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Aussendungszeitpunkt: 9. Januar 2001 - 15:19
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Widerstand:

> Tutte Bianches, Ya Basta und andere

Ueber neue Formen des Protests aus Italien und Umgebung

Spaetestens seit den Protesten in Prag anlaeszlich des
IWF/Weltbankgipfels sind die Bilder der Tutte Bianches, der weisz
gekleideten und gepolsterten AktivistInnen aus Italien, wie ein
Mythos um die ganze Welt gegangen. Hinter der Aktionsform verbirgt
sich eine Suche nach einem Befreiungsprozess aus den Zwaengen der
kapitalistischen Welt.

"Wir sind eine Armee von Traeumern, deshalb sind wir unbesiegbar"
schreiben die AktivistInnen auf ihren Transparenten und
Broschueren. Nach Prag sind fast 900 AktivistInnen aus Italien mit
einem Zug, dem Global Express, gekommen. Davon haben sich ca. 100
aktiv an der Aktion der Tutte Bianches beteiligt. Hinter ihnen,
eine grosse Menschenmenge zur Unterstuetzung, neben ihnen die
Medien der ganzen Welt und vor ihnen die Robocops des Staates mit
Panzern, Wasserwerfern, Schlagstoecken und Pfefferspray. Die
sogenannte Demokratie des IWFs und der Weltbank hinter Panzer und
Gitter.

Die Tutte Bianches sind gut ausgeruestet und benutzen dazu
hauptsaechlich billige Materialien und ihre Kreativitaet:
Matratzen, alte Reifen, Baustellenhelme, Rettungsjacken,
Armpolster aus Isomatten und Isolierband, Gasmasken, aber auch
Luftballons, Wasserpistolen oder selbstgemachte Schutzschilder
kann mensch in ihrem Repertoire finden. Wieso ? " Gegen eine Welt
in der das Geld alles regiert, bleiben uns nur noch unsere
Koerper, um gegen die Ungerechtigkeit zu rebellieren", meint Don
Vitaliano, ein Pfarrer, der auch unter den Tutte Bianches zu
finden ist. " Wir sind nicht bewaffnet, wir agieren als Menschen
und setzen unsere Person ins Spiel. Wir fuerchten uns vor der
Polizeigewalt, deshalb schuetzen wir uns."

Diese Aktionsform begann vor knapp einem Jahr in Italien und
ueberraschte alle durch ihren Erfolg. Im Januar 2000 gab es
bundesweite Mobilisierungen gegen Abschiebeknaeste in Italien.
Mehrere zehntausend Menschen sind dafuer auf die Strasze gegangen.
Die Demonstration gegen den Abschiebeknast Via Corelli war ein
besonderer Erfolg. Die Tutte Bianches hatten ihre Entschlossenheit
angekuendigt in den Abschiebeknast einzudringen und zu schliessen.
Die mehrere Tausend Tutte Bianches marschierten vorne und mussten
stundenlang Auseinandersetzungen mit der Polizei aushalten, bevor
diese dann aufgeben musste und die Leute ins Lager eindringen
konnten. Abends kuendigte der Innenminister die Schliessung von
Via Corelli an.

Die aufgeblasenen Reifen dienen dazu die Schlagstoecke der
Robocops rueckprallen zu lassen. "Ueber 150 Traenengaspatronen
haben wir bei dieser Aktion gezaehlt" grinst ein junger Aktivist.
Die rauchenden Traenengaspatronen werden in Kisten oder unter
Eimer geworfen, um sie zu neutralisieren. Es erinnert an eine
Beschreibung Ghandis des zivilen Ungehorsams: "Feuer mit Wasser
loeschen".

Seit dem sind Tutte Bianches auf vielen Mobilisierungen zu sehen:
Antifaschistische Demos, Mobilisierungen gegen den OECD Gipfel in
Bologna oder gegen die Eroeffnung der Gentechweltausstellung in
Genua bei der sie bis zum Eingang eingedrungen sind und die
Ausstellung zum Fiasko und nationalen Debatte gezwungen haben.

Zapatismus, Ya Basta und die Tutte Bianches

Tutte Bianches ist hauptsaechlich eine Aktionsform und ein
Selbstverstaendnis. In ihr erkennen sich verschiedene Menschen,
Gruppierungen und politische Stroemungen; und praegen somit die
Gestaltung der Form. Ya Basta ist ein Netzwerk von Gruppen, die
sich mit dem Aufstand der Zapatistas in mehreren Staedten Italiens
gebildet haben und eine der politischen Stroemungen die zur
Kristallisierung der Tutte Bianches beigetragen haben: "Die
Zapatistas haben einen wichtigen Beitrag geleistet, mit ihren
Ideen Politik zu machen, ohne um die Macht zu kaempfen. Wir
versuchen diese Botschaft zu uebersetzen und unsere eigene
Ausdrucksform zu finden."

Inspiriert wurden die AktivistInnen, als sie selbst bis in den
chiapanekischen Dschungel Suedmexikos anlaeszlich eines
interkontinentalen Encuentros gereist sind. "Am Anfang haben wir
vorhergehende Formen der Direkten Aktion diskutiert, der Sabotage,
der revolutionaeren Gewalt usw. Wir haben daraus geschlossen, dass
unter den aktuellen Bedingungen der Zivilgesellschaft der Gebrauch
unserer Koerper als Waffe die Kraefte derjenigen Menschen
freisetzen koennte, die zu den alten Formen und Schemen nicht
geantwortet haben. Es ist eine kreative Form die andere Seite in
ein Problem mit einzubeziehen. Mit gewaltfreien Mittel der
Direkten Aktion, bleibt die Sprache der Gewalt auf der Seite der
Polizei und des Staates. Klassische Demonstrationen beeindrucken
sie nicht mehr, jetzt sind wir als BuergerInnen ungehorsam, sie
schlagen zurueck, aber wir verteidigen uns. Das zieht die
Aufmerksamkeit der Menschen und gibt unserem Protest Echo".

Diese konfrontative Haltung macht Sinn: das tiefverwurzelte
(Selbst)bild des Staates als Institution, die die Interessen aller
vereint, ist im neoliberalen Zeitalter stark am broeckeln. Ein
offen in Erscheinung tretender Interessengegensatz zwischen
legitimen Beduerfnissen von BuergerInnen und staatlichen
Masznahmen ist eine gute Voraussetzung fuer emanzipative Prozesse,
weg von der Forderung an den Staat, sozial abfedernd zu agieren
oder oekonomisch steuernd zu intervenieren mit dem Anspruch, einen
Wohlstand fuer alle zu sichern. "Unser Beitrag ist eine radikale
Form der Konfrontation, die ueber die klassischen Formen der
Demonstration hinaus geht und die Moeglichkeit einer
Massenbeteiligung mit sichereren Methoden ermoeglicht. Junge Leute
sehen, dasz der Einsatz ihres vor der Polizei geschuetzten
Koerpers klare Wirkungen hat. Die Bewegung waechst. Wir sind nicht
eine politische Gruppe, es handelt sich um eine horizontale
Bewegung, in der jede Person auf ihre besondere Weise zur Debatte
und Organisation beitraegt. Alles ist untereinander verstrickt, es
gibt Leute allen Alters. Alte Modelle von Avantgarden und
Anfuehrer sind vorbei."

In einem Flugblatt schreiben sie: "Wir haben uns eine neue
Herausforderung gesetzt: aus dem Boden zu sprieszen, um uns auf
diese Weise in den Aufbau der Gesellschaft einzubringen, um die
Selbstverwaltung und Selbstorganisation zu foerdern, die in den
letzten Jahren aufgebaut wurde.

Wir wollen uns vom Widerstand in eine Offensive bewegen, hin in
die Arena der Traeume, der Rechte, der Freiheit, fuer die
Eroberung der Zukunft, die heute den neuen Generationen verweigert
wird".

Wie die Zapatistas erkennt Ya Basta, dass die Befreiungsprozesse
notwendigerweise kontinuierlich in Frage gestellt und neu
definiert werden muessen . "Wir gehen mit Fragen auf unseren
Lippen", sagen sie, " nicht mit Befreiungsstrategien, die als
absolute Wahrheit festgelegt werden. Diese Tabus, die die
Bewegungen der Vergangenheit charakterisiert haben, muessen hinter
uns gelassen werden".

Unsichtbare sichtbar machen

Die weiszen Overalls werden als Symbol der Unsichtbarkeit
getragen, als Idee der "nicht-Identitaet" (siehe "sans papiers").
Die Aktionsform hat eine stark symbolische Wirkung und
kommunikative Staerke. Fuer sie entspricht der Aufbau einer
Gesellschaft der Praxis einer sicheren Identitaet, aber mit
offenen Beziehungen. Sie versuchen viele anzusprechen und in den
Konflikt mit einzubeziehen, dazu wollen sie "Kommunikationsraeume
erobern".

