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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 26. November 2002; 14:35
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USA/Europa/Militaer:

> Ein Konzept fuers Museum

Die NATO soll sich an praeventiven Kriegen beteiligen. Das fordern
jedenfalls die USA beim Gipfel der Allianz in Prag. Dabei ist das Buendnis
laengst anachronistisch geworden - der deutsche Friedensforscher REINHARD
MUTZ kommentierte in der "taz" den Gipfel.

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"Toedliche Schlaege mit punktzielgenauen Praezisionswaffen schnell und
flexibel" austeilen zu koennen, fordert Washington von seinen europaeischen
Bundesgenossen. So hat es der Nato-Botschafter der USA dieser Tage seinen
deutschen Zuhoerern ins Stammbuch geschrieben. Dafuer wird ein besonderer
Einsatzverband geschneidert, die "Nato Response Force", rund 20.000 Soldaten
stark, aus Land-, Luft- und Seekomponenten bestehend, in fuenf bis dreissig
Tagen verlegbar und ausgeruestet, um in feindlichem Umfeld zu operieren. Bis
Herbst 2004 soll die neue Truppe stehen, zwei Jahre spaeter voll
einsatzbereit sein.

Die zweite Erwartung, ueber die sich die Gipfelgranden in Prag den Kopf
zerbrechen muessen, geht in dieselbe Richtung: mehr militaerische
Schlagkraft durch zusaetzliche Ruestung. Seit 1999 propagiert das ehrgeizige
Nato-Verstaerkungskonzept kostspielige Entwicklungs- und
Beschaffungsprogramme. Nur stehen die meisten davon immer noch auf dem
Papier. Wo bleiben die europaeischen Aufklaerungsmittel,
Langstreckentransporter oder Praezisionsgeschosse? Das Pentagon wird
ungeduldig, verlangt einen neuen Anlauf und ein gestrafftes Programm. Aber
diesmal, bitte schoen, keine blumigen Versprechen, sondern Fakten,
Stueckzahlen, Termine.

Forderung drei: Klotzen, nicht kleckern beim naechsten Ausdehnungsschub der
Nato nach Osten. Mit dem Einschluss Litauens, Lettlands und Estlands wird
die von Moskau stets so genannte rote Linie ueberschritten. Die Nato
expandiert auf vormals sowjetisches Territorium. Und Washington will mehr.
Auch die armen, instabilen Balkanlaender Rumaenien und Bulgarien sollen das
begehrte Einladungsschreiben erhalten, Aufnahmekriterien hin oder her.

Nie hat die atlantische Allianz in den Augen der USA so tief im Kurs
gestanden wie nach dem 11. September 2001. Was die Amerikaner militaerisch
erledigen wollten, konnten sie auch ohne fremde Hilfe. Bei der
Antiterroroperation "Enduring Freedom" durften die Partner mitmachen, aber
nicht mitreden. Die beflissene Ausrufung des Buendnisfalls - wie lange
bleibt er eigentlich noch bestehen? - wurde mit Achselzucken quittiert.
Manchem Nato-Offizier duenkt inzwischen ein Job bei einem Verbindungsstab
des fuer die US-Militaerschlaege gegen al-Qaida zustaendigen Central Command
in Florida weit karrieretraechtiger als die Routine der Bruesseler Bueros.

Denn die Mission bestimmt die Koalition, nicht umgekehrt, so die neue
Devise. Fuer die Alliierten auf dem alten Kontinent hiess das: Ihr seid
entbehrlich, ausser als willige Gefolgschaft. Jedenfalls bis der politische
Blick nicht mehr auf Osama Bin Laden ruhte, sondern auf Saddam Hussein fiel.
Ein Krieg am Golf waere von anderem Kaliber als der Feldzug am Hindukusch.
Warum nicht vorsorglich und langfristig auf die bewaehrte Lastenteilung
zurueckgreifen? Das Interesse an der schlummernden Nato erwachte neu.
Seither sind die Amerikaner wieder im Buendnis aktiv. Sie diktieren die
Themen, die verstoerten Europaeer plappern sie nach.

Im Juni liessen sich die Verteidigungsminister den akuten Mangel an
verlegbaren Kampftruppen "fuer Operationen weit entfernt von den
Heimatstuetzpunkten und ohne groessere Unterstuetzung durch eine
Gastgebernation" ins Kommuniqué schreiben. Im September setzte Donald
Rumsfeld nach und zog die "Response Force"-Idee aus dem Hut.

