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Aussendungszeitpunkt: 17. Januar 2001 - 6:05
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Tuerkei/Linke:

> Die Sache mit der Solidaritaet

Nach den Angriffen der tuerkischen Truppen auf Gefaengnisse mit
hungerstreikenden Gefangenen hat sich die Lage zwar militaerisch
etwas beruhigt, die Kaempfe und auch Hungerstreiks gegen die
Einzelhaftzellen gehen nach verschiedenen Berichten aber immer
noch weiter. Von Anarchist Black Cross Innsbruck allerdings
erhielten wir einen Text eines namentlich ungenannten Anarchisten,
der sich kritisch mit dem Verhalten der orthodox-sozialistischen
Gruppen in den Gefaengnissen auseinandersetzt. Wir drucken ihn
nicht deswegen nach, weil wir den tuerkischen Widerstand
diskreditieren wollen oder weil wir uns mit diesem Text
vollinhaltlich identifizieren, sondern lediglich darum, weil er
eine etwas andere Sichtweise als die ueblichen darstellt. Aus
Gruenden der Verstaendlichkeit wurde er von uns ein wenig gekuerzt
und bearbeitet. *akin*

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Nach der blutigen Intervention des tuerkischen Staates gegen die
im Hungerstreik und Todesfasten befindlichen sozialistischen
Gefangenen ist das Problem der anarchistischen Gefangenen in
tuerkischen Gefaengnissen jetzt in der Aufmerksamkeit der
anarchistischen Kreise gerueckt, und ein Brief eines tuerkischen
anarchistischen Gefangenen wurde in den international verbreiteten
"A-Infos" veroeffentlicht [Anm. d. akin-Redaktion: Bei Interesse
kann dieser Brief auch von uns weitergegeben werden]. Zunaechst
einmal moechte ich allgemeine Informationen ueber die
Hungerstreikenden und das F-Gefaengnis-Projekt geben.

DER HUNGERSTREIK UND DAS F-GEFAeNGNIS-PROJEKT

Hungerstreik und Todesfasten werden angefuehrt von der DHKP-C und
der TKP/ ML-TIKKO. Die DHKP-C (Revolutionaere
Volksbefreiungsparteifront; fruehere Revolutionaere Linke) ist
eine Art stalinistische Organisation und arbeitet hin auf eine
"oeffentliche Revolution" unter der Fuehrung einer
Avantgardepartei (fuer sie natuerlich ihre eigene Partei). Sie
organisieren hauptsaechlich in einigen besetzten Haeusern in
Istanbul und einigen laendlichen Gebieten in Anatolien, wo
Aleviten leben. Die TKP/ML-TIKKO (Tuerkische Kommunistische Partei
- Marxisten-Leninisten - Tuerkische Arbeiter-Bauern-
Befreiungsarmee) ist eine maoistische Organisation; hauptsaechlich
aktiv in Dersim (Tunceli) und in einigen besetzten Haeusern. Sie
wird von den meisten linken Parteien unterstuetzt.

Die Hungerstreikaktionen zielen hauptsaechlich darauf ab, das F-
Gefaengnis-Projekt zu stoppen, das vor allem fuer sozialistische
Gefangene von "illegalen" Gruppen und Parteien geplant wurde. Die
tuerkische Regierung will damit die Befriedung durch Vereinzelung
erreichen, dem Gefangenen sollen sozialen Beziehungen unmoeglich
sein und auf diese Weise sollen auch Aufstaende verhindert werden.
Aber vor einigen Wochen fuehrte der tuerkische Staat eine
gewaltsame Aktion durch und steckte die meisten der politischen
Gefangenen in solche F-Gefaengnisse, obwohl angekuendigt worden
war, dasz dieses Projekt verschoben wurde! Es kostete 32 Tote (30
Gefangenen und 2 Waerter); einige der Gefangenen starben, weil sie
sich als Protest gegen die Operation selbst verbrannten, einige
wurden bei der Operation getoetet (andere gefoltert und verletzt),
nach Informationen seitens der Gefangenen wurde sogar ein Waerter
von anderen Waertern getoetet. Der Widerstand geht nun in den F-
Gefaengnissen weiter.

ANARCHISTEN UND ANARCHISTISCHE GEFANGENE

Tuerkische Anarchisten kaempfen ebenfalls von Anfang an (seit dem
Sommer 2000) gegen die F-Gefaengnisse. In Ankara beteiligen sich
Anarchisten die Proteste gegen die F-Gefaengnisse und verteilen an
verschiedenen Orten Flugblaetter, kaempfen bei Demonstrationen
gegen die Polizei, fuehren symbolische Hungerstreiks durch. In
Istanbul gab die Anarchistische Plattform eine Erklaerung gegen
das F-Projekt heraus. Dies alles wird getan, um die
Hungerstreikenden zu unterstuetzen und das F-Projekt zu stoppen;
nicht weil die Anarchisten aehnliche Meinungen vertreten wie diese
(Sozialisten und kommunistische Marxisten), sondern weil das, was
der Staat unternimmt, MEHR Repression gegenueber den BuergerInnen
bedeutet, gegen jede Art von "Staatsfeinden".

