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Aussendungszeitpunkt: 19. Dezember 2000 - 15:31
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Balkan:

> Das Spital

Ein balkanisches Tagebuch (XIII)

Von Andreas Jordan

Diese Woche in Prishtina war grausig. Die Unbilden des beginnenden
Winters: feuchtkalte Nebel bei Tagestemperaturen um null Grad,
naechtens bedeutend darunter - und die daraus resultierende
Ungemuetlichkeit in meiner zugigen Bude, wo die kaum handwarmen
Heizkoerper die Wohnung auf maximal 10 - 12 Grad aufzuheizen imstande
sind. Ja, ich weiss, ganz Rumaenien unter Ceausescu hat jahrelang so
gelebt, bei der vom "Conducator" festgelegten Raumtemperatur von 12
Grad, und jetzt, unterm Kapitalismus, haben sie's wahrscheinlich
genauso kalt, wenn nicht schlimmer, aber ich bin anscheinend nicht so
abgehaertet wie die Rumaenen, und wenn ich aus dem gutgeheizten Buero
nach Hause komm, wickle ich mich zusaetzlich zum Pullover noch in eine
Steppdecke und setz mich an den Heizkoerper, wenn ich noch eine Stunde
lese, bevor ich ins Bett gehe. Das schlimmste an dieser Woche war die
Untersuchung im oeffentlichen Spital von Prishtina.

Zumal meine Zeit im Kosovo gottlob in absehbarer Zeit auslaeuft, habe
ich mich dieser Tage einer sogenannten medizinischen "Check-out-
Untersuchung" zu unterwerfen. Die koennte ich nachtraeglich zwar auch
in Oesterreich machen (sie ist kostenpflichtig, das Geld wird aber von
den UN rueckerstattet), aber ich will das Geld lieber im Land lassen,
das hiesige Gesundheitssystem hat's sicher noetiger als das
oesterreichische. - Ein Fehler, wie sich weisen soll.

Zuerst erkundige ich mich am Vortag nach den Oeffnungszeiten der
Klinik in Prishtina. - "7 bis 12", wird mir bekundet. - Nun gut - am
naechsten Tag kurz nach sieben treffe ich dort ein. Nach langem
Herumfragen laesst sich ein Schalter im 2.Stock als der
identifizieren, wo ich zuallererst einmal zu bezahlen habe - mit
knappen 1000 oeS fast ein halbes kosovarisches Durchschnitts-
Monatsgehalt. Nach Einzahlung wird mir auf einem Papierstreifen in
Form von Stock- und Zimmernummern aufgeschrieben, welche neun
Stationen ich im Rahmen der Untersuchung abzuklappern habe. Als erstes
wird das Lungenroentgen aufgesucht: "Kommen Sie in drei Stunden
wieder." Na gut, die raeumlich naechste Station ist das Blutlabor.
Also dort anstellen. - Drinnen, nach einer Weile, eine Schwester, die
mir einen Gummischlauch voll eingetrockneter Blutflecken um den
Oberarm legt, mit Haenden, die in blutbefleckten Gummihandschuhen
stecken. (Z'weng der Hygiene, nehm ich an.) Ich schaue sehr genau
darauf, ob die Kanuele eh noch originalverpackt ist, und dass sie mit
ihren blutigen Fingern die Stelle, wo sie meine Blutprobe entnimmt,
nicht beruehrt. Die naechste Kandidatin, eine Kanadierin, fragt allzu
naseweis, ob das SICHER Einwegkanuelen waeren, und fliegt daraufhin
fast hinaus. Als naechstes drueckt mir die Schwester ein leeres
Aufstrichglas in die Hand - "Urinprobe." Die Toilette, am Gang
gelegen, ist leicht zu identifizieren - am Geruch, der durch die
offene Tuer stroemt. (Die Tuer schliesst nicht.) Drinnen dann zwei
Abteile, jeweils zehn Zentimeter dick (keine Uebertreibung!) mit
eingetrockneter Scheisse verkrustet, kein Klopapier, keine Spuelung.
Wir sind hier, immerhin in einem SPITAL, wo ich ein Mindestmass an
Hygiene erwartet haette! Mir faellt ein Dokumentarfilm ueber
Provinzspitaeler in Kambodscha ein, den ich vor Monaten gesehen habe,
genauso sieht's hier aus, die Toiletten, die abbroeckelnden Waende,
die Menschen, die sich in dichten Trauben vor den Aerztezimmern in
kalten, zugigen Gaengen mit ramponierten Klappsesseln draengen.

