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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 17. September 2002; 14:43
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Buecher:

> Der geniale Dilettant

Paul Lafargue: "Essays zur Geschichte, Kultur und Politik", herausgegeben
von Fritz Keller, Karl Dietz Verlag Berlin 2002

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Was faellt Dir zu Paul Lafargue (1842-1911) ein? Nichts, beziehungsweise
nicht viel? Da befindest Du Dich in grosser Gesellschaft.

Waehrend ueber seinen Schwiegervater Karl Marx fast jeder etwas wuesste, ist
Lafargue mittlerweile weitgehend unbekannt. Dabei pries ihn noch Lenin als
einen der begabtesten und gruendlichsten von den Vertretern des Kommunismus;
andere wollten ihm eine wuerdige Stelle in der zweiten Reihe des Marxismus
zuweisen. Dort sucht man ihn jedoch vergeblich.

Fritz Keller kommt der verdienstvolle Versuch zu, Lafargue wieder in
Erinnerung zu bringen. Keller gab 1995 einen Sammelband mit
geschlechterpolitischen Schriften Lafargues heraus und verfasste eine
umfangreiche Biographie; 1992 publizierte er Lafargues "Die Religion des
Kapitals". Jetzt erschien im Dietz Verlag Berlin ein Band, der Essays zur
Geschichte, Kultur und Politik vereint. Zur Vervollstaendigung dieser
Werkausgabe waeren noch zwei Baende mit Schriften Lafargues zur
Geschichtstheorie/Philosophie und Oekonomie vonnoeten. Diese Aufzaehlung
deutet schon an, dass Lafargue ein Mensch mit einem weiten Horizont war.

Von der Ausbildung her eigentlich Mediziner, verschlaegt es ihn durch seine
politischen Aktivitaeten von Paris nach London. Dort lernt er Marx kennen,
vor allem aber interessiert ihn dessen Tochter Laura. Diese beiden Menschen
werden seinen Lebensweg praegen: Laura wird seine Frau; dem kommunistischen
Ideal im Marxschen Sinn ist Lafargue lebenslang aktiv verbunden. Er gruendet
die franzoesische Arbeiterpartei mit, agitiert fuer den Kommunismus, sitzt
deswegen zwei Gefaengnisstrafen ab, ist Abgeordneter im Parlament ... Neben
dieser aktiven politischen "Alltagsarbeit" ist das Ehepaar Lafargue staendig
auch journalistisch taetig. Sie schreiben Artikel fuer verschiedene
europaeische Zeitungen, Laura uebersetzt ausserdem.

Eine spezielle Themenstellung bei Paul Lafargue ist nicht zu erkennen: Er
schreibt ueber das, was ihn interessiert, und das ist fast alles. Den
historischen Materialismus versteht er dabei als Methode, sich dem
Sachverhalt zu naehern. Mit dieser methodischen Herangehensweise versucht er
sich in allen Wissensgebieten, verfaehrt dabei aber oft stark vereinfachend.
Seine Gegner titulieren ihn gern als "genialen Dilettanten".

In diesem Spannungsfeld von umfassendem enzyklopaedischem Anspruch und
einfacher Erklaerungsweise bewegt sich auch der neu vorgelegte Sammelband,
der Literaturkritik, sprachwissenschaftliche Arbeiten, Satiren,
religionssoziologsiche Schriften u.a. vereint. Erstaunlicherweise schreibt
Lafargue schon vor 130 Jahren geschlechterdifferenziert. Er spricht
ausdruecklich von Arbeiterinnen und Arbeitern und betrachtet in seinen
Abhandlungen genau die Rolle der Frau. Dieser Band zeigt einmal mehr, wie
wunderbar Lafargue die Satire beherrscht. Seine bekannteste Schrift ist
nicht umsonst "Das Recht auf Faulheit". Im neuen Buch befinden sich zwei
weitere satirische Werke - "Ein verkaufter Appetit" und "Herr Geier". Im
ersteren steht ein armer Schlucker hungrig vor den Auslagen eines
Delikatessengeschaeftes. Ihm wird ein unwiderstehliches Angebot gemacht. Ein
dicker reicher Mann, dessen einzige Sorge es ist, nicht noch mehr essen zu
koenne, kauft ihm seine Verdauung ab. Der Reiche gibt sich nun hemmungslos
seinen Fressorgien hin; der Arme ist anfangs gluecklich, denn er hat nie
mehr Hunger. Die staendige Ueberforderung seines Magens durch riesige
Mengen, die er zu verdauen hat, schwaechen ihn jedoch und treiben ihn zur
Verzweiflung. Ein satirisches Maerchen mit wunderbaren Beschreibungen und
voller absurder Einfaelle.