Wie sieht es andererseits mit den anarchistischen Gefangenen aus?
Es gibt in tuerkischen Gefaengnissen einige Personen, die sich
selbst als Anarchisten bezeichnen, aber die meisten von ihnen sind
ehemalige Sozialisten (Marxisten), die wegen ihrer Beteiligung
(manche sind nicht einmal "Mitglieder") am Kampf "illegaler"
sozialistischer Gruppen im Gefaengnis sind. Die meisten von ihnen
haben im Gefaengnis ihre iedologischen Ansichten geaendert und
sich spaeter als "Anarchisten" definiert. Einige kommen von PKK,
MLKP, MLSPB, TIKKO, DHKP-C, Ala-Ryzgari etc. Sie hatten
unterschiedliche Gruende, ihre iedologischen Ansichten zu aendern;
die meisten von ihnen meinen, dasz ihre Gruppe (und deren
Ideologie) zu autoritaer oder sogar diktatorisch ist, einige (zwar
wenige, aber es kommt doch vor) moegen auch nur vorgeben,
Anarchisten zu sein, um sich von der Autoritaet ihrer Gruppen zu
befreien. Ich meine damit nicht, dasz dies keine Anarchisten sind,
sondern vielmehr, dasz wir sie nicht kannten, bevor sie ins
Gefaengnis kamen. Sie nehmen entweder Kontakt auf, indem sie an
anarchistische/libertaere Magazine schreiben oder durch Freunde im
Gefaengnis etc. Ihr groesztes Problem ist "Einsamkeit"; sie haben
keine Freunde oder Genossen, oder Gruppen, die sie "verteidigen"
und sich um sie kuemmern. Auszerdem sind sie nicht nur der
Repression durch den Staat (die Gefaengnisverwaltung) ausgesetzt,
sondern auch seitens der sozialistischen Gefangenen. Wie viele es
sind weisz ich wirklich nicht; aber derzeit gibt es cirka 11.000
politische Gefangene in tuerkischen Gefaengnissen (die meisten von
der PKK) und vielleicht definieren sich einige von ihnen als
Anarchisten, Antiautoritaere (oder Antimilitaristen). Ich erinnere
mich, dasz wir 1997 eine Liste von 13-14 Gefangenen in
verschiedenen Gefaengnissen hatten (vielleicht 2-3 jeweils
zusammen). Ihre Einstellung zum Hungerstreik und Todesfasten?
Soweit ich weisz, beteiligt sich einer am Todesfasten, einige
nehmen vielleicht zur Unterstuetzung am Hungerstreik teil.

Sie sind der Repression (ihrer ehemaligen oder anderer)
sozialistischen Gruppen ausgesetzt. Die Gruende sind manchmal
grotesk, z.B. das Hoeren von Rockmusik, lange Haare, weil sie sich
ueber die Einstellung anderer Leute lustig gemacht haetten, aber
auch "Politisches" wie negativ ueber sozialistische Gruppen reden
etc. (das war in einem Brief eines anarchistischen Gefangenen vor
3-4 Jahren zu lesen). Sie werden von den Sozialisten bestraft (wie
z.B. das ihnen nicht erlaubt wird, ihr Bett zu verlassen etc.).
Wenn sie nicht gehorchen, sind sie sogar der Gewalt ausgesetzt;
ich habe gehoert, dasz mal zwei von ihnen zusammengeschlagen
wurden, und ein anderer wurde sogar getoetet. Es musz noch viele
solche Vorfaelle geben, von denen wir nicht erfahren.

Im September 1998 toetete die TIKKO im Gefaengnis Eskisehir Mehmet
Cakar und gab dafuer die Begruendung, er sei ein Spitzel. Er stand
in Kontakt mit einem Genossen (einem Anarchisten) von der
unabhaengigen Zeitschrift Arkabahce aus Ankara und er
unterstuetzte den antimilitaristischen Kampf, schickte
antimilitaristische Karikaturen etc. Aber wir kannten ihn nicht,
bevor er ins Gefaengnis kam; er hatte seiner Frau einen Monat vor
seinem Tod gesagt, er wisse, dasz sie ihn umbringen wuerden. Er
war im Gefaengnis, weil er der Repraesentant der "legalen"
Zeitschrift Partizan in Izmir war (TIKKO-Unterstuetzer). Zu der
Zeit gab es bei TIKKO eine "Saeuberung" (!) und innerhalb eines
Jahres wurden cirka 10-12 ehemalige Aktivisten getoetet, mit der
Begruendung, sie seien Spitzel oder Informanten.

SCHLUSSFOLGERUNG

Ich habe dies nicht geschrieben, um AnarchistInnen vom Kampf gegen
die F-Gefaengnisse abzuhalten, oder sie von der Solidaritaet mit
sozialistischen oder kommunistischen Gruppen abzuhalten. Es
betruebt mich und die anderen tuerkischen GenossInnen, dasz die
Probleme der anarchistischen Gefangenen nicht deutlicher,
allgemeiner und breiter bekannt werden, zu einer Zeit, in der der
Kampf gegen die F-Gefaengnisse im vollen Gang ist, zu einer Zeit,
zu der der Staat Dutzende von aufstaendischen Gefangenen toetet,
egal, fuer was sie einstehen. Dies darf den Kampf nicht spalten.
Solidaritaet ist nicht an Bedingungen geknuepft fuer alle, die
irgendwo mit welchen Methoden auch immer gegen die herrschende
politische und gesellschaftliche Ordnung kaempfen. Darum sollten
wir als AnarchistInnen den Kampf gegen die F-Gefaengnisse
unterstuetzen -- nicht, weil wir mit ihnen politisch kooperieren.
Ich nenne sie nicht GenossInnen, unterstuetze aber ihren Kampf aus
humanitaeren und antistaatlichen Gruenden.

Ich wuerde es auch vorziehen, ueber all dies in "ruhigeren" Zeiten
zu sprechen, aber die Tatsachen erscheinen manchmal zu
unvorhergesehenen Zeiten. ###
 

Uebersetzung: FdA Hamburg, e-mail:
i-afd_2@anarch.free.de; Kontakt zu Anarchist Black Cross
Innsbruck: LOM Postlagernd, 6024 Innsbruck, abcibk@ hushmail.com,
http://www.freespeech.org/entfesselt