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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 19. November 2002; 13:54
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Neuquahlen:

> Sonntagsnotizen

Kurz vor dem Sonntag, wo die Balken- und Tortendiagramme auf ORF 2 wieder
mehr Spannung versprechen als ein Blockbuster im Kino, moechte ich drei mehr
oder weniger zusammenhaengende Tupfen Meinungssenf aus meiner Hirntube
druecken. Ausgehend von einigen Ueberlegungen zu der weitverbreiteten Klage
ueber das mangelnde Niveau von Wahlkaempfen moechte ich ueber die
Zusammenfassung eines Referats, das Egon Matzner neulich auf einem
AK-Symposium hielt, zu einer Wahlempfehlung gelangen.

Wahlkampfzeiten sind, so wird gemeinhin angenommen, schlechte Zeiten, was
die Qualitaet der politischen Kontroversen anbelangt. Offene Debatten,
anspruchsvolle Auseinandersetzungen ohne ideologische Scheuklappen,
Polemiken darf und kann man, so heisst es, vor einem Urnengang nicht
erwarten. Die Habermasschen Geltungsansprueche, dass Aussagen richtig, wahr
und wahrhaftig sein muessen, haben keinen Auftrag. Die Auftraege ergehen an
PR-Agenturen, die glaubwuerdige Luegen feilbieten, und an
ParteistrategInnen, die Tatsachen konstruieren und manipulative
Argumentationslinien ziehen.

Ist demnach ein Lamento ueber den vermeintlich temporaeren Niveauverlust in
der politischen Oeffentlichkeit im Vorfeld von Wahlen angebracht? Soll man
zustimmend kopfnicken, wenn routinemaessig beklagt wird, dass AkteurInnen,
die bemueht sind, ihren Stimmenanteil zu maximieren, strategisch
kommunizieren anstatt auf die hehren Kriterien rationaler Diskurse zu
achten? Ich meine: nein. Erstens, weil die Mediatisierung der Politik zu
einem permanenten Wahlkampf gefuehrt hat, d.h., dass die Gespraechskultur in
der Fernsehgesellschaft und Zuschauerdemokratie von den Wahlzyklen
weitgehend unabhaengig wurde. Die gesamte Legislaturperiode hinweg gelten
die selben Spielregeln. Ein substantieller Unterschied hinsichtlich der
Qualitaet der parteipolitischen Konfrontationen unmittelbar vor bzw. mehrere
Monate nach einer Wahl ist kaum auszumachen. Ein Beklagen des
Wahlkampfniveaus verkennt folglich haeufig, dass dieses Niveau nur geringen
Schwankungen unterliegt, ist demnach mehr journalistische Pflichtuebung als
Beschreibung einer Wahlkampfbesonderheit. Der zweite Grund, warum ich nicht
in das staendige Bedauern, dass Wahlauseinandersetzungen vielfach ohne
jegliche inhaltliche Tiefe auskommen, einstimme moechte, ruehrt daher, dass
ich den Eindruck habe, dass gerade vor einer Wahlentscheidung hochkaraetige
politische Veranstaltungen stattfinden, die - bedingt durch die heisse
Wahlkampfphase - von einem deutlich erweiterten InteressentInnenkreis
besucht werden. Damit ist, ganz generell gesprochen, die Chance verbunden,
dass Diskurse zu gewissen progressiven Themen ausgedehnt und intensiviert
werden.

Aufgabe oeffentlicher Aufgaben

Ein Beispiel fuer eine solche Veranstaltung war das Symposium der
Arbeiterkammer Wien zum Thema "Ausverkauf des Staates? Zur Privatisierung
der gesellschaftlichen Infrastruktur", das am 14. November ueber 200
Personen in das Bildungszentrum der AK lockte. Das Motiv fuer die
Durchfuehrung dieses Symposiums, das relativ stark beworben wurde, so knapp
vor der Nationalratswahl, war meines Erachtens der Versuch,
MultiplikatorInnen gegen Schwarzblau zu mobilisieren (so kritisierte
AK-Praesident Tumpel in den Eroeffnungsworten, dass die verblichene
Bundesregierung keine einzige Position zu den GATS-Verhandlungen vorgelegt
hat) und die Sozialdemokratie (irgendwie identifiziert man ja doch die AK,
sosehr sie ueberparteilich ist, vorwiegend mit der SP) fuer Linke
interessanter zu machen. Die SPOe, das soll angemerkt werden, hat es aber in
der Vergangenheit ebenfalls gemieden, wenn man von einigen Parteilinken
absieht, sich mit dem heissen Eisen GATS die Finger zu verbrennen.