Als raeumlich naechste Station scheint auf meiner Liste der
Arbeitsmediziner auf. Nach kurzem Warten die Auskunft: Untersuchung
erst nach Befund des Internisten! Auf zum Internisten. "Wer war der
letzte, bitte?" Jemand uebersetzt meine Frage, und nach laengerer
allgemeiner Eroerterung stellt sich heraus, dass ein alter Mann, mit
dem traditionellen Plis (runder, weisser Filzturban) angetan,
unmittelbar vor mir gekommen ist. Der Arzt ist noch nicht da. Nach
einer Weile laeuft der Herr Doktor ein, und die ganze Menschentraube
draengt an die Tuer. Ich habe somit endlich einen Sitzplatz ergattert
und zuecke ein Buch. Eine halbe Stunde spaeter kommt der Alte heraus,
und ich will als naechster durch die Tuer. Weit gefehlt - eine junge
Frau, die erst vor fuenf Minuten gekommen ist, draengt vor mir hinein.
- Aber ich sei der naechste! Sie (in fliessendem Englisch): Ich haette
nicht mitgedraengt an der Tuer, deshalb sei SIE als naechste dran,
immerhin seien wir im Kosovo! - Als naechster draenge also ich durch
die Tuer - allein es nutzt nichts: Der Internist meint, zuerst muesse
ich zum Nerven-, zum Augen-, zum Ohrenarzt und zum Roentgen, erst dann
sei ich bei ihm dran. - Das haetten sie mir aber wirklich am Anfang
sagen koennen!

Der Augenarzt stellt sich als alter Mann heraus, der nur Albanisch
(und sicher auch Serbisch, aber das huete ich mich zu testen) spricht
- und die Untersuchung besteht darin, dass er auf eine Zahl zeigt,
waehrend ich ein Auge zuhalte. "Kater" (= Vier). Dann das andere Auge
zu. Wieder "Kater". - Dann zeigt er auf ein rotes Quadrat, die einzige
Farbe auf seiner Tafel. "Kuq". Wie, bitte, wird hier jemand
untersucht, der NICHT weiss, dass "Rot" auf Albanisch "Kuq" heisst??
(Immerhin schleusen die UN hier jaehrlich viele hundert Leute
internationales Personal durch.)

Naechste Station: Der Ohrenarzt. Nach einer halben Stunde Warten,
ohne dass jemand das Behandlungszimmer betritt oder verlaesst, gehe
ich an dem Dutzend Wartender vorbei hinein und frage, was los ist. Die
Vorzimmerdame des Arztes, eine aeltere Frau im weissen Kittel:
"Kaffeepause von neun bis halb zehn." - Ja, aber es ist jetzt zehn vor
zehn?? Sie zuckt die Achseln. Die Neuropsychiaterin, zwei Tueren
weiter, ist schon aus der Pause zurueck. Nur zwei Leute warten vor
ihrer Tuer, und nach zwei Minuten bin ich dran. Gleich werde ich die
Kuerze der Wartezeit verstehen: Die Aerztin, eine aeltere Frau mit
dick geschwollenen Fuessen, spricht ein bisschen Englisch. Keine
Kontrolle von Nervenreflexen - zwei Fragen: "Do you feel normal?"
("Fuehlen Sie sich normal?") und "Do you behave decently?" ("Ist Ihr
Benehmen normal?"), beide mit "Ja" beantwortet, reichen aus, dass sie
etliche Spalten auf meinem Untersuchungsbogen jeweils ankreuzt und
abhakt.