Stuende in Prag ein einziger Vorschlag zur Debatte, der geeignet waere,
bestehende Sicherheitsprobleme zu entschaerfen oder heraufziehende Gefahren
abzuwenden, muessten die Regierungen sich ernsthaft damit auseinander
setzen. Sie wissen es besser. Fuer ein klassisches Verteidigungsbuendnis mit
dann 26 Mitgliedern und mehr als vier Millionen Soldaten unter Waffen fehlt
ersichtlich der Bedarf. Terrorbekaempfung ist eine Aufgabe von Politik,
Polizei und Nachrichtendiensten, aber in kaum einem Fall auch fuer
militaerische Streitkraefte. Und gegen die Risiken der Ausbreitung von
Massenvernichtungswaffen gibt es wirksamere Instrumente als die Androhung
von Luftschlaegen.

Gewalt gegen Gewalt zu setzen hat die Welt nicht sicherer gemacht. Die
Verrohung staatlichen Handelns ist der Preis fuer die militaerisch
verkuerzte Antwort auf den internationalen Terrorismus. Jede Schandtat, die
sich mit einem antiterroristischen Motiv bemaenteln laesst, darf
mittlerweile auf oeffentliches Verstaendnis zaehlen: Die Fuehrung in Moskau
liquidiert verhaftete Erpresser per Genickschuss. Israel nimmt eine ganze
Bevoelkerung in Geiselhaft. Pakistan und Indien decken wechselseitig
terroristische Praktiken, um ihre Anhaenger zu unterstuetzen und ihre Gegner
zu verfolgen. Die Politik hat abgedankt. Fuer alle drei Krisenherde -
Tschetschenien, Palaestina, Kaschmir - ist die Suche nach
Verhandlungsloesungen praktisch zum Erliegen gekommen. Dabei waere nichts
dringlicher, um den Naehrboden terroristischer Auflehnung auszutrocknen, als
die Beilegung der blutigen Regionalkonflikte.

Mehr politischen Verstand braucht die westliche Staatengemeinschaft,
genuegend Muskeln hat sie schon. Unter allen Optionen Europas waere die
einfaeltigste der Versuch, Amerikas Vorsprung an Waffenmacht zu verringern
oder sie gar einzuholen. Hinter vorgehaltener Hand nennen europaeische
Politiker den Ruestungshaushalt der Vereinigten Staaten mass- und ziellos.
Die Hoffnung, einen Irrweg durch Nachahmung zu korrigieren, folgt einer
abstrusen Logik.

Das gilt nicht minder fuer das strategische Denken. Noch hat jede Variante
der USA ueber kurz oder lang Eingang in die Dokumente der Allianz gefunden.
Die neue Doktrin "praeventiver Selbstverteidigung" wird davon keine Ausnahme
machen. Sie wurzelt in der seit mindestens hundert Jahren ueberwunden
geglaubten Auffassung, dass staatliche Souveraenitaet die
Kriegsfuehrungssouveraenitaet einschliesse. Dagegen setzt das moderne
Voelkerrecht das Gewaltverbot. Der Gruendungsvertrag der Nato nimmt darauf
Bezug.

Mit einem Federstrich haette sich das westliche Buendnis von seiner
Rechtsgrundlage wie von seinem Verstaendnis als Wertegemeinschaft
verabschiedet. Denn der Praeventivkrieg ist eben kein Verteidigungsakt,
sondern das Gegenteil, ein Angriffskrieg. Um moeglichen Aggressoren Paroli
zu bieten, hatten sich die Mitgliedstaaten einst zusammengeschlossen. Sie
wuerden selbst zum Aggressor, machten sie sich die Rechtfertigunslehre der
praeventiven Selbstverteidigung zu eigen. Anwender legaler Gegengewalt
waeren dann die Angegriffenen. Oder nach gaengiger Lesart: die
Schurkenstaaten.

Die Nato hat ihre Zeit gehabt, auch ihre Verdienste. Solange die Welt in
zwei verfeindete Lager gespalten war, bildete sie einen der beiden
Stuetzpfeiler, ohne die der monstroese atomare Abschreckungsfrieden nicht
funktionieren konnte. Das ist Vergangenheit, dafuer wird sie nicht mehr
benoetigt. Ab mit ihr in das Museum fuer transatlantische Geschichte. Zur
Loesung der neuen Konflikte taugt das Konzept der Nato jedenfalls nicht
mehr. (taz, 21.11.2002)


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