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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 28. Mai 2002; 16:21
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"Gesundheit"/Glosse:

> Gesucht: Schizophrenie-Risikopersonen

Biomedizinische Grossforschungsprojekte sollen Traeger von
"riskanten Genen" identifizieren

Das deutsche Bundesministerium fuer Bildung und Forschung (BMBF)
foerdert seit 1999 mit jeweils bis zu 5 Mio. DM pro Jahr zwoelf
Grossforschungsprojekte, die sich mit speziellen Krankheiten mit
einer hohen Morbiditaet oder Mortalitaet beschaeftigen. Diese
sogenannten "Kompetenz-Netze in der Medizin" (beispielsweise das
"Kompetenznetz Schizophrenie") verbinden die wesentlichen
Einrichtungen der Spitzenforschung (horizontale Vernetzung) mit
qualifizierten Einrichtungen der Routineversorgung (vertikale
Vernetzung). Auf diese Weise sollen neue Kooperationsstrukturen
geschaffen werden, die den Wissens-transfer zwischen
Grundlagenforschung, angewandter Forschung und medizinischer
Versorgung beschleunigen. Das Ziel der Kompetenz-Netze besteht im
Aufbau ueberregionaler medizinischer Netze zur "Initiierung und
Evaluation von aus Forschungs- und Versorgungskompetenz
zusammengesetzten Projektverbuenden zur Bearbeitung von
Fragestellungen aus der Versorgungspraxis an repraesentativen
Patientenkollektiven" (1).

[Anm.d.Red.: Dieser Text wurde von uns sehr stark gekuerzt, daher
hier eine Zusammenfassung des im Original nachfolgenden: Der
Autor beschreibt die Netzwerkpartner - universitaere und
ausseruniversitaere Forschungsinstitute und
Versorgungseinrichtungen, Universitaetskliniken,
Fachkrankenhaeuser und Praxenverbuende, Forschungsabteilungen der
pharmazeutischen Industrie sowie Patienten- und
Angehoerigenorganisationen. Forschungsverbuende zur Untersuchung
der Fruehsymptome und der Krankheitsmanifestationen werden
ergaenzt durch einen Projektverbund Molekulargenetik und
Projekten zur Gesundheitsoekonomie etc. Aehnlich wie das
Kompetenznetz Schizophrenie arbeiten andere Netzwerke fuer
Rheuma, Hepatitis, Depression, Parkinson, etc. Wir geben den Teil
des Artikels ausfuehrlich wieder, der sich mit der in diesen
Grossforschungsprojekten herrschenden Praeventionslogik
beschaeftigt. Es wird gezeigt, dass der Rekurs auf genetische
Risiken eine entscheidende Rolle spielt.]

*

Die zentrale Bedeutung des speziellen Projektverbundes Molekular-
und Pharmokogenetik ergibt sich aus der Ausgangsannahme, die den
Forschungsaktivitaeten des Netzwerks zugrunde liegt:
"Schizophrene Psychosen sind zu mindestens 50% genetisch bedingt,
wobei nicht ein einzelnes kausales, sondern wahrscheinlich
mehrere - derzeit nur teilweise bekannte - Gene in Interaktion
mit Umweltfaktoren eine Rolle spielen".Von der genauen
Identifizierung und Lokalisierung dieser sog.
"Suszeptibilitaetsgene" sowie ihrer Interaktionsmechanismen mit
der Umwelt verspricht sich die Netzwerkorganisation die
"Identifikation genetischer Determinanten fuer die Praediktion
des Risikos, spaeter an Schizophrenie zu erkranken (bei
Risikopersonen)". Gleichzeitig sollen auf diese Weise auch die
Aussichten eines Therapieerfolgs bzw. die Moeglichkeit der
Therapieresistenz praeziser eingeschaetzt und den Nebenwirkungen
von Medikamenten besser Rechnung getragen werden. Zur
Untersuchung dieser "Bedingungskonstellationen" von Genen und
Umweltfaktoren werden "Ressourcenzentren fuer DNA und Zelllinien"
aufgebaut und fuer molekulargenetische und pharmakogenetische
Forschungsprojekte innerhalb (und ausserhalb) des Netzwerks,
Zelllinien von Patienten angelegt werden, die an den Therapie-
und Verlaufsstudien des Kompetenznetzwerks teilnehmen.

Dieses Forschungsdesign impliziert zwei wichtige Veraenderungen
hinsichtlich der anvisierten Praeventionsstrategien. Erstens
kontrastiert das Praeventionskonzept, das in dem Antrag des
Netzwerks Schizophrenie skizziert ist, deutlich mit "klassischen
Ansaetzen" wie sie etwa von Foucault in "Ueberwachen und Strafen"
geschildert werden. Foucaults These ist bekanntlich, dass die
Veraenderung der Strafsysteme im 19. Jahrhundert darin bestand,
dass die Richter nicht mehr ueber das Verbrechen, sondern ueber
die Person des Verbrecher und seine "Seele" zu Gericht sassen.
Wichtig war nicht die Feststellung der Wahrheit des Verbrechens
und die Zuordnung des Taeters, sondern die Antwort auf die Frage:
"Wer ist dieser Mensch, der das Verbrechen begangen hat, in
Wirklichkeit? Es ging um das Problem: Wie kann man den
Kausalprozess, der zur Tat gefuehrt hat, einordnen? Wo ist sein
Ursprung im Taeter selbst? Instinkt, Unbewusstes, Milieu,
Erbanlage?'". Ein "wissenschaftlich-juristischer Komplex" (ebd.)
wurde mobilisiert, um den Urheber der Tat in dem Subjekt, aber
gleichsam hinter dem Subjekt ausfindig zu machen.