Organisisiert sind die AktivistInnen zum groeszten Teil in ihren
"sozialen Zentren", besetzte und selbstverwaltete Haeuser oder
Gelaende, die in vielen Staedten zu finden sind. Wie schon
erwaehnt, findet mensch hier Leute, die sich zu Ya Basta zaehlen
oder nur zum sozialen Zentrum oder beides. Auf der Strasze sind
aber alle unter "Tutte Bianches" zu finden. Der wohl groeszte und
beeindruckendste Centro Soziale ist der Leoncavallo in Mailand,
der eine lange Widerstandsgeschichte hat. Das Gelaende ist enorm:
mehrere Raeume, Caf‚s, Buehnen, eine Kantine, ein Buchladen,
Buero- und Plenumsraeume, ein Konzertraum in dem Konzerte fuer
5000 Leute veranstaltet werden koennen und noch viel mehr. Alles
selbstverwaltet. Auffaellig ist, das mensch nicht nur junge Leute
sieht, sondern alle Generationen. Eine Kontinuitaet in der
Widerstandsgeschichte ist spuerbar. Eine aeltere Frau, die hier
als "la madre" vorgestellt wird, erzaehlt Geschichten: unter
anderem, wie sie in Argentinien war und die "madres de la plaza de
mayo "getroffen hat. Sie sagt, dasz ueber 1000 Gerichtsverfahren
gegen ca. 200 Leute aus dem Centro Soziale am laufen sind, dass
sich aber alle kollektiv den Ermittlungen entgegenstellen. "Wir
machen weiter", sagt sie mit einem strahlenden Laecheln, waehrend
sie die Kippenfilter von einer Veranstaltung wegfegt. Sie scheint
jede und jeden im Haus zu kennen. Die Centri Soziale sind alle
untereinander vernetzt und mobilisieren oft gemeinsam, wie z.B.
nach Prag. In jedem Centro Soziale bestehen kleine Bezugsgruppen,
die bestimmte Rollen in der Aktion der Tutte Biaches ueben und
sich Gedanken zur Schutzkleidung machen.

Gruene Zuege

Einer der Erfolge der Italienischen AktivistInnen ist es, mit
sogenannten "Gruenen Zuegen" zu Protesten reisen zu koennen.
Erkaempft haben sie sich dieses Recht durch Direkte Aktion. Die
Ueberlegung ist unkompliziert: "Wir wollen dort protestieren, wo
sich die Macht konzentriert und viele sich gemeinsam artikulieren
wollen. Wir sehen es als legitim an, dorthin mit oeffentlichem
Transport billig oder umsonst reisen zu duerfen." Die
AktivistInnen verhandeln mit der Bahn ueber einen Zug. Die Leute
die mitfahren, koennen nach Selbsteinschaetzung einen Beitrag
zahlen oder auch nicht, das Geld wird dann an die Bahn gegeben. In
anderen Laendern wie Frankreich und den Niederlanden hat die Idee
auch schon Fusz gefasst. Der Transport ist innerhalb Italien immer
erfolgreich, nach anderen europaeischen Staedten manchmal
problematisch wie zuletzt nach Nizza, wo der Global Express von
der franzoesischen Armee und den CRS angehalten wurde.

Perspektiven

Die Tutte Bianches sind gerade dabei, ihre Aktionsform auf
"internationalen Buehnen" wie Prag, Nizza (gescheitert) und Davos
vorzustellen. Sie gewinnen an Dynamik und Unterstuetzung. Die
Aktionsform greift auch schon auf andere Laender ueber. In Spanien
sind kurz nach Prag im Rahmen von den Antirepressionsaktionen
gegen den tschechischen Staat auch weisz gepanzerte Menschen auf
den Straszen von Madrid zu sehen gewesen. Englische Reclaim-the-
Streets-AktivistInnen haben schon ueberlegt, ganz durchsichtige
Ruestungen zu bauen, in denen nackte Frauen auf die Polizei
losgehen - um die Polizisten mit der Idee zu konfrontieren, eine
nackte Frau zu schlagen - und die Ruestungen mit kleinen
drahtlosen Kameras auszuruesten, die dann die Bilder aus ihrer
Sicht live ins internet einspeisen. Was auf jeden Fall deutlich
wird ist, dass die Aktionsform ausgebaut werden kann und dass mehr
Menschen sich sie aneignen koennen. Im Juni 2001 tagt der G7 in
Genua, und mit anderen Italienischen Gruppierungen haben sie auch
dort vor Praesenz zu zeigen. Offizielle Aufrufe gibt es bislang
noch nicht, aber viele europaeische AktivistInnen wissen schon
laengst Bescheid. "Wenn die ItalienerInnen sich gut anlegen,
koennen die das ganze Land blockieren", meinte ein Aktivist in
Prag. Ob das stimmt, werden wir ja sehen. Im Fruehjahr findet in
Mailand ein europaeisches Encuentro (Treffen) statt, zu dem Ya
Basta und Reclaim the Streets aufrufen. Dort sollen weitere
Schritte in der europaeischen Vernetzung und in der inhaltlichen
Auseinandersetzung diskutiert werden. *el desaparecido/via MUND/bearb.*

Quellen: Artikel von Jess Ramrez Cuevas in La Jornada (Mexiko)
"der Koerper als Waffe des Zivilen Ungehorsams"- Oktober 2000;
"Das Zeitalter der Klandestinitaet" - Gedanken und Aktionen von Ya
Basta vorgeschlagen.

Kontakt: Associazione Ya Basta! For peoples dignity and against
neoliberalism, CSOA Leonkavallo, Via Watteau 7, 20125 Milano,
Italien www.yabata.it oder www.ecn.org/yabasta.milano
 

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