Zurueck zum Ohrenarzt. Ich gebe meinen Untersuchungsbogen bei der
Vorzimmerdame ab und warte. Nach einer Stunde ist es kurz vor elf -
ich muss zum Roentgen. Also hole ich meinen Untersuchungsbogen wieder
ab und wandere drei Stockwerke tiefer. Die Roentgenaerztin, eine
resche Blondine, meint, leider, seit einer halben Stunde sei der Strom
ausgefallen. Kein Strom, kein Roentgen. Gut, also wieder zum
Ohrenarzt. Erkundigung dort: Wie lange dauert es, bis ich hier
drankomme? Bis es wieder Strom gibt. Gehen Sie inzwischen zum
Internisten, der braucht keinen Strom fuer die Untersuchung. Also aufs
neue zum Internisten. Ich habe inzwischen dazugelernt, vorbeigedraengt
an der Menge und hinein ins Wartezimmer. Der Internist, angesichts
meines Untersuchungsbogens: "Was machen Sie hier? Ich habe Ihnen doch
gesagt, zuerst Ohrenarzt und Roentgen, bevor Sie zu mir kommen!" -
Kafkas "Schloss" war ein Durchhaus, verglichen mit diesem Spital hier!

Um zwoelf kapituliere ich - immer noch kein Strom, und ich gehe ins
Buero. Vorher deponiere ich aber noch meinen Unmut beim
Empfangsschalter (die Frau spricht ein bisschen Englisch): "Alle im
Kosovo reden sich immer darauf aus, die Serben seien schuld daran,
dass nichts funktioniert, weil sie in den letzten zehn Jahren alles
hinuntergewirtschaftet haetten und vergammeln haetten lassen. Sogar
wenn das stimmt, ist das keine Entschuldigung fuer diesen Saustall
hier - Sie haetten jetzt schon eineinhalb Jahre Zeit gehabt zur
Selbstorganisation! Das Chaos und die Desorganisation hier sind aerger
als bei der UN-Kosovo-Mission!" (dies als sparsamen Kommentar zu
meinen sonstigen Arbeitsbedingungen - mein Dienstvertrag untersagt
mir, mich oeffentlich negativ ueber meinen Arbeitgeber zu aeussern.)
Am naechsten Tag, als ich kurz nach sieben wiederkomme, mit
hinreichend Lesestoff und schlechter Laune gewappnet, um diesen Tag
unbeschadet zu ueberstehen, die grosse Ueberraschung: Die resche
Blonde vom Roentgen begruesst mich wie einen langvermissten Bekannten,
ich werde sofort vorgelassen und habe in fuenf Minuten mein
Roentgenbild; die Vorzimmerdame beim Ohrenarzt wechselt freundliche
Worte mit mir und expediert mich auf der Stelle zu ihrem Chef durch,
als ich meinen Untersuchungsbogen bei ihr einreiche; ja sogar der
unzugaengliche Internist, mit dem ich gestern auf Englisch
kommuniziert habe, blueht nach erteilter Auskunft bezueglich meiner
Herkunft zu unerwarteter Freundlichkeit auf ("Willkommen in das
Kosova! Seit sechs Monate, ich lerne das Deutsch, aber ich spreche
nicht gut!") - kurz, nach unglaublichen zwei Stunden habe ich meine
restlichen sechs Untersuchungsstationen erfolgreich abgeklappert und
kann wieder ins Buero gehen. - Zuerst, verdutzt, nehme ich an, dass
ich sie gestern einfach nur genug angepflaumt habe, um heute
zuvorkommender behandelt worden zu sein. Dann, nach weiterer
Ueberlegung, glaube ich, des Raetsels Loesung gefunden zu haben: Das
ist eine Gesellschaft, in der FORMALE Beziehungen NICHTS gelten,
PERSOENLICHE Beziehungen hingegen ALLES sind; gestern war ich das
erstemal hier, niemand hat mich gekannt, und so bin ich auch behandelt
worden, als ein Niemand; und heute, als ich wiedergekommen bin und
alle mich behandelt haben wie einen alten Bekannten, war ich halt
inzwischen jemand, zu dem schon persoehnliche Beziehungen hergestellt
waren - verblueffend: Ein Land fuer Stammgaeste also...
 

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