**********************************************************
akin-Pressedienst.
Elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'.
Texte im akin-pd muessen aber nicht wortidentisch
mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten
sein.
Nachdruck von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe
erbeten.
Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen.
Ein Nachdruck von Texten mit anderem Copyright
als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus.
**********************************************************
Aussendungszeitpunkt: 28. November 2000 - 17:45
**********************************************************

Geschichte/Gegenwart:

> Verlorene Nachbarschaft

Die Synagoge in der Neudeggergasse

In der Neudeggergasse im achten Wiener Gemeindebezirk steht ein
karger Gemeindebau. In der "Nachkriegszeit" erbaut, mit
spaerlichen Mitteln, in Eile, ohne einen Blick nach links und
rechts, ohne einen Blick zurueck. An dem Gemeindebau ist eine
Tafel befestigt: "Hier stand eine um 1903 nach Plaenen des
Architekten Max Fleischer erbaute Synagoge. Zerstoert in der
,Reichskristallnacht' am 10. November 1938."

Eine Hand voll Bewohnern der Neudeggergasse wollte ein Zeichen des
Gedenkens wie des Respekts und der Erinnerung an die verlorene
Nachbarschaft setzen.

Die Synagoge in der Neudeggergasse musz ein imposanter Bau gewesen
sein. Zweimal so grosz wie die groeszeren Haeuser dieser kleinen,
beschaulichen Gasse.

Trotz des anfaenglichen Widerstandes der Wiener FPOe und des
anhaltenden Widerstandes der Bewohner des Gemeindebaus
Neudeggergasse 12, wurde die Synagoge in Form eines ueber die
Daecher hinweggreifenden Metallgeruests fuer den Zeitraum vom 1.
Oktober bis zum 9. November 1998 in Originalgroesze
wiedererrichtet.

An der der Strasze zugewadten Seite des Geruests war ein
Transparent befestigt, das die Fassade der ehemaligen Synagoge
darstellte.

Vor dem Transparent stand ein Zelt, in dem im Rahmen
regelmaesziger Veranstaltungen (dreimal woechentlich) Begegnungen
zwischen eingeladenen Gaesten - ehemaligen Nachbarn - aus dem In-
und Ausland - Juedinnen und Juden, die von hier fliehen muszten -
und Menschen, die heute hier leben, stattfanden.

Anlaeszlich der "Verlorenen Nachbarschaft" betraten einige in den
30er Jahren emigrierte Juedinnen und Juden das erste Mal, wieder
ihre "alte Heimat", einige weigerten sich, Oesterreich je wieder
zu betreten. Einige spielten mit dem Gedanken der vollstaendigen
Rueckkehr, und eine Nachbarin nahm sogar die oesterreichische
Staatsbuergerschaft wieder an. Verwirrung und Schock traten jedoch
diesen Februar durch die Regierungsbeteiligung der FPOe auf.
Selbst wenn sie versuchten, in ihrer "neuen Heimat" von den
positiven Eindruecken, die sie aus Wien mitgenommen hatten, zu
erzaehlen, wurden sie meist nicht ernst genommen und teilweise
sogar ausgelacht. Der Wunsch nach Rueckkehr nach Wien war fuer die
meisten somit wieder in Frage gestellt. Da sich jedoch zwischen
den Bewohnern der Neudeggergasse und den wiedergefundenen Nachbarn
teilweise enge, anhaltende Freundschaften ergeben haben, kann hier
soweit es moeglich ist, Aufklaerungsarbeit geleistet werden.

Am Abend des 20. November 2000 trafen sich rund 150 Menschen,
darunter viele derer, die ziemlich genau zwei Jahre davor dabei
waren, wieder in der Neudeggergasse zusammen. Anlasz war die
Enthuellung einer Gedenktafel zur Erinnerung an die "Verlorene
Nachbarschaft".

Diesmal war es die Initiative jener wiedergefundener NachbarInnen,
die diese Tafel ermoeglichte. Trotz starker Verkuehlung sprach
Univ.-Prof. Dr. Erika Weinzierl, ein Mitglied des damaligen
Ehrenkomitees. Sie erinnerte sowohl an die Ereignisse vor 62 als
auch vor 2 Jahren, die sich hier abgespielt hatten.

Es folgten Reden dreier wiedergefundener Nachbarinnen und ein
Auftritt des Oberkantors Shmuel Barzilai, und schlieszlich wurde
die Tafel enthuellt.

"Gedenkprojekt Verlorene Nachbarschaft - Die Synagoge in der
Neudeggergasse - 1.Oktober-9.November 1998 - Als Initiative einer
kleinen Gruppe von Nachbarn wurde die in Originalgroesze
nachgebildete Fassade der Synagoge zeitweilig wieder errichtet. -
Einst vertriebene, jetzt wiedergefundene Nachbarn aus USA, Israel,
Argentinien, Wien."

Im Rahmen dieses Projekts erschien auch ein gleichnamiges Buch von
Kaethe Kratz, Karin Schoen, Hubert Gaisbauer und Hans Litschauer
im Mandelbaum Verlag. Es begleitet in Bildern, Texten und
Interviews den Verlauf des Projektes und beschreibt die Geschichte
einzelner wiedergefundener Nachbarn. Ein aeuszerlich scheinbar
fluechtiges Projekt. Nachhaltig ist der Anspruch, ein kleines
Stueck gemeinsamer Geschichte im kollektiven Gedaechtnis der Stadt
zu verankern. *Alexander Litsauer*
 

Literatur: K.Kratz, K.Schoen, H.Gaibauer, H.Litsauer: Verlorene
Nachbarn, Die Wiener Synagoge in der Neudeggergasse, Ein
Microkosmos und seine Geschichte. Mandelbaum Verlag 1999, 303
Seiten, ATS 295.
 

**********************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1010 wien, wipplingerstrasze 23/20
kontakt: bernhard redl
vox: ++43 (0222) 535-62-00(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
fax: ++43 (0222) 535-38-56
http://akin.mediaweb.at
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin