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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 25. Februar 2003; 17:21
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Krieg / Das andere Amerika:
> "Die Doktrin des vorbeugenden Militaerschlages"
Nachfolgende Rede von Robert Byrd, demokratischer
Senator von West Virginia, gehalten am 12.Februar vor dem US-Senat,
dokumentieren wir hier als ein Beispiel dafuer, dass auch im dortigen
Parlament die patriotische Einheitsfront wegzubrechen beginnt.
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Ueber den Krieg zu reflektieren bedeutet, ueber die schrecklichsten
menschlichen Erfahrungen nachzudenken. An diesem Februartag, wo die Nation
am Rand des Kampfes steht, muss jeder Amerikaner, der nicht oberflaechlich
ist, die Schrecken des Krieges bedenken.
Noch ist es in dieser Kammer,was den groessten Teil betrifft, ruhig -
unheimlich, schrecklich ruhig. Es gibt keine Debatte, keine Diskussion,
keinen Versuch, der Nation die Fuer und Wider dieses besonderen Krieges
darzustellen. Es gibt nichts davon.
Wir stehen passiv und stumm im Senat der Vereinigten Staaten, paralysiert
durch unsere eigene Unsicherheit, anscheinend gelaehmt durch die voellige
Verwirrung der Ereignisse. Nur auf den Editorialseiten unserer Zeitungen
gibt es eine substantielle Diskussion ueber die Klugheit oder Dummheit,
diesen Krieg zu fuehren.
Und dies ist kein kleiner Flaechenbrand, ueber den wir uns den Kopf
zerbrechen. Es ist kein einfacher Versuch, einen Verbrecher unschaedlich zu
machen. Nein. Dieser bevorstehende Kampf, wenn er gefuehrt wird, stellt
einen Wendepunkt in der amerikanischen Aussenpolitik dar und moeglicherweise
einen Wendepunkt in der juengsten Geschichte der ganzen Welt.
Diese Nation ist dabei, einen ersten Test einer umwaelzenden Doktrin zu
beginnen, die auf eine aussergewoehnliche Weise und zu einem ungluecklichen
Zeitpunkt angewendet wird - die Doktrin des vorbeugenden Militaerschlages,
der Gedanke, dass die USA oder eine andere Nation legitimiert ist, eine
Nation anzugreifen, die nicht unmittelbar bedrohlich ist, aber in der
Zukunft bedrohlich werden koennte, bedeutet eine radikal neue Wendung in der
traditionellen Vorstellung von Selbstverteidigung. Es sieht so aus, als ob
er in Gegensatz steht zum internationalen Recht und zur UN-Charta. Und er
wird ausprobiert zu einer Zeit des weltweiten Terrorismus, was viele Laender
rund um den Globus veranlasst, sich zu fragen, ob sie bald auf unserer
Hitliste stehen werden - oder auf der anderer Nationen. Hochrangige
Regierungspolitiker weigerten sich kuerzlich, die Option fuer nukleare
Waffen aus einer Debatte um einen moeglichen Angriff auf den Irak
auszuschliessen.
Was koennte mehr destabilisierend und unklug wirken als diese Art von
Ungewissheit, vor allem in einer Welt, wo die Globalisierung die vitalen
oekonomischen und Sicherheitsinteressen vieler Laender so eng miteinander
verbunden hat? Es sind gewaltige Risse in unseren altvertrauten Buendnissen
aufgetaucht, und die Absichten Amerikas sind ploetzlich Gegenstand
weltweiter schaedlicher Vermutungen. Anti-Amerikanismus, gegruendet auf
Misstrauen, Falschinformation, Verdacht und die alarmierende Rhetorik von
US - Politikern zerbricht die einstige solide Allianz gegen den globalen
Terrorismus, die nach dem 11. September existierte.
Hier im Land werden die Menschen vor bevorstehenden terroristischen
Angriffen gewarnt, ohne ihnen gleichzeitig eine Orientierung zu geben, wann
und wo solche Angriffe sich ereignen koennten. Familienmitglieder werden zum
Militaerdienst eingezogen ohne irgendeine Vorstellung zu haben, wie lange
ihre Abwesenheit dauern wird und welchen Schrecken sie sich werden aussetzen
muessen. Gemeinden muessen auf einen ausreichenden Schutz der Polizei und
der Feuerwehr verzichten. Auch andere lebenswichtige Versorgungsmassnahmen
werden wegen Personalmangel reduziert. Die Verfassung des Landes ist
verzweifelt. Die Wirtschaft stolpert. Die Oelpreise steigen und werden in
Kuerze noch hoehere Spitzen erreichen.
Diese Regierung, nun ein wenig mehr als zwei Jahre im Amt, muss nach ihrer
Amtsfuehrung beurteilt werden. Ich glaube, dass dieses Urteil sehr schlecht
ausfaellt.
