haben in den 90er
Jahren mehrfach sogenannte "Selbstmordsekten" durch Akte des kollektiven und
ritualisierten Freitods auf makabre Weise Aufmerksamkeit erregt.

Wie es scheint, bildet der Amoklauf in der juengsten globalen Gewaltkultur
die logische Verbindung von Aggression gegen andere und Auto-Aggression,
eine Art Synthese von inszeniertem Mord und inszeniertem Selbstmord. Die
meisten Amoklaeufer toeten nicht nur wahllos, sondern richten sich
anschliessend auch selbst hin. Und die verschiedenen Formen von postmoderner
Gewalt beginnen zu verschmelzen. Der potentielle Raubmoerder ist auch ein
potentieller Selbstmoerder; und der potentielle Selbstmoerder ist auch ein
potentieller Amoklaeufer. Im Unterschied zu den Amoklaeufen in vormodernen
Gesellschaften (das Wort "Amok" stammt aus der Malaiischen Sprache) handelt
es sich nicht um spontane Anfaelle von wahnhafter Wut, sondern stets um
lange und sorgfaeltig geplante Aktionen. Das buergerliche Subjekt ist eben
sogar dann noch von strategischer "Selbstkontrolle" und funktionaler
Disziplin bestimmt, wenn es in moerderischen Wahn verfaellt. Die Amoklaeufer
sind ausser Kontrolle geratene Roboter der kapitalistischen Konkurrenz:
Subjekte der Krise, die den Begriff des modernen, aufgeklaerten Subjekts bis
zur Kenntlichkeit enthuellen.


Wilder Westen

Selbst einem sozialtheoretisch Blinden muss die Parallele zu den Terroristen
des 11. September 2001 und zu den Selbstmordattentaetern der
palaestinensischen Intifada auffallen. Viele westliche Ideologen wollten
diese Taten mit durchsichtiger Apologetik unbedingt dem "fremden
Kulturkreis" des Islam zuordnen. Ueber die jahrelang in Deutschland und den
USA ausgebildeten Attentaeter von New York wurde in den Medien gern gesagt,
sie seien trotz aeusserer Integration psychisch und ideell "nicht im Westen
angekommen". Das Phaenomen des terroristischen Islamismus mit seinen
Selbstmord-Attentaten sei dem historischen Problem geschuldet, dass es im
Islam keine Epoche der Aufklaerung gegeben habe. Die offenkundige innere
Verwandtschaft von westlichen jungen Amoklaeufern und islamischen jungen
Selbstmordattentaetern beweist das genaue Gegenteil.

Beide Phaenomene gehoeren in den Zusammenhang der kapitalistischen
Globalisierung; sie sind das letzte, "postmoderne" Resultat der
buergerlichen Aufklaerung selber. Gerade weil sie im Westen in jeder
Hinsicht "angekommen" sind, haben sich die jungen arabischen Studenten zu
Terroristen entwickelt. In Wahrheit ist zu Beginn des 21. Jahrhundert der
"Westen" (sprich: die Unmittelbarkeit des Weltmarkts und seiner totalitaeren
Konkurrenz-Subjektivitaet) ueberall, wenn auch unter verschiedenen
Bedingungen. Die Differenz der Bedingungen hat aber mehr mit
unterschiedlicher Kapitalkraft als mit der Verschiedenheit der Kulturen zu
tun. Die kapitalistische Vergesellschaftung ist heute in allen Kontinenten
nicht sekundaer, sondern primaer; und was als "kulturelle Differenz" von den
postmodernen Ideologen hypostasiert wurde, gehoert eher einer duennen
Oberflaeche an.

Das Tagebuch eines der beiden Amokschuetzen von Littleton wird von den
US-Behoerden nicht ohne Grund unter Verschluss gehalten. Durch Indiskretion
eines Beamten wurde bekannt, dass der jugendliche Taeter unter anderen
Gewaltphantasien folgendes notiert hatte: "Warum nicht irgendwann ein
Flugzeug stehlen und auf New York City stuerzen lassen?". Wie peinlich: Was
als besonders perfide Untat von kulturell Fremden dargestellt wurde, hatte
schon vorher im Kopf eines ureigenen Gewaechses von "freedom and democracy"
Gestalt angenommen. Laengst verdraengt hat die offizielle Oeffentlichkeit
auch, dass wenige Wochen nach dem 11. September in den USA ein 15-jaehriger
Nachahmungstaeter mit einem Kleinflugzeug in ein Hochhaus gestuerzt war.
Allen Ernstes hiess es in US-Medien, der Junge habe eine Ueberdosis von
Praeparaten gegen Pickel eingenommen und sei deswegen voruebergehend
geistesgestoert gewesen. Diese "Erklaerung" ist ein wuerdiges Produkt der
Aufklaerungsphilosophie in ihrem positivistischen Endstadium.

