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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 21. Jaenner 2003; 14:07
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Venezuela:
> Der Streik der Manager
Die venezolanische Opposition ist vorsichtiger geworden. Nach dem
gescheiterten Putsch Mitte April vergangenen Jahres sprachen die ausnahmslos
der Opposition zugewandten Printmedien in ihren Schlagzeilen von
"Massendemonstrationen", vom "Volk gegen Chavez" und "ueberwaeltigendem
Widerstand". Die Erinnerungen an den April, als es gerade Massenproteste
waren, die den Praesidenten nach einem Putschversuch rechter Militaers
wieder ins Amt zurueckholten, schienen so praesent, dass seit Anfang
Dezember eine Doppelstrategie verfolgt wurde. Neben den Protesten auf der
Strasse stand die Erdoelindustrie im Visier der Opposition. Ein "Abdrehen
der Haehne", wie Carlos Ortega, Praesident des mittelstaendischen
Gewerkschaftsverbandes CTV, damals ankuendigte, sollte die Regierung ueber
kurz oder lang auf dem Trockenen sitzen lassen. Erdoel ist das
wirtschaftliche Rueckgrat des suedamerikanischen Landes. Die staatliche
Erdoelgesellschaft PDVSA laesst zwischen 70 und 80 Prozent der
Deviseneinnahmen in die Staatskasse fliessen. Seit der Verstaatlichung
dieses primaeren Wirtschaftszweiges 1974 ist jeder Praesident damit nicht
nur vom Oel, sondern auch von denen abhaengig, die es kontrollieren. Hier
liegen die Wurzeln des nur vordergruendig politischen Konfliktes, der
Venezuela in diesen Tagen und Wochen einem Buergerkriegsland gleichen
laesst. Mit Chavez' vorsichtigen Reformen - er nennt sie "Revolution" -
wurde 1998 ein Prozess in Gang gebracht, der die Macht einer parasitaeren
Oel-Oligarchie schonungslos offenlegte.
Wer in Venezuela auf welcher Seite steht, macht ein Blick auf die Einkommen
deutlich. Neben dem US-Oelmulti Exxon Mobil verzeichnet der venezolanische
Oelkonzern PDVSA die weltweit hoechsten Gehaelter. Das trifft nicht auf alle
Beschaeftigten zu, aber auf die ueberraschend grosse Gruppe von Mitgliedern
der hoeheren Fuehrungsebene. Von den 870 Managern sind rund 650 in Caracas
beschaeftigt, dem Zentrum des Aufruhrs gegen Chavez. Waehrend die totalen
Personalkosten der Gesellschaft mit 1,4 Milliarden Dollar angegeben werden,
entfallen auf die Fuehrungsebene 208 Millionen US-Dollar. 80 Prozent der
Bevoelkerung gelten dagegen als arm.
Die von dem Oel-Reichtum zehrende Oberschicht in Venezuela unterhaelt auch
international beste Kontakte. Nicht allein die PDVSA, auch eine Reihe
transnationaler Partner haben ein offensichtliches Interesse an dem, wenn
noetig gewaltsamen, Abbruch des von Chavez forcierten sozialen Projektes,
weil durch die geplante Umverteilung nach unten ein Kampf um die Ressourcen
droht.
Um die Rolle der Oelgesellschaft PDVSA als Machtfaktor, wenn nicht das
Machtzentrum, in Venezuela zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die
Geschichte des Landes. Noch in den zwanziger Jahren waren die Unterschiede
zwischen Venezuela und seinem Nachbarn Kolumbien aeusserst gering. Von
Landbesitzercliquen beherrscht, existierte kaum eine zentrale Verwaltung,
das Land war fest in der Hand der Agrararistokratie. Die Erdoelressourcen
des Landes wurden unter der Diktatur des Militaermachthabers Juan Vicete
Gómez erschlossen, der sich bis zu seinem Tod 1935 knapp 27 Jahre lang an
der Macht hielt. Der aus einer Familie von Grossgrundbesitzern stammende
Gómez verteilte ganze Landstriche grosszuegig an seine Gefolgsleute, die
alsbald mit Oelmultis paktierten, die massiv auf den jungen venezolanischen
Markt draengten. Als Gómez 1935 starb, war der Markt aufgeteilt. Rund zwei
Drittel entfielen auf nordamerikanische und britische Oelmultis unter der
Fuehrung des US-Konzerns Standart Oil (heute Exxon), den Rest okkupierte die
niederlaendisch-britische Shell-Gruppe. Seither lebt die alte Oligarchie
ausschliesslich von dem Geschaeft mit dem schwarzen Gold. An diesem Umstand
hat auch die Verstaatlichung des Erdoelsektors 1974 nichts veraendert.