Inhaltlich bestand das Symposium aus vier Themenbloecken: Begonnen wurde mit
einem theoretischen Beitrag ueber die Auswirkungen, die der Neoliberalismus
auf Grund seiner oekonomischen Annahmen auf den Stellenwert der
oeffentlichen Aufgaben hat. Die naechsten beiden Redebeitraege
beschaeftigten sich mit den Entwicklungen auf internationaler Ebene (WTO,
GATS und EU) hinsichtlich der Privatisierung der bislang vorwiegend bzw.
ausschliesslich vom Staat und/oder Kommune bereitgestellten Infrastruktur.
Den groessten Block bildeten jedoch die insgesamt sechs Analysen
ausgewaehlter Politikbereiche (u.a. Wasser, Wohnen, Altersvorsorge). Bei
diesen Einzelstudien wurden nicht nur die privaten AkteurInnen benannt, die
in die jeweiligen Bereiche vordringen, sondern auch mal mehr, mal weniger
ausfuehrlich die Folgen abgeschaetzt. Abgerundet wurde das Symposium mit
einem Vortrag, der die Rolle der Gewerkschaften bei der notwendigen Reform
des oeffentlichen Sektors behandelte.

Nicht das gesamte umfangreiche, breite Themenspektrum soll im Folgenden
besprochen werden, sondern nur der Theorieteil der Tagung, namentlich der
Vortrag von Egon Matzner. Die Ausfuehrungen des renommierten
Finanzwissenschaftlers, der in den 70er Jahren zu den bedeutendsten
Intellektuellen rund um Bruno Kreisky gehoerte und am Grundsatzprogramm der
SPOe mitarbeitete, werden deshalb hervorgehoben, weil sie nicht nur ueber
den sogenannten "Washington-Consensus" informierten, sondern auch politische
Schlussfolgerungen beinhalteten.

Vorweg hielt der Referent fest, dass die herrschende wirtschaftspolitische
Doktrin, obwohl sie sich gerne auf die klassische Nationaloekonomie beruft,
ausgerechnet auf zwei Thesen aufbaut, die auf eine Verfaelschung der
Klassiker hinauslaufen. So fuehrt die als Effizienzvermutung bekannte These,
dass Wettbewerbsmaerkte immer effizient sind, und ihr Gegenueber, dass
staatliches Handeln der optimalen Allokation abtraeglich ist, im
Neoliberalismus zum Leugnen der Notwendigkeit staatlicher Interventionen,
waehrend Adam Smith etwa die Reglementierung der Marktwirtschaft als
notwendig erachtete. In der Praxis hat die Ablehnung staatlicher Eingriffe
und oeffentlicher Einrichtungen zur Etablierung von drei Vorgaben gefuehrt,
an denen sich nun die Politik von internationalen Organisationen (IMF, WTO
etc.) und nationalen Regierungen orientiert: Prioritaet fuer monetaere
Stabilitaet, Deregulierung und Privatisierung. Diese Politik, die auch, wie
Matzner unterstrich, von sozialdemokratischen Parteien unter dem Slogan
"Dritter Weg" forciert wurde, wird als "Washington-Consensus" bezeichnet und
stuetzt sich theoretisch auf unrealistische Annahmen. Voellig
wirklichkeitsfern sind etwa die neoliberalen Praemissen, dass es keine
Unsicherheiten betreffend der Zukunft gibt, dass es keine negativen
Externalitaeten gibt und dass kein/e Marktteilnehmer/in mehr Einfluss als
ein/e andere/r hat. Nachgewiesene externe Effekte oder auch so simple
Tatsachen, wie dass Machtunterschiede ein konstitutives Moment der
Marktwirtschaft sind, werden einfach ignoriert. Das Ziel, das mittels der
Deregulierungs- und Privatisierungsstrategie erreicht werden soll, besteht
seit dem Ende des 19. Jahrhunderts: es ist das deklarierte Ziel der USA nach
globaler Marktoeffnung zwecks Schaffung profitabler Anlagemoeglichkeiten.
Die Zerschlagung der kommunalen Daseinsvorsorge und der oeffentlichen
Systeme der sozialen Sicherung, deren Vorteile gegenueber privaten auf
Kapitaldeckung beruhenden Systemen evident sind, dient nur diesem Ziel, das,
wie Matzner hinzufuegte, bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion nicht
offensiv verfolgt werden konnte. Das staerkste Durchsetzungsinstrument, das
fuer die Realisierung dieses Vorhabens im Uebrigen zur Verfuegung steht,
sind die Auflagen bei der Kreditvergabe des IMF. Unterstuetzt wird das nach
Anlage suchende Kapital selbstredend auch durch die massive Propaganda der
Eliten. Von Blair angefangen bis zum Standard, sagte Matzner, alle loben sie
die amerikanische Oekonomie ueber den gruenen Klee, obwohl es wenig Gruende
gibt, sie als Massstab, als benchmark zu nehmen, denn alle vermeintlichen
Vorteile sind empirisch unhaltbar, wie z.B. der Mythos der hoeheren
Arbeitsmarktmobilitaet. Europa sollte die USA aber vor allem deshalb nicht
zum Vorbild nehmen, weil es einen wesentlichen Unterschied, der durch den
neoliberalen Vormarsch bedroht ist, zu verteidigen gilt: ein in der USA
nicht bekanntes Konzept der Oeffentlichkeit, das oeffentliche Aufgaben und
soziale Verpflichtungen fuer das Eigentum kennt. Warum der
Privatisierungsfeldzug, die Aufgabe der oeffentlichen Aufgaben trotz der
grossen Wohlfahrtsverluste, des hohen Blutzolls (O-Ton Matzner) in Europa
keinen nennenswerten Widerstand ausloeste, erklaerte der Vortragende damit,
dass es Ineffizienzen, Strukturmaengel und nicht selten auch Privilegien im
oeffentlichen Sektor gab. Andererseits raeumte er ein, dass ein Fehlen all
dieser Schwachstellen ein zusaetzlicher Anreiz fuer private InvestorInnen
gewesen waere.