In Wirklichkeit stellt das "Duersten nach dem Tod" ein postmodernes soziales
Weltphaenomen dar, das an keinen besonderen sozialen oder kulturellen Ort
gebunden ist. Dieser Impuls laesst sich auch nicht als Summe von bloss
zufaelligen Einzelerscheinungen verharmlosen. Denn auf einen, der es
wirklich tut, kommen Millionen, die sich in denselben ausweglosen Denk- und
Gefuehlsmustern bewegen und mit denselben morbiden Gedanken spielen. Nur
scheinbar nehmen die islamistischen Terroristen im Unterschied zu den
individuellen westlichen Amoklaeufern organisierte religioes-politische
Motive in Anspruch. Beide sind gleich weit von einem klassischen
"Idealismus" entfernt, der die Opferung des eigenen Selbst mit realen
gesellschaftlichen Zielen rechtfertigen koennte.


Das Nichts

Ueber die zahlreichen neuen Buergerkriege wie ueber den Vandalismus in den
westlichen Zentren hat der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger
festgestellt, dass es dabei "um nichts mehr geht". Um zu verstehen, muss man
den Satz umdrehen: Was ist dieses Nichts, um das es geht? Es ist die
vollkommene Leere des zum Selbstzweck erhobenen Geldes, das als
saekularisierter Gott der Moderne nunmehr endgueltig das Dasein beherrscht.
Dieser verdinglichte Gott hat an sich keinerlei sinnlichen oder sozialen
Inhalt. Alle Dinge und Beduerfnisse werden nicht in ihrer Eigenqualitaet
anerkannt, sondern diese wird ihnen vielmehr genommen, um sie zu
"oekonomisieren", also sie in blosse "Gallerten" (Marx) der Verwertung und
damit in gleich-gueltiges Material zu verwandeln. Exekutor dieser
"Vergleichgueltigung" der Welt ist die totale Konkurrenz.

Es ist eine Taeuschung, zu glauben, dass der Kern dieser universellen
Konkurrenz die Selbstbehauptung der Individuen sei. Ganz im Gegenteil ist es
der Todestrieb kapitalistischer Subjektivitaet, der als letzte Konsequenz
zum Vorschein kommt. Je mehr die Konkurrenz die Individuen dem
realmetaphysischen Vakuum des Kapitals ausliefert, desto leichter gleitet
das Bewusstsein in einen Zustand, der ueber den Begriff des blossen
"Risikos" oder "Interesses" hinausweist: Die Gleichgueltigkeit gegenueber
allen anderen schlaegt um in die Gleichgueltigkeit gegen das eigene Selbst.
Ansaetze dieser neuen Qualitaet sozialer Kaelte als "Kaelte gegen sich
selbst" zeigten sich schon in den grossen Krisenschueben der ersten Haelfte
des 20. Jahrhunderts. Die Philosophin Hannah Arendt hat in diesem Sinne von
einer Kultur der "Selbstverlorenheit" gesprochen, von einem "Selbstverlust"
der entwurzelten Individuen und einer "Schwaechung des Instinkts der
Selbsterhaltung" aufgrund des "Gefuehls, dass es auf einen selbst nicht
ankommt, dass das eigene Selbst jederzeit und ueberall durch ein anderes
ersetzt werden kann". Jene Kultur der Selbstverlorenheit und
Selbstvergessenheit, die Hannah Arendt noch ausschliesslich auf die
damaligen totalitaeren politischen Regimes bezog, findet sich heute in viel
reinerer Form im oekonomischen Totalitarismus des globalisierten Kapitals
wieder. Was in der Vergangenheit Ausnahmezustand war, wird zum Normal- und
Dauerzustand: Der "zivile" Alltag selbst geht in die totale
Selbstverlorenheit der Menschen ueber. Dieser Zustand betrifft nicht nur die
Armen und Herausgefallenen, sondern alle, weil es der uebergreifende Zustand
der Weltgesellschaft geworden ist. Das gilt besonders fuer die
Heranwachsenden, die keinen Vergleichsmassstab und kein Kriterium der
moeglichen Kritik mehr haben. Es ist ein identischer Selbstverlust und
Verlust der Urteilsfaehigkeit angesichts des ueberwaeltigenden oekonomischen
Imperativs, der Schlaegerbanden, Pluenderer und Vergewaltiger ebenso
kennzeichnet wie die Selbstausbeuter der New Economy oder die
Bildschirmarbeiter des Investmentbanking.


Ich-AG

Was Hannah Arendt ueber die Voraussetzungen des politischen Totalitarismus
sagte, ist heute offizielle Hauptaufgabe der Schule, naemlich den Kindern
"das Interesse an sich selbst aus der Hand zu schlagen", um sie in abstrakte
Leistungsmaschinen zu verwandeln; und zwar als "Unternehmer ihrer selbst",
also ohne jede Garantie. Diese Kinder lernen, dass sie sich auf dem Altar
der Verwertung opfern und auch noch "Spass" daran haben muessen. Schon
Grundschueler werden mit Psychopharmaka vollgestopft, damit sie auf Biegen
und Brechen mithalten koennen. Das Resultat ist eine gestoerte Psyche reiner
Asozialitaet, fuer die Selbstbehauptung und Selbstzerstoerung identisch
geworden sind. Es ist der Amoklaeufer, der notwendigerweise hinter dem
froehlichen "Selbstmanager" der Postmoderne zum Vorschein kommt. Und die
marktwirtschaftliche Demokratie weint Krokodilstraenen ueber ihre verlorenen
Kinder, die sie selber systematisch zu autistischen Monstern erzieht.

*Robert Kurz*
(zit. nach MUND, Quelle leider unbekannt)


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