Durch die starke Kongruenz wirtschaftlicher und politischer Macht bestand
bei den Machthabern Venezuelas nie ein ernsthaftes Interesse, sich dem armen
Rest der Bevoelkerung zuzuwenden. Gleiches trifft auf den Staat zu. Seit
1982 der Oelpreis verfiel, stieg die Staatsverschuldung. 1983 verschlang
allein der Schuldendienst mit 15 Milliarden US-Dollar erstmals die gesamten
Einnahmen aus dem Oelgeschaeft, heute liegt er bei ueber 20 Milliarden
US-Dollar. Venezuelas Wirtschaft fand sich in der Sackgasse, und mit der
wirtschaftlichen verschaerfte sich die soziale und politische Krise. Als es
1989 zu sozialen Unruhen kam und die Armee wahllos in die vom Hunger auf die
Strasse getriebene Menge schoss, starb mit zahllosen Demonstranten auch das
traditionelle politische Gefuege. Dieses Feld hat Hugo Chavez 1998
erfolgreich uebernommen. Die wirtschaftliche Macht der alten Herrscher indes
ist ungebrochen.
Der Schaden durch die Blockade der Oelindustrie ist schon jetzt enorm.
Geschaetzt werden die Verluste im Oelgeschaeft auf bislang 1,5 Milliarden
Dollar. Erst langsam laeuft die Produktion wieder an. Ausschlaggebend dafuer
war auch das Wort des neuen brasilianischen Praesidenten Ignacio "Lula" da
Silva, der Chavez Unterstuetzung zusagte. In Caracas erkannte die Opposition
das Gewicht dieser Worte und wechselte ihr Betaetigungsfeld.
Mit dem am 10. Januar ausgerufenen "Bankenstreik" rueckte das Finanzwesen
ins Zentrum der Aktion. Auch wenn der Erfolg Augenzeugenberichten nach
maessig war, wiegt das Moment der Massenpsychologie staerker. Die
Unsicherheit in der Bevoelkerung soll ebenso geschuert werden wie die Angst
vor einem Zusammenbruch des Finanzsystems, der wohl aehnlich verheerende
Folgen wie in Argentinien und Uruguay haette. Und obleich die Mehrzahl der
Banken die Tuere auch am "Streiktag" oeffnete, fiel der Wert des Bolívar.
Chavez rief zur Gegenoffensive. Nach knapp 50 Tagen "Streik" wurden in der
vergangenen Woche eintausend Funktionaere der PDVSA entlassen. Fuer die
Opposition gibt es jetzt kaum mehr einen Rueckweg. Nach der "Saeuberung" der
PDVSA steht das Buendnis aus Funktionaeren und Unternehmern mit dem Ruecken
an der Wand. Ab jetzt helfen ihnen keine Gespraeche um Kompromisse mehr, die
Machtfrage steht endgueltig auf der Tagesordnung. Die Reaktion der
Chavez-Gegner ist entsprechend. Nach Oelindustrie und Banken setzt die
Opposition auf eine Blockade der Nahrungsmittelindustrie und des
Bildungswesens. Mit aller Macht soll der Ausnahmezustand herbeigefuehrt
werden.
Der portugiesische Nobelpreistraeger Jose Saramago beschrieb die Lage
Venezuelas praegnant: "Waere das Land nicht der weltweit fuenftgroesste
Erdoelexporteur, gaebe es kaum eine solche Aufregung, und waere Irak nicht
der weltweit zweitgroesste Erdoelexporteur, wuerde ihm kein Krieg drohen."
(Harald Neuber, junge Welt, 15.0.1.2003)
Quelle: http://www.jungewelt.de/2003/01-15/006.php
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