Legt man dieses Praeventionskonzept zugrunde, gibt es im Antrag
des Kompetenznetzwerks Schizophrenie keine Schizophrenen mehr.
Das heisst, es gibt sie noch, aber sie haben ihre Natur
geaendert. Die hier kurz skizzierte Praeventionslogik zielt nicht
darauf, die wahre Natur der Kranken oder den Wesenskern der
Subjekte zu isolieren und zu identifizieren. Dies ist ein
Unterfangen, das offenbar nicht nur unmoeglich, sondern auch
unnoetig ist. Die Wahrheit ist: Es gibt keine innere Wahrheit des
Subjekts hinter den Erscheinungen mehr. Es existieren jedoch
Indikatoren und Faktoren, "Suszeptibilitaetsgene" und
Risikopersonen, ja sogar - um die Virtualisierung auf die Spitze
zu treiben -: "moegliche Risikopersonen". Die klassischen
Praeventionsstrategien bauten auf dem Wissen um die "Wahrheit"
des Subjekts auf: Dem Verbrechersubjekt ging sein Schatten
voraus, mochte dieser Schatten in einer schlechten Kindheit oder
in schlechten Genen bestanden haben. In dem oben skizzierten
Praeventionsparadigma gibt es nur noch Schatten - ohne ein
Subjekt dahinter. Das Subjekt ist ein Schatten seiner selbst: ein
Faktorenbuendel und ein Risikokomplex in einem Schattenreich.

Das operative Vorgehen des Kompetenznetzwerks erinnert weniger an
polizeiliche Aufgaben der konkreten Gefahrenabwehr und
Taeterfeststellung als an die verdeckte Praxis von
Geheimdiensten: Die Genomanalyse funktioniert hier als ein
technisch-informationelles Wissen, das es ermoeglicht, "dunkle"
Codes zu dechiffrieren und "unbekannte" Genorte zu lokalisieren.
Im Rahmen dieser Forschung ist prinzipiell jeder verdaechtig,
Traeger von "riskanten" Genen zu sein. Wir sind alle asymptomale
Kranke oder - um noch einmal das Geheimdienstvokabular zu
bemuehen -: "Schlaefer". Scheinbar gesund verbergen wir eine
Vielzahl von Risiken, ja mehr noch: Wir sind diese Risiken.
Schizophrenie oder Depression liegen weder in unserer Natur oder
in unseren Genen noch sind sie in der Erziehung oder dem sozialen
Umfeld begruendet, sondern sie manifestieren sich je nach Kontext
und Konstellation - eine Manifestation, die nicht mehr auf ein
dahinter und zugrundeliegendes Wesen verweist. Wir werden nicht
von einem unklaren Innen-Leben gesteuert, das man aufdecken,
therapieren oder resozialisieren koennte, sondern wir sind reine
Aeusserlichkeit. Ueberspitzt formuliert: Wir haben keine
Symptome, die Symptome haben uns.

*

Damit komme ich zum zweiten Punkt. Der verstaerkte Rueckgriff auf
Risikokalkuele in der biomedizinischen Forschung impliziert eine
Veraenderung im Konzept der genetischen Norm. Statt von einem
menschlichen "Standardgenom" wird im Kompetenznetz Schizophrenie
von individuell variablen genetischen Profilen ausgegangen, die
fuer jeweils unterschiedliche Wirkungen von Medikamenten oder die
Entwicklung des Krankheitsverlaufs verantwortlich sind. Allgemein
ist in der biomedizinischen Forschung eine Bewegung zu
beobachten, die von der Annahme der genetischen Homogenitaet der
Bevoelkerung zur Heterogenitaet, von Einheitlichkeit zu
Variabilitaet fuehrt. Damit veraendert sich auch die Bedeutung
von "normal" und "pathologisch". Eine bestimmte genetische
Abweichung kann etwa Krankheitsrisiken herabsetzen oder
Empfindlichkeiten verringern, sie ist nicht per se pathologisch.

Mit dieser "flexiblen" Repraesentation von Normalitaet
verschieben sich die Formen der moeglicher Intervention. Das
Interesse fuer Unterschiede und Variationen duerfte einerseits
dazu fuehren, dass eine rigide, disziplinaere Norm zunehmend
verblasst, die jede Abweichung problematisierte oder
pathologisierte. Andererseits wird uns vermutlich in Kuerze noch
nachdruecklicher wissenschaftlich bewiesen werden, dass
Ungleichheiten die natuerlichste Sache der Welt seien. Zwar
koennte es durch Forschungserfolge im Bereich der Pharmokogenomik
und aehnlicher Richtungen der Genomforschung, die auf eine
personalisierte oder massgeschneiderte Medizin abzielen, zu einer
Verringerung von Allergien oder einer hoeheren Vertraeglichkeit
von Medikamenten kommen. Erwartbar ist jedoch auch eine
Akzentverschiebung, welche bei der Suche nach den Ursachen fuer
unerwuenschte Neben- oder Wechselwirkungen nicht mehr bei
Medikamenten oder sozialen Problemen ansetzt, sondern bei den
genetisch definierten "Empfindlichkeiten" der Individuen: Hatte
man bisher das schaedigende oder unwirksame Medikament
verantwortlich gemacht, so in Zukunft vielleicht die "unpassende"
genetische Ausstattung der Kranken. *Thomas Lemke via
nadir-aktuell-red@nadir.org via MUND (stark gekuerzt)*

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1 Alle Zitate sind - falls nicht anders vermerkt - der
Selbstdarstellung des Netzwerks "Schizophrenie" entnommen (
http://www.kompetenznetz-schizophrenie.de ). Ausserdem wurde eine
vom Netzwerk erstellte Broschuere mit dem Titel "Ein Netz fuer
den Menschen" herangezogen, die unter der angegebenen
Internetadresse zum Herunterladen bereitsteht
 
 

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