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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 18. Maerz 2003; 19:13
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Tuerkei:
> Parlament vor der Kehrtwende
Nachfolgender Text stammt vom 13.3.2003. Mittlerweile ist der Chef der
tuerkischen Regierungspartei AKP, Tayyip Erdogan, auch Ministerpraesident
geworden. Heute, Dienstag wollte die tuerkische Regierung eine neuen Antrag
an das Parlament beschliessen, um doch noch die US-Truppen-Bewegungen ueber
tuerkischen Boden zu erlauben. Der Antrag soll im Eilverfahren,
moeglicherweise sogar schon am Mittwoch, eingebracht werden.
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Der gesamte Suedosten der Tuerkei ist mittlerweile Aufmarschgebiet der USA.
Dieser Tatsache koennen sich die ParlamentarierInnen kaum entziehen.
Der tuerkische Parlamentspraesident Buelent Arinc, Mitglied der regierenden
Partei fuer Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), gebaerdet sich in diesen
Tagen wie ein Oppositionsfuehrer. «Mir stehen die Haare zu Berge», sagte er
zu Beginn dieser Woche. Wie unzaehlige BuergerInnen verfolgt auch Arinc
derzeit mit wachsendem Staunen die Fernsehbilder eines US-Aufmarsches auf
tuerkischem Territorium - dabei hatte das tuerkische Parlament Anfang Maerz
die Regierungsvorlage zur Stationierung von US-Truppen fuer den Krieg gegen
den Irak zu Fall gebracht. Die Abgeordneten, so mahnte der
Parlamentspraesident die VolksvertreterInnen, sollten die Regierung besser
kontrollieren. Etwas mehr auf der Hut ist das tuerkische Militaer.
Jedenfalls kam es in den letzten Tagen immer wieder vor, dass sich
tuerkische Truppen den US-Soldaten erfolgreich in den Weg stellten, als
diese ihren Stuetzpunkt ohne Passierschein verlassen wollten. Und im
Suedosten des Landes konnte die tuerkische Armee nach dem
Parlamentsentscheid hochrangige US- Militaers und Agenten daran hindern, von
der Tuerkei in den kurdischen Nordirak einzureisen.
Immer klarer wird nun, welche Folgen fuer das Land ein Parlamentsentscheid
hatte, der vor dem Nein des Parlaments zum Angriff auf den Irak erfolgt war.
Am 8. Februar hatte eine grosse Mehrheit der Abgeordneten den USA erlaubt,
ihre Stuetzpunkte in der Tuerkei zu modernisieren. Zu diesem Zweck wurden
rund 4000 US-Soldaten eingeflogen. Unter dem Deckmantel der Modernisierung
praeparierten die US-Truppen jedoch das Grenzgebiet der Tuerkei zum Irak:
Sie richteten nicht nur Flughaefen fuer ihre Bomber her, sondern mieteten
auch Fabriken und Lagerhallen an, umzaeunten sie mit Stacheldraht und
deponierten dort schwere Waffen. An Objekten wie ungenutzten Fabrikgebaeuden
mangelt es im kurdischen Suedosten der Tuerkei mit seiner immensen
Arbeitslosigkeit wahrlich nicht. Mittlerweile ist das gesamte Gebiet
faktisch ein Militaerareal der USA; die Mittelmeerhaefen von Iskenderun und
Mersin bedienen dieser Tage ausschliesslich die US-Army. Die USA und die
tuerkische Regierung hatten mit Segen des Parlaments also fruehzeitig
vollendete Tatsachen geschaffen. Die Logistik fuer einen Angriffskrieg der
USA von tuerkischem Boden aus steht, Kriegsgeraet und Munition sind
ebenfalls vorhanden. Was fehlt, sind Bedienungspersonal und Bodentruppen,
rund 60 000 Mann.
