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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 10. Dezember 2002; 19:22
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Im "Kommentar der Anderen" brachte "Der Standard" am 5.12.2002 nachfolgenden
Text von ELISABETH NEMETH, Assistenzprofessorin an der Uni Wien. Viele
werden ihn gelesen haben, aber da uns beim Lesen "das G'impfte aufgegangen"
ist, mussten wir ihn einfach nachdrucken.

> Blick aus dem Elfenbeinturm

Verzeihen Sie, wenn ich die Diskussion um Schwarz-Gruen oder Schwarz- Rot
unterbreche, aber vielleicht findet auch eine Begebenheit am Rand der
oeffentlichen Wahrnehmung Ihr Interesse. Die Rede ist von einem der
groessten Renovierungsprojekte des Bundes in Wien - der Anfang Oktober von
Rektorat und Bundesimmobiliengesellschaft in Auftrag gegeben Instandsetzung
der alten Fassade des Neuen Institutsgebaeudes (NIG) in der
Universitaetsstrasse.

Seither erinnern mich Haemmer und Pressluftbohrer Tag fuer Tag daran, dass
auch die Elfenbeintuerme der Wissenschaft aus Beton sind. Vor dem Fenster
meines Bueros im 3. Stock balancieren Arbeiter voll beladene Scheibtruhen
und rufen mir so ins Gedaechtnis, dass andere Leute ihr Geld unter sehr viel
haerteren Bedingungen verdienen als Universitaetsprofessor(inn)en.

Letzten Freitag hatte ich freilich noch eine ganz andere Lektion ueber die
Wirklichkeit "da draussen" zu lernen. Am fruehen Nachmittag kam es auf der
Strasse vor meinem Fenster zu einer lautstarken Auseinandersetzung. Als ich
zum Eingang Liebiggasse komme, stehen mehrere Polizeiwaegen da, Polizisten
versuchen wuetend gestikulierende Arbeiter zu beruhigen. Ein Unfall? - Nein.
Die Ursache der Aufregung ist eine andere: Keiner der Arbeiter hat fuer
Oktober und November bisher auch nur einen einzigen Euro Lohn gesehen. Alle
sind Woche fuer Woche vertroestet worden - zuletzt auf Ende November.

Umsonst. Auch am Freitag, 29. 11. 2002, erklaert ihr Chef, das Geld sei
nicht zur Verfuegung. Die Polizei wurde gerufen, als zwei Arbeiter, die in
den letzten Wochen ihre Wohnung verloren haben und ein anderer, dem fuer
Montag die Delogierung droht, dem Firmeninhaber eins ueber den Schaedel
hauen wollten.

"Gib 50 Euro her!"

Auch jetzt noch draengen sich Kollegen dazwischen, wenn einer die Nerven
verliert und zuschlagen will. Die Polizisten befragen, versuchen zu
beruhigen, halten wuetend schreiende Maenner zurueck. Einmal packt einer den
Firmenchef (ein untersetzter Mensch mit offenem Hemd und Goldketterl auf der
haarigen Brust) am Kragen: Gib 50 Euro her, und zwar sofort! Nach kurzem
Zoegern rueckt der Chef den 50er heraus. Der Arbeiter dreht sich um und
drueckt den Schein einem anderen in die Hand: Du geh jetzt in die Apotheke.

Spaeter erfahre ich, dass sein Kollege eine vier Monate alte Tochter hat,
die Diabetikerin ist. Ich erfahre auch, dass die Truppe bei einer Subfirma
der Strabag angestellt ist. Die Subfirma hat ihren Namen seit September vier
Mal geaendert: Haselbauer, Angelovic, Koestlbauer. Jetzt heisst sie
Ledermueller. Bis heute inseriert sie in der Zeitung, immer wieder unter
anderem Namen: damit sie neue Leute findet. Der Firmensitz befindet sich in
einem Lokal, das dem Chef gehoert, irgendwo in einem Aussenbezirk. - "In
,Wien heute' ist eh schon ein Film ueber die Firma gelaufen. Da ist es um
die Baustelle Hohenstaufengasse, bei der ehemaligen CA gegangen. Haben S'
den Film nicht gesehen?" - Nein, hab ich nicht. Ich hab bisher ueberhaupt
noch nicht viel gesehen von dieser Welt, die hier vor den Toren der
Universitaet beginnt. Mitten in der Innenstadt Wiens. Nicht weit vom
Ministerium fuer Wirtschaft und Arbeit. Nicht weit vom Buero des OeGB.

Gewerkschaft? - Ach wissen Sie, wie soll das gehen, wenn die Firmen staendig
in Konkurs gehen und ihren Namen aendern ... Arbeiterkammer? - Ja schon,
aber das dauert doch Monate. Ich brauch das Geld doch jetzt. Ein Handy
laeutet: "Ja, ich hol' die Kleine vom Kindergarten ab, hab' hier nicht
gleich weg koennen ... Ich weiss nicht, wie ich meiner Frau sagen soll, dass
ich das Geld auch heute nicht hab."

Leider bin ich keine Schriftstellerin. Ich wuerde gern treffende,
angemessene Worte finden fuer die Empoerung und Verzweiflung der Menschen,
die hier hemmungslos bestohlen werden, aber auch fuer die
Freundschaftlichkeit unter ihnen und die Bemuehung um Ruhe und Vernunft.

Ich frage mich, wann zuletzt ich in der universitaeren Welt, die auf der
anderen Seite dieser Tore liegt, so viel spontane Loyalitaet und
reaktionsschnelle Klugheit erlebt habe wie hier.

Diese Frage vergesse ich lieber so schnell wie moeglich. Andere vergesse ich
nicht und werde ihnen nachgehen. Wie um alles in der Welt ist es moeglich,
dass eines der groessten Renovierungsprojekte, die der Bund in den letzten
Jahren ausgeschrieben hat, von einer Firma durchgefuehrt wird, die ihre
Arbeiter nicht bezahlt? Oder so spaet bezahlt, dass sie in der Zwischenzeit
delogiert werden? Wieso vergibt die Republik ihre Bauvorhaben nicht an
serioese Baumeister? Und wann endlich machen Sozialdemokraten, Gruene und
Gewerkschaften die Beschaeftigungsverhaeltnisse, die noch immer "untypisch"
genannt werden (obwohl sie von Jahr zu Jahr typischer werden), zu ihrer
ureigensten Sache? Und die Rechte dieser Menschen zur Prioritaet ihrer
politischen Anstrengungen?

PS.: Die Bauarbeiter, die seit Oktober an der Fassade gearbeitet haben,
haben den Zeitplan mehr als erfuellt: Sie sind zwei Wochen frueher dran als
urspruenglich vorgesehen. Es stuende der Leitung der Universitaet gut an,
alles in ihrer Macht stehende dafuer zu tun, dass sie umgehend zu ihrem Lohn
kommen. ###


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