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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 14. Jaenner 2003; 23:36
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Menschenrechte:
> amnesty heute: Mehr als einen Gefangenenhilfsorganisation
Das zwanzigste Jahrhundert war kurz, sehr kurz. Da ist man sich einig, auch
wenn man Anfang und Ende unterschiedlich datiert, ob vom Ausbruch des Ersten
Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion oder vom Beginn der
Befreiungskaempfe gegen das Kolonialsystem bis zur Befreiung vom
Apartheidsystem.
Das einundzwanzigste Jahrhundert bringt Herausforderungen, viele
Herausforderungen. Da ist man sich einig, auch wenn man nicht sagen kann, ob
das 21. Jahrhundert ebenso kurz und chaotisch wird wie die XXI.
Gesetzgebungsperiode des oesterreichischen Nationalrats.
Fit fuer die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? Diese Frage
klingt wie die Headline in einem Wirtschaftsmagazin, wie der Seminartitel
einer Consulting-Firma und muss doch von jeder NGO selbstkritisch
beantwortet werden, wenn sie nicht fahrlaessig Gewicht und Einfluss
preisgeben moechte, denn die Sonne steht unguenstig: Das extrem kurze
Jahrhundert der Extreme wirft lange Schatten, die sich wandeln. The short
century uebergibt die brennenden Menschheitsprobleme ungeloest einem jungen
Jahrhundert, das keinen Zweifel daran laesst, dass es den alten Rahmen fuer
die Loesungsversuche aufloest.
Obwohl der Staat auf absehbare Zeit der zentrale politische Akteur und der
wichtigste Adressat fuer die Anliegen von sozialen Bewegungen und NGOs
bleibt, koennen die Entwicklungen, die in Richtung Erosion des
Nationalstaates, Entgrenzung der Staatenwelt weisen, nicht ignoriert werden.
Ganz einfach aus dem Grund, weil die Rahmenbedingungen durch das Schwinden
des Primates der Politik, durch den Souveraenitaetstransfer bzw. die
souveraene Machtzuweisung an demokratisch nicht oder kaum legitimierte
internationale und supranationale Institutionen dergestalt veraendert
werden, dass bislang praktizierte Durchsetzungsstrategien gegenueber dem
Staat nicht mehr hinreichend sind, um Veraenderungen zu bewirken. Von
einschneidender Bedeutung ist natuerlich auch das - zumindest aus
europaeischer Warte - Ende des Ost-West-Konflikt, der ein halbes Jahrhundert
den Nord-Sued-Konflikt ueberlagerte, wodurch die Menschenrechte der zweiten
und dritten Generation (wirtschaftliche, soziale, kulturelle Kollektiv-
sowie Individualrechte und das Recht auf Entwicklung) im Vergleich zu den
klassischen Freiheitsrechten, die im Kalten Krieg zum Teil als "Waffen" der
Destabilisierung eingesetzt wurden, ein Schattendasein fristeten. Der enge
Zusammenhang von sozialer Verwerfung und staatlicher Repression, der immer
schon bestand, tritt heute deutlicher zu Tage, zumal mit dem Wegfallen der
Systemkonkurrenz, die linke Hand des Staates, um ein Bild von Bourdieu zu
verwenden, abgehackt wird, waehrend die rechte Hand trainiert wird.
Vor diesem Hintergrund hat amnesty international, meines Erachtens, 2001 bei
ihrer Internationalen Ratsversammlung in Dakar (Senegal) die richtigen
Weichenstellungen vorgenommen, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
gerecht zu werden. Die Erfahrung, dass amnesty als einer der groessten
Menschenrechtsorganisationen in vielen internationalen Kampagnen der letzten
Jahre (z.B. in der Kampagne gegen das MAI) nicht einmal eine untergeordnete
Rolle gespielt hat, trug sicher zu der mutigen Mandatserweiterung bei, die
einer breiten Oeffentlichkeit aber noch unbekannt ist. Fuer viele ist
amnesty nach wie vor eine reine Gefangenenhilfsorganisation, die sich nur um
die Freilassung von sogenannten Gewissensgefangenen bemueht und zusaetzlich
Folter und Todesstrafe unter allen Umstaenden bekaempft. Jedoch hat ai
kontinuierlich ihr Aufgabengebiet ausgeweitet. Vor rund zehn Jahren nahm
amnesty Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete Oppositionsgruppen und
einige Menschenrechtsverletzungen, die ausserhalb des Gefangenenkontextes
stehen, wie das Zerstoeren von Haeusern, in ihre Arbeit auf. Seit kurzem
nimmt amnesty auch Finanzinstitutionen und Konzerne in die Pflicht, fuer die
Einhaltung der Menschenrechte zu sorgen. Damit wird dem oben beschriebenen
Trend, dass multinationale Unternehmungen, ohne an rechtsverbindliche
Menschenrechtspakte und -vertraege gebunden zu sein, zu einem dem Staat
ebenbuertigen Global Player in Menschenrechtsfragen avanciert sind, Rechnung
getragen. Mit der Beteiligung etwa an der Oil-Kills-Kampagne, die sich gegen
die Firmenpolitik von Esso richtet, zeigt amnesty auf, dass sie sich von der
Staatsfixierung befreit hat. Bei der erwaehnten Ratsversammlung sprach sich
amnesty zudem fuer die schrittweise Oeffnung der Organisation fuer den
Bereich der wirtschaftlichen und sozialen Rechte aus. Schrittweise deshalb,
weil eine umgehende vollstaendige Aufnahme dieses umfassenden
Menschenrechtskatalogs amnesty ueberfordert haette. Daher werden vorerst nur
Kampagnen durchgefuehrt, in denen die Vorenthaltung sozialer Rechte mit
schwerwiegenden koerperlichen und psychischen Konsequenzen fuer die Opfer
verbunden sind (siehe Bericht in diesem akin-pd: Bulgarien/Behindert /
amnesty(I): "Die Menschen sterben hier"). Wenn sich aber diese Aktionen
bewaehren, dann wird amnesty in wenigen Jahren damit beginnen, zu dem
gesamten Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu
arbeiten, dann wird es ai-Kampagnen á la Recht auf Bildung oder Gesundheit
geben. *Roman Gutsch*
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