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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 14. Jaenner 2003; 23:36
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Bulgarien/Behindert:

> "Die Menschen sterben hier"

"Aus den Augen, aus den Sinn?" ist der Titel einer weltweiten Kampagne von
amnesty international betreffend der systematischen Diskriminierung von
geistig behinderten Menschen in Bulgarien, die bis Ende April 2003 andauert.
Der Kampagnenname verweist auf die seit Jahrzehnten in Bulgarien
praktizierte Verdraengung geistig Behinderter aus der Oeffentlichkeit, aus
den Augen der Gesellschaft sozusagen, indem die Menschen mit geistigen
Behinderungen vorwiegend in Einrichtungen untergebracht werden, die an
abgelegenen Orten, teils in unwegsamen Bergregionen liegen, wo es weder
geeignete Infrastruktur noch geschultes, professionelles Personal gibt.

Die gesellschaftliche Isolation basiert zu einem Gutteil auf einer
tradierten Ignoranz gegenueber den Problemen und Beduerfnissen behinderter
Menschen. So ist es in Bulgarien durchaus ueblich, dass geistig Behinderte
unmittelbar nach ihrer Geburt - haeufig fuer ihr ganzes Leben - von ihrer
Familie in eine Anstalt abgeschoben werden. Die ohnehin geringe Beachtung,
die den Anliegen dieser Personengruppe entgegengebracht wird, wird zudem
durch den allgemeinen oekonomischen Mangel in Bulgarien, der andere
Prioritaeten auf die politische Agenda setzt, verstaerkt.

Im Fahrwasser dieser Abschiebung aus dem oeffentlichen Raum und Bewusstsein
schwimmen all jene katastrophalen Zustaende in den psychiatrischen
Spitaelern und Fuersorgeheimen, die das Bulgarische Helsinki Komitee
veranlassen, festzuhalten, dass die Bedingungen in den Heimen schlimmer sind
als in den bulgarischen Gefaengnissen, die ja, um Abzuschrecken, in den
Stadtzentren angesiedelt sind.

In einem Bericht hat amnesty international die Ergebnisse ihrer Recherche,
die sie gemeinsam mit dem Bulgarischen Helsinki Komitee und Mental
Disability Rights International durchgefuehrt hat, veroeffentlicht. Die
aufgedeckten Missstaende lassen nur einen Schluss zu: in Bulgarien werden
HeimbewohnerInnen mit geistigen Behinderungen - nicht selten Fehldiagnosen,
die nie revidiert werden - Opfer schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen;
sie werden willkuerlich inhaftiert und grausamer, unmenschlicher und
erniedrigender Behandlung ausgesetzt.

In psychiatrischen Spitaelern wird Gewalt exzessiv angewendet. Die zur
Anwendung kommenden Ruhigstellungs- und Isolationsmethoden und die
Verfahrensregeln fuer Zwangseinweisungen sprechen internationalen Standards
Hohn. Elektroschocks werden zu "therapeutischen" Zwecken eingesetzt, jedoch
ohne der Verabreichung von anaesthesistischen Mitteln und solchen zur
Muskelentspannung, wodurch die Behandlung zur reinen Folter wird, die
selbstredend keine positive medizinische Wirkung zeitigt.

Die Situation in Fuersorgeheimen fuer geistig behinderte Kinder ist
dergestalt schrecklich, dass immer wieder Todesfaelle aufgrund von
Unterkuehlung und Unterernaehrung zu beklagen sind. Die grundlegenden
Lebensbeduerfnisse wie Kleidung, Nahrung, Heizung etc. werden nur
unzureichend befriedigt. Therapie- und Rehabilitationsmoeglichkeiten fehlen
bisweilen zur Gaenze, was den Kindern jede Zukunft raubt. Viele Kinder
wurden nur wegen Entwicklungsstoerungen, andere aus nicht naeher definierten
"sozialen Gruenden" eingeliefert. Es gibt sogar Faelle, in denen Kindern
schwerste Behinderungen zugeschrieben wurden, nur um in den Genuss hoeherer
staatlicher Foerderungen zu gelangen. Die Vernachlaessigung der Kinder durch
das Betreuungspersonal ist unvorstellbar. So hat ein Maedchen aus Mangel an
Zuwendung und Aufmerksamkeit den massiven Holzrahmen ihres Bettes
durchbissen.

Die Lage in den Heimen fuer geistig behinderte Erwachsene ist um keinen Deut
besser. InsassInnen werden geschlagen, in Kaefigen und Gitterverschlaegen
eingesperrt, muessen auf rostigen Gestellen ohne Matratzen schlafen, aus
Kuebeln oder im Stehen essen und barfuss zuerst durch Schnee, dann durch
Faekalien waten, um zu den verstopften Erdloechern, die man
"Toilettenanlagen" nennt, zu gelangen. Letztlich wurden zu Tode Verwahrloste
ohne gerichtliche Untersuchung in einem nicht namentlich gekennzeichneten
Grab verscharrt.

Im erwaehnten Bericht, der uebrigens als pdf-Datei auf der Homepage von
amnesty international als Download zur Verfuegung steht, wird einleitend ein
Bewohner eines Heimes mit den Worten zitiert: "Dieser Ort ist fuer
menschliche Lebewesen nicht geeignet. Er sollte geschlossen werden. Die
Menschen sterben hier." Eine ganz normale Feststellung und Forderung
angesichts der geschilderten abnormalen Zustaende. Bitte den dieser akin
beiliegnden Appellbrief beachten und wegschicken!! *Roman Gutsch*

ai-Homepage: http://www.amnesty.at

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Musterbrief an Bulgariens Regierungschef:
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Premierminister
Simeon Sakskoburggotski
Council of Ministers
Dondukov Boulevard, 1
1194 Sofia
Bulgarien


Betrifft: menschenunwuerdige Situation in Fuersorgeheimen

Sehr geehrter Herr Premierminister!

Mit Erschuetterung habe ich von den unmenschlichen Zustaenden in vielen
bulgarischen Heimen fuer geistig behinderte Menschen gehoert. Die meisten
HeimbewohnerInnen erhalten keinerlei Therapie, sie werden einfach nur
"verwahrt" und sind Misshandlungen bzw. unmenschlichen Strafen wie dem
Wegsperren in Isolationsraeumen hilflos ausgesetzt. Besonders schockierend
ist fuer mich, dass Tausende geistig behinderte Kinder keinerlei
Foerderungsmoeglichkeiten erhalten und ihnen somit jede Chance auf eine
Verbesserung ihres Gesundheitszustandes genommen wird. Hohe Sterberaten in
der kaelteren Jahreszeit zeugen davon, dass viele Heime nicht genuegend
geheizt sind und dass es weder ausreichende Mahlzeiten noch medizinische
Versorgung gibt. Die Lebensbedingungen in den Heimen sind grossteils
grausam, unmenschlich oder erniedrigend.

Dies alles steht im Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsabkommen,
zu deren Einhaltung sich Ihre Regierung verpflichtet hat. Es ist auch in der
Verantwortung Ihrer Regierung, in Bulgarien ein soziales Klima zu schaffen,
in dem Menschen mit geistigen Behinderungen nicht diskriminiert werden,
sondern als Menschen anerkannt sind, die einen Anspruch auf ihre Rechte
haben.

Diese Anliegen koennen nur mit Ihrer Hilfe und der vollen Unterstuetzung der
zustaendigen Ministerien und Behoerden durchgesetzt werden. Daher ersuche
ich Sie, alles in Ihrer Macht stehende zu unternehmen, dass die fuer
(geistig) behinderte Menschen zustaendigen Stellen das System der
Fuersorgeheime umgehend so reformieren, dass es sowohl mit internationalen
gesetzlichen Richtlinien als auch mit internationalen medizinischen
Standards konform geht.

Hochachtungsvoll



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