In diesen duerftigen zwei Jahren hat die Regierung beschlossen, einen sehr
grossen erwarteten Budgetueberschuss von etwa 5,6 Billionen $ ueber die
naechste Dekade hin zu verschwenden, und uns dahin gebracht, dass Defizite
vorausgesagt werden, so weit das Auge reicht. Die Innenpolitik dieser
Regierung hat viele unserer Einzelstaaten in schreckliche finanzielle
Verhaeltnisse gebracht, indem sie eine Unterfinanzierung zahlreicher
lebenswichtiger Programme fuer unsere Buerger bewirkte. Die Regierung hat
Massnahmen gefoerdert, die das wirtschaftliche Wachstum verlangsamt haben.
Die Regierung hat dringende Angelegenheiten wie die Krise im
Gesundheitswesen fuer unsere aelteren Mitbuerger ignoriert. Die Regierung
war langsam in der Bereitstellung von angemessener Finanzierung fuer die
oeffentliche Sicherheit in den USA. Die Regierung ist zoegerlich darin
gewesen, unsere langen und teilweise durchlaessigen Staatsgrenzen besser zu
sichern.
In der Aussenpolitik hat es diese Regierung nicht geschafft, Osama bin Laden
zu finden. Tatsaechlich haben wir gerade gestern von ihm eine Rede gehoert,
in der er seine Streitkraefte organisiert und sie zum Toeten auffordert.
Diese Regierung hat traditionelle Buendnisse gespalten und auf diese Weise
vielleicht fuer alle Zukunft Organisationen handlungsunfaehig gemacht, die
die internationale Ordnung aufrechterhalten wie die UNO und NATO. Diese
Regierung hat die traditionelle weltweite Wahrnehmung der USA als
friedenserhaltende und auf Gutes gerichtete Macht infrage gestellt. Diese
Regierung hat die geduldige Kunst der Diplomatie ersetzt durch Drohungen,
Etikettieren und Beleidigungen einer Sorte, die wenig auf die Intelligenz
und Sensibilitaet unserer Fuehrer schliessen laesst, und die in den
kommenden Jahren Folgen haben wird.
Die fuehrenden Politiker von Staaten als Pygmaeen zu beschimpfen, ganze
Laender als boese zu etikettieren, maechtige europaeische Verbuendete als
irrelevant herunterzustufen - diese Arten der Unsensibilitaet koennen
unserer grossen Nation nicht nuetzen. Wir werden vielleicht massive
militaerische Macht besitzen, aber wir koennen allein keinen globalen Krieg
gegen den Terrorismus ausfechten. Wir brauchen die Kooperation und
Freundschaft unserer langjaehrigen Bundesgenossen ebenso wie die neu
gefundenen Freunde, die wir durch unseren Wohlstand anziehen koennen. Unsere
ehrfurchtgebietende Militaermaschine wird uns wenig Gutes tun, wenn wir eine
weitere verwuestende Attacke auf unsere Heimat erleiden, die unserer
Wirtschaft ernsthaften Schaden zufuegen wird. Die personelle Situation
unseres Militaers ist bereits sehr angespannt und wir werden die vermehrende
Hilfe von Nationen brauchen, die uns mit Truppenstaerke versorgen koennen,
nicht nur mit Unterstuetzungsbriefen.
Der Krieg in Afghanistan hat uns bereits jetzt 37 Milliarden Dollar
gekostet, und doch gibt es Anzeichen, dass der Terrorismus bereits wieder
versucht, seine Stellung in dieser Region wiederzugewinnen.
Wir haben bin Laden nicht gefunden und wenn wir nicht den Frieden in
Afghanistan sichern, werden die dunklen Schlupfloecher des Terrorismus in
diesem unzugaenglichen und verwuesteten Land wieder ueberhandnehmen.
Pakistan ist ebenfalls gefaehrdet durch destabilisierende Kraefte. Unsere
Regierung hat noch den ersten Krieg gegen den Terrorismus nicht beendet und
ist bereits dabei, sich auf einen weiteren Konflikt mit viel groesseren
Gefahren als in Afghanistan einzulassen. Ist unsere Aufmerksamkeitsspanne so
kurz ? Haben wir nicht gelernt, dass wir nach dem Gewinnen des Krieges
zuerst den Frieden sichern muessen?
Und noch hoeren wir wenig ueber die zu erwartenden Folgen eines Krieges im
Irak. Waehrend Plaene fehlen, nimmt die Spekulation allgegenwaertig
ueberhand. Werden wir die irakischen Oelfelder okkupieren und eine
Besatzungsmacht werden, die den Preis und die Foerderung des Oels in dieser
Nation bis in die vorhersehbare Zukunft bestimmen wird? Wen werden wir
vorschlagen, dem wir nach Sadam Hussein die Zuegel der Macht im Irak
uebergeben?
Wird unser Krieg die muslimische Welt in Flammen setzen, die verheerenden
Attacken auf Israel ausloesen? Wird Israel mit Vergeltungsschlaegen aus
seinem nuklearen Arsenal antworten? Werden die jordanischen und
saudiarabischen Regierungen von Radikalen gestuerzt, mit Hilfe von Iran, der
viel engere Verbindungen zum Terrorismus hat als der Irak?
Koennte eine Unterbrechung in der Oelversorgung der Welt zu einer weltweiten
Rezession fuehren? Hat unsere sinnlose kriegerische Sprache und unsere
unsensible Nichtbeachtung der Interessen und Meinungen anderer Laender das
globale Wettrennen um die Mitgliedschaft im Klub der Nuklearmaechte
verschaerft und dazu gefuehrt, dass die Vermehrung dieser Waffen ein immer
eintraeglicheres Geschaeft fuer Nationen ist, die dieses Einkommen
benoetigen?
Allein in der kurzen Zeit von zwei Jahren hat diese ruecksichtslose und
arrogante Regierung politische Massnahmen in Gang gesetzt, die zu
verheerenden Folgen fuer viele Jahre fuehren werden.
Wir wissen, dass jeder Praesident nach dem schrecklichen Angriff des 11.
September mit Zorn und unter Schock reagiert haette. Wir koennen die
Frustration nachvollziehen, die es bedeutet, nur einen Schatten zu jagen und
einen gestaltlosen, fluechtigen Feind der keine Moeglichkeit zur Vergeltung
bietet.
Jedoch den Zorn und die Frustration in jene Art eines extrem
destabilisierenden und gefaehrlichen Debakels der Aussenpolitik zu
verwandeln, dessen Zeuge die Weltoeffentlichkeit heute ist, das ist
unentschuldbar fuer jede Regierung, die mit der furchterregenden Macht und
Verantwortung beladen ist, das Schicksal der groessten Supermacht des
Planeten zu leiten. Offen gesagt: viele der Ankuendigungen, die von dieser
Regierung gemacht werden, sind abscheulich. Es gibt kein anderes Wort
dafuer.
Trotzdem ist es in dieser Kammer, dem Senat, quaelend ruhig. Zu einer Zeit,
die moeglicherweise der Vorabend einer schrecklichen Heimsuchung der
Bevoelkerung des Irak durch Tod und Zerstoerung ist, einer Bevoelkerung,
koennte ich hinzufuegen, von der mehr als 50% unter 15 Jahren ist, ist diese
Kammer ruhig. Zu einer Zeit, wo wir vielleicht in wenigen Tagen tausende
unserer eigenen Buerger aussenden um sie mit den unvorstellbare Schrecken
von chemischer und biologischer Kriegfuehrung zu konfrontieren - diese
Kammer ist ruhig. Am Vorabend vielleicht eines moeglichen verbrecherischen
terroristischen Anschlags zur Vergeltung fuer unseren Angriff auf den Irak,
herrscht business as usual im Senat der Vereinigten Staaten.
Wir gehen wahrhaftig "schlafwandelnd durch die Geschichte". In meinem
innersten Herzen bete ich, dass diese grosse Nation und ihre guten und
vertrauensvollen Buerger nicht vor einem der boesesten Erwachen stehen.
Das Engagement in einem Krieg ist immer ein Spiel mit unvorhersehbaren
Faktoren. Und Krieg darf immer nur das letzte Mittel sein, nicht die erste
Wahl. Ich muss wahrhaftig die Urteilskraft jedes Praesidenten infrage
stellen, der sagen kann, dass eine massive, unprovozierte militaerische
Attacke auf eine Nation, die zu mehr als 50% aus Kindern besteht, sich
"innerhalb der hoechsten moralischen Traditionen unseres Landes" befindet.
Dieser Krieg zu diesem Zeitpunkt ist nicht notwendig. Das Ausueben von Druck
scheint auf den Irak eine gute Wirkung zu haben. Unser Fehler war es, dass
wir uns selbst so schnell in eine Ecke gestellt haben. Unsere
Herausforderung ist es nun, aus dieser selbstgemachten Sackgasse einen
wuerdevollen Ausweg zu finden. Vielleicht findet sich ein Weg, wenn wir uns
mehr Zeit geben. (Ue: akin)
Englischer Originaltext: http://www.commondreams.org/views03/0212-07.htm
Weitere englischsprachige Links zum Thema:
http://www.nowaragainstiraq.org/info.htm
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Roberd Byrd, Senator (West Virginia, D), Jahrgang 1917, seit 1958 im Senat,
war 12 Jahre lang dort Fraktionsfuehrer. Der Bergarbeitersohn kaempfte sich
bis zum Zweiten Weltkrieg als Gelegenheitsarbeiter durchs Leben und die
"Great Depression". Nach Antritt seines Mandats im Senat holte er das
Jus-Studium in der Abendschule nach; 1994 schloss er ausserdem ein
Bachalaureats-Studiums der Politikwissenschaften ab.
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