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Aussendungszeitpunkt: 3.10.2000; 21:00
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Balkan:

> Beim Papst auf einen Kaffee

Ein albanisches Tagebuch, Teil X

Von Andreas Jordan

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"Mein" (mittlerweile ehemaliger) Fahrer ist ein Bektashi - das
weiss ich schon lang. Und die Bektashi sind eine Abspaltung vom
islamischen Mainstream (Sunna und Schia), gegruendet von Hadschi
Bektash irgendwann im 14.Jahrhundert oder so, irgendwo im hinteren
Anatolien. Was sie von sonstigen Moslems unterscheidet, ist, dass
sie gegen das Verschleiern von Frauen auftreten, dem Alkohol
zugetan sind, nichts gegen Schweinernes haben, Moscheen meiden und
im uebrigen der Meinung sind, alle Religionen waeren gleichwertig.
Soweit das, was ich nachgelesen habe, und das klingt ganz
sympathisch, so anti-fundamentalistisch.

Die Bektashi mit ihrer spezifischen Mystik waren historisch immer
mit den Janitscharen verbunden, den osmanischen Elitetruppen,
rekrutiert aus der "Knabenlese", dem Anteil an maennlichen
Kindern, die die nichtmoslemischen Untertanen der Osmanen an die
Hohe Pforte in Istanbul abzuliefern hatten, wo ihnen eine
militaerische Erziehung im Sinne ihrer Herrscher zuteil wurde.
Nach dem Verschwinden der Janitscharen im 19.Jahrhundert und der
Abloese der osmanischen Sultane durch die fanatisch
nationalistischen "Jungtuerken" am Vorabend des 1.Weltkriegs (ja,
das sind die, auf deren Konto der Genozid an den Armeniern geht!)
wurde der Bektashi-Orden in der Tuerkei verboten, und seine
Fuehrung uebersiedelte nach Tirana, wo ein namhafter Prozentsatz
der Bevoelkerung Bektashi war. Wieviel genau, habe ich bisher
nicht geschafft herauszukriegen, aber ein erheblicher Teil der
hiesigen 70% Moslems. (Die anderen 30% Albaner sind, wie erwaehnt,
zu zwei Dritteln orthodox, zu einem katholisch.)

Ueberhaupt ist das religioese Klima in Albanien in einer Weise
tolerant, wie ich das noch nirgendwo erlebt habe - die Leute
moegen einander umbringen, weil vor 80 Jahren der Urgrossvater vom
einen die Urgrossmutter vom anderen schief angeschaut hat, aber es
gibt keine religioes motivierten Konflikte - was auch fatal waere
in einem Land, wo die vier Religionen ueberall bunt durchmischt
zusammenleben - und Ehen eigentlich fast im Normfall
gemischtkonfessionell sind. (Mir hat das jemand so erklaert: Die
Christen feiern mit den Moslems Kurban Bayram mit, und die Moslems
mit den Christen Ostern und Weihnachten, und die Christen haben's
ueberhaupt gut, die haben zweimal Ostern, weil das katholische und
das orthodoxe so gut wie nie zusammenfallen, und es kann nie genug
Feste geben. Eine gesunde Einstellung!)

Also: Die Bektashi sind, um zur Einleitung zurueckzukehren, die
vierte grosse religioese Gruppe in Albanien. Und Luan, mein Ex-
Fahrer, hat vor einigen Tagen, scheinbar angetan von meinem
Interesse an einem "Teqe" (Sakralbau der Bektashi) in Gjirokaster,
gemeint, am Mittwoch wuerde er Baba Reshat, das Oberhaupt aller
Bektashi weltweit, treffen, und ob ich Lust haette, mitzukommen. -
No na - wenn mich jemand fragt, ob ich auf einen Kaffee mit dem
Papst mitkomm, sag ich auch nicht nein, allein schon aus Neugier!
Gegen Abend des vereinbarten Tages fahren wir also in einen
Aussenbezirk von Tirana, wo ein Bauwerk mit drei gruenen Kuppeln
inmitten einiger kleinerer Nebengebaeude thront.

Am Eingang ist Schuhe ausziehen angesagt. Es empfaengt uns ein
Mann in juengeren Jahren, also noch unter 40, in einem weissen,
knielangen Faltenrock, einer weissen Bluse, weissen Socken und
einem weissen, runden Filzturban mit weisser Schleife drumherum.
Am Finger: Ein Smaragdring. Ja richtig, gruen als heilige Farbe
des Islam.