Inzwischen melden sich Voelkerrechtler zu Wort, die selbst fuer den Fall,
dass die Tuerkei die US-Armee aus dem Land weisen wuerde, eine
«Ueberfuehrung» der Waffen auf dem Landwege in den Irak fuer
verfassungsgemaess halten. Es ist ohnehin kaum vorstellbar, dass die USA
nach diesem gewaltigen militaerischen Aufmarsch ihre Panzer, Raketenwerfer
und Lastwagen wieder abziehen und in die USA zurueckbeordern - egal, wie das
Parlament eine neue Regierungsvorlage beurteilt. Mit diesen Waffen wird im
Irak Krieg gefuehrt werden. Kriegsherr George Bush gibt sich ausserdem
zuversichtlich, dass er die Stationierung der Bodentruppen fuer eine
Nordoffensive mit Geld und Krediten erkaufen kann. Sollten die 60 000 Mann
tatsaechlich aufmarschieren, waeren auf tuerkischem Boden mehr auslaendische
Truppen anwesend als zu jedem anderen Zeitpunkt seit dem Krimkrieg von 1853-
1856.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Washington doch noch durchsetzt, ist
gross. Bush war einer der ersten auslaendischen Politiker, die am Wochenende
dem AKP-Vorsitzenden Tayyip Erdogan gratulierten; Erdogan hatte mit grossem
Mehr eine Nachwahl zum Abgeordneten gewonnen und wird in den naechsten Tagen
das Amt des Ministerpraesidenten uebernehmen. Bush bat um vordringliche
Behandlung der Stationierungsfrage, und Erdogan macht keinen Hehl daraus,
dass er sich mit den USA arrangieren will. Der tuerkische Generalstabschef
Hilmi Oezkoek erklaerte ebenfalls oeffentlich, dass er hinter der
Regierungsvorlage steht, die vom Parlament zu Fall gebracht wurde. «Wir
haben keine Wahl zwischen Gut und Schlecht, wir haben eine Wahl zwischen
Schlecht und noch Schlechter», sagte Oezkoek.
So deutet vieles darauf hin, dass die Regierung eine zweite Abstimmung
gewinnen kann. Schon bei der Abstimmung am 1. Maerz hatte eine knappe
Mehrheit der anwesenden Abgeordneten fuer die Regierung votiert, das noetige
Quorum aber verfehlt. Mittlerweile hat der Druck von oben erheblich
zugenommen, ausserdem glauben viele AKP-ParlamentarierInnen, dass es sich
die Fraktion kaum leisten kann, ihrer Regierung innerhalb so kurzer Zeit
eine zweite Niederlage zuzufuegen, ohne dass die Partei auseinander faellt.
Und drittens waechst in der AKP-Fraktion die Vermutung, dass eine US-
Attacke auch ohne ihre Zustimmung die Tuerkei destabilisieren wird.
Vor allem der Kurdenfuehrer Massud Barsani scheint ungeachtet der schlechten
Erfahrungen, die die KurdInnen bisher mit Washington gemacht haben, in einer
Nachkriegsordnung gute Chancen fuer ein starkes Kurdistan zu sehen. Er will
mit den USA kollaborieren und gleichzeitig die tuerkische Armee bekaempfen,
falls diese im kurdischen Nordirak einmarschiert. Ein gefaehrlicher Traum.
Der Einmarsch der tuerkischen Armee im Kriegsfall ist beschlossene Sache.
Die Tuerkei will dabei sein, wenn der Verteilungskampf um das Erdoel
beginnt. In der Oelregion von Mossul und Kirkuk leben viele
Bevoelkerungsgruppen: arabische, kurdische, turkmenische. Die Macht, die die
Region militaerisch kontrolliert, hat auch den Zugriff auf das Oel. Diese
Macht werden weder die Tuerkei noch die KurdInnen sein, sondern die USA.
Aber ein Stueck vom Kuchen wird uebrig bleiben - und um dieses Stueck wird
derzeit hinter den Kulissen verhandelt.
(Oemer Erzeren, Istanbul, WoZ, 13.3.2003)
http://www.woz.ch/wozhomepage/usa03/tuerkei11j03.htm
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