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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 8. Oktober 2002; 02:56
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Geschichte:

> 100 Jahre Figl

In den buergerlichen Medien wird lieber der Leopold Figl der 2. Republik als
jener in der 1. Republik (bzw. im Austrofaschismus ) gewuerdigt.
"Erschreckende Ahnungslosigkeit" und "Schwarz-Weiss-Malerei" ueber "hier die
guten Sozialdemokraten und dort die boesen Christlichsozialen" wird jenen
unterstellt, die das Figl-Ritual dieser Tage nicht kritiklos ueber sich
ergehen lassen wollen. Bemerkenswert ist dabei, wie "objektiv" die
Moerderfreisprueche und 80 Toten von 1927, Parlamentsausschaltung, d.h.
Diktatur und Buergerkrieg "dokumentiert" werden. Figl habe in dieser Zeit
zwar wohl auch "einige Schuld" auf sich geladen, aber im Wesentlichen waere
die Schuld in der gegenseitigen Feindschaft der Parteien gelegen ...

Beachtliches Demokratie(un)bewusstsein kommt in der Figl-Jubilarwelle zum
Ausdruck, die aggressive, autoritaere Politik der Christlichsozialen derart
zu verniedlichen und zu entschuldigen, nachdem diese nach dem 15. Juli 1927
(und der hier erfahrenen sozialdemokratischen Mutlosigkeit) um so forscher
an die Ausschaltung der Parlamentsdemokratie gegangen sind. "Boese" war da
in der Tat auch die Sozialdemokratie in dem Sinne, dass sie sich wieder
kampflos das Parlament wegnehmen liess. Worauf die Christlichsozialen
nochmals bestaerkt daran gingen, den Schutzbund zu entwaffnen. Das ist die
ganze Tragik der (klein-)buergerlichen Dollfuss & Figls Sturmscharen
gewesen, dass ihr Hass gegen links noch groesser war als ihre Angst vor den
Nazis! Und uebrigens, den Buergerkrieg begannen weder Sozialdemokratie noch
Schutzbundfuehrung (die weiter lavierten), sondern die Bernaschek, Koloman
Wallisch u.a., die schon ganz verzweifelt (richtigerweise) nur mehr im
bewaffneten Kampf die Moeglichkeit sahen, austrofaschistische und
Nazidiktatur zu verhindern. Die Sozialdemokratie vermochte sozusagen durch
ihre Feigheit die Nazidiktatur nicht aufzuhalten, die Christlichsozialen und
Heimwehren schossen hingegen den Nazis richtiggehend den Weg frei!

Die patriotischen Medien hierzulande huldigen allerdings Figl lieber fuer
dessen staatstragende und staatsrettende Rolle in der 2. Republik, zu der
er -- gelaeutert durch seinen KZ-Aufenthalt -- nach 1945 gekommen sei. Mir
geht es um die Darstellung eines umfassenden Bildes der historischen Rolle
der oesterreichischen Politikergenerationen von der 1. zur 2. Republik. Und
dazu ist selbstverstaendlich auch zu sagen, dass die Figl, Schaerf & Kreisky
bis 1955 (im Gegensatz etwa zu Adenauers Christdemokraten in Deutschland)
politisch in der Lage waren, Oesterreich als "neutral" zu erklaeren und aus
der NATO heraus zu halten. Das war damals bekanntlich sowjetische
Grundbedingung auch fuer ein vereintes Deutschland, was Adenauer und die USA
strikte ablehnten. Fuer Oesterreich gab es jedoch in dieser kurzen
Unterbrechung des Kalten Kriegs 1954/55 (nach dem Ende des Koreakkrieges)
vor allem auch von amerikanischer Seite diese Chance eines unabhaengigen
Oesterreich, was die OeVP-SPOe-Fuehrung nuetzte.

Was die grosse "Freundschaft" von Schwarz-Rot (nach gemeinsamen Erfahrungen
in den Nazi-KZ) jedoch nach 1945 schuf, stellt in grossen Facetten dieser 2.
Republik wahrlich kein menschenrechtliches Ruhmesblatt dar. Solches
vergessen die staatstragenden Kraefte natuerlich jedes Mal am
Nationalfeiertag, muss aber wohl auch in dieser Debatte um Leopold Figl in
Erinnerung gerufen werden. Mensch muss sich allem voran einmal die ganze
Dimension dieser Nachkriegssituation geben, nachdem die buergerliche
Politikergeneration der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts -- die einen
mehr die anderen weniger aktiv -- dieses Europa und die Welt in Faschismus
und zwei Weltkriege gefuehrt hatte! 1945 traten sie -- teilweise
personenident -- erneut an, bauten erneut ihren buergerlichen Staat auf, in
dem, wie auch in Oesterreich, alsbald wieder Nazis bis in Regierungsaemter
aufstiegen und juedische Vertriebene ausgeschlossen und enteignet blieben.
Wiedergutmachungen kamen 60-70 Jahre spaeter zu Stande -- zu spaet! Kurz,
Konservative und Sozialdemokratie bauten den oesterreichischen Kapitalismus
wieder auf, der heute voll im Krisenzyklus seiner Wirtschaft mit
Massenerwerbslosigkeit, Rassismus und Umverteilung von unten nach oben
haengt. Dieses(!) Oesterreich hat Figl mit aufgebaut, wo ich natuerlich
dankbar bin, dass ich beim Flugblattverteilen nicht gleich erschossen werde
(indes noch allemal in die Rasterfahndung gelangen kann) und so nicht viel
Eifer verspuere, dem Jubilar zu huldigen. *Karl Fischbacher*


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