Vor diesem Hintergrund konstatierte Matzner, dass eine progressive Politik
zwei Herausforderungen in Angriff nehmen muss. Erstens ist eine zeitgemaesse
Agenda oeffentlicher Aufgaben zu erstellen; eine solche Agenda ist jedoch
alles andere als ein radikales Projekt, wie Matzner anmerkte, denn eine
solche Agenda wurde bereits von den Klassikern gefordert. Zweitens ist fuer
eine zeitgemaesse Form der Aufgabenerfuellung zu sorgen. Dabei sprach er
sich fuer das Modell eines strategischen Staates aus, der nicht jede Aufgabe
etatistisch selbst erfuellen, aber koordinierende und kontrollierende
Instanz bleiben soll. Ein Wiederaufbau der staatlichen Strukturen der
fruehen 70er Jahre wuerde nur mit dem entstandenen Massenindividualismus in
Konflikt geraten, daher ist es angebracht, Raum fuer zivilgesellschaftliche
Initiativen zu lassen.

An seine Analyse knuepfte Matzner ein Plaedoyer fuer einen Kampf gegen die
Privatisierungswelle und gegen die Globalisierung amerikanischer Praegung.
Matzner woertlich: "Der Kampf um die Agenda der staatlichen Aufgaben sollte
im Zentrum der Politik der Arbeitnehmer- und Konsumentenorganisationen
stehen. Wenn sie diesen Kampf nicht fuehren, machen sie sich ueberfluessig."
Die demokratische Linke hat bislang diesen Kampf nicht offensiv genug
gefuehrt.

Handfeste Gefahren und ueberfluessige Parteien

Nach dieser ausfuehrlichen Zusammenfassung moechte ich nun ein knappes,
persoenliches, nicht zwingend aus den Ueberlegungen von Matzner ableitbares
Resuemee - mit Blick auf die bevorstehende Wahl - ziehen: Der neoliberale
Privatisierungswahn hat katastrophale Folgen. Mit den bevorstehenden
Beschluessen im Rahmen der GATS-Verhandlungen sind weitere handfeste
Gefahren fuer die ueberwiegende Mehrheit der Bevoelkerung verbunden. So ist
es naheliegend, dass jene kollektiven Interessenvertretungen, die sich nicht
konsequent fuer ein Privatisierungsstopp, fuer die Bewahrung, den Ausbau und
die Verbesserung eines modernen oeffentlichen Sektors einsetzten, in Gefahr
sind, sich selbst ueberfluessig zu machen. Und weil die KPOe als einzige
wahlwerbende Gruppierung genau diese Forderungen in den Mittelpunkt ihrer
Politik stellt, kann man ihr meinetwegen vieles uebelnehmen, aber sicher
nicht nachsagen, dass sie ueberfluessig ist, und dass eine Stimme fuer sie
eine verlorene Stimme ist. Und eine Partei, die nicht ueberfluessig ist,
sondern im Gegenteil eine wichtige Aufgabe hat, naemlich Stimme gegen
Privatisierung zu sein, hat mehr als 0,5% WaehlerInnenzuspruch verdient.
Nicht zu verkennen: das war ein Wahlaufruf. *Roman Gutsch*

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