Auch die Erzaehlung "Herr Geier" lebt von einer einfachen, aber
wirkungsvollen Grundidee. Alle Haubesitzer und Vermieter gemeinsam ergeben
Herrn Geier - und dieser Geier wird von Lafargue detailliert portraetiert.
Wenn Heinrich Zille sagt, dass man einen Menschen mit einer Wohnung
erschlagen kann, wie mit eine Axt, dann zeigt Lafargue, wer da mit der Axt
ausholt. Und er zeigt, wieviel Profit, Berechnung und Skrupellosigkeit im
Spiel sind.

Besonders zu erwaehnen sind die literaturkritischen Schriften, die
faktenreich und ausfuehrlich Werke von George Sand, Victor Hugo und Zola
behandeln. Auch hier zeigt sich der materialistische Zugang zu der Welt der
Schriftsteller: Lafargue sieht sie als soziale Wesen, die ihrer Stellung in
der Gesellschaft entsprechend schreiben und in ihrer Kunst den Charakter
ihrer Klasse darstellen.

Mit dem Entwurf eines "Sonnenstaates" durch Campanella, einem
dominikanischen Moench des 16.Jahrhunderts, beschaeftigt sich Lafargue in
einer Studie ausgiebig. Lafargue feiert ihn als Vorlaeufer des Kommunismus,
denn im Sonnenstaat soll es nur gemeinschaftliches Eigentum geben, alle
leben gemeinsam in grossen Schlaf- und Speisesaelen und die Kinder werden
ihren Neigungen entsprechend ausgebildet ...

Allerdings ist dieser Sonnenstaat auch ungemein wehrhaft - er ist als
Festung erbaut und diese besteht aus einem gemauerten Ringsystem, das schon
in der blossen Vorstellung bei freiheitsliebenden Menschen Klaustrophobie
erzeugen muss. Privates gibt es im Sonnenstaat nicht; nicht nur das
Privateigentum ist abgeschafft, sondern auch die private Beziehung. Die
Entstehung von Kindern wird nicht den unberechenbaren, moeglicherweise auch
noch von Gefuehlen getriebenen Einzelnen ueberlassen, sondern staatlich
unter Zuchtkriterien organisiert. Die Familienstrukturen sind aufgeloest.
Die Bewohner des Sonnenstaates empfinden nicht "die Leidenschaft der Liebe,
die durch Freundschaft ersetzt wird". (S. 291) "Die schoensten Frauen werden
zur Fortpflanzung ausgesucht und die zeugenden Paare werden nach
philosophischen Grundsaetzen ausgewaehlt." (S. 291) Lafargue befuerchtet,
dass diese sexuellen Braeuche als Gipfel der Unsittlichkeit erscheinen
koennten, dabei sind sie wohl eher ein Gipfel der Armseligkeit. Lafargue,
sonst immer fuer ueberraschende und unkonventionelle Kritik gut, laesst
Campanella erstaunlich ungeschoren; er fuehlt sich bemuessigt, sogar dessen
Ungeheuerlichkeiten zu entschuldigen, da es um die kommunistische Sache
gehe. Trotz der starren und autoritaeren Ausgestaltung des Sonnenstaates
meint Lafargue: "Die Utopie Campanellas ist eine der kuehnsten,
umfassendsten und schoensten Utopien, die je geschrieben worden ist." (S.
281) Dieser Text zeigt, dass Lafargue ein Staatskonzept, in dem dem
Individuum zutiefst misstraut und Verantwortung an Autoritaeten delegiert
wurde, durchaus als vereinbar mit kommunistischen Zielsetzungen ansah.

Die thematische Spannweite der Arbeiten Lafargues wird in diesem Band einmal
mehr verdeutlicht; sein Stil reicht von aggressiver Polemik unter dem Motto
"Warum sachlich, wenn es auch persoenlich geht" bis hin zu detaillierter
fundierter Kritik. Ausserdem macht es Spass die Texte zu lesen, anregend und
erfrischend fuer das Denken sind sie sowieso und aufschluss-reich obendrein.
*Stefanie Holuba*


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