Der Mann, in der katholischen Hierarchie wohl einem Bischof
vergleichbar, fuehrt uns herum in dem grossen Raum, an dessen
Waenden rundum Polstermoebel stehen, und erklaert mir (via Luan,
dessen Deutsch ziemlich begrenzt ist) die Bilder an der Wand, wer
da wer war von diesen baertigen alten Maennern. Im naechsten Raum:
Wieder Bilder und Erklaerungen dazu. Es stellt sich heraus, dass
der Herr Bischof des Englischen in begrenztem Masse maechtig ist,
was den Informationsfluss nur unwesentlich erleichtert. Die
Geschichten zu den Bildern behandeln die Fruehzeit des Islam, die
Schlacht von Kerbala (Trennung von Sunniten und Schiiten) und die
ersten Imame, und ich stehe wohl davor wie die Kuh vorm neuen Tor,
erstens mangels Sachkenntnis, zweitens wegen der
Verstaendigungsprobleme. Als die Rede auf Huseyn kommt, der
mittels Gift ermordet wurde (8.Jahrhundert oder so), und ihm das
Wort fuer "Gift" auf Englisch nicht einfaellt, worauf ich ihm mit
"helm" (alban. fuer "Gift") aushelfe, habe ich einen
entscheidenden Fehler gemacht - er redet nur mehr auf Albanisch
weiter, in der Annahme, dass ich eh alles verstuende, was aber
keineswegs der Fall ist.

Auf einmal betritt ein offensichtlich bedeutender religioeser
Wuerdentraeger den Raum - ein staemmiger Mann um die 50,
knoechellanger weisser Faltenrock, breiter Stoffguertel, weisse
Bluse, weisser Filzturban mit gruener Schleife drumherum.

Luan erlaeutert sein Anliegen, und ich werde mit Handschlag
begruesst (danach Hand an die Brust), und der Vizepapst (um den
handelt es sich naemlich hier, lasse ich mir spaeter sagen) bittet
uns in den Nebenraum. Wir setzen uns, er nimmt Luans Hand, bewegt
seine Lippen in einem lautlosen Murmeln, gaehnt, faehrt sich mit
der anderen Hand uebers Gesicht. Ich denke mir, er muss wohl sehr
muede sein, aber nach einer Weile merke ich, dass dieser Akt  -
ein Mittelding zwischen Gaehnen  und lautlosem Schluchzen,
waehrend er sich mit der linken Hand uebers Gesicht faehrt -
Bestandteil des Ritus sein muss, denn er wiederholt sich immer
wieder, sicher mehr als ein dutzendmal waehrend der paar Minuten,
wo der Vizepapst murmelnd seinen Segen ueber Luan spricht.

Danach - Luan ist sichtlich tief ergriffen - werden wir mit
Haendedruck verabschiedet und nach draussen geleitet. Auf dem Weg
zum Auto meint Luan noch, das Bektashi-Oberhaupt selbst, Baba
Reshat, habe Probleme mit der Huefte und sei ausserdem gerade
damit beschaeftigt, eine geisteskranke Frau zu segnen, deshalb
habe er keine Zeit fuer uns gehabt. Erst im Auto stelle ich fest,
dass ich meine Tasche drinnen stehengelassen habe - also zurueck,
nochmals Schuhe ausziehen und rein.

In dem Raum, wo meine Tasche steht, sitzt ein Greis in Bektashi-
Ordenskleidung mit langem, weissem Bart, mit muedem, guetigem
Gesichtsausdruck, ihm gegenueber eine junge und eine alte Frau.
Ich schluepfe hinein, sage "Me falni!" ("'tschuldigung!"), klaube
meine Tasche auf und entferne mich schleunigst. - Ich habe ihn von
einem der Fotos erkannt: Das war  Baba Reshat, das Oberhaupt von
einigen Millionen Bektashi weltweit. (Ausser in Albanien gibt's
noch namhafte Bektashi-Gemeinden in Aegypten, der Tuerkei,
Bulgarien und diversen anderen ehemals osmanisch beherrschten
Laendern.)

Auf dem Rueckweg Stille - Luan ist immer noch ergriffen, und ich
bin zumindest beeindruckt von der Offenheit und
Selbstverstaendlichkeit, mit der die Menschen an der Spitze einer
religioesen Hierarchie hier mit einem umgehen.
 

Die loebliche Geschichte vom redlichen Kaschemmenwirten

Auf dem Heimweg Hunger. (Der Mensch lebt nicht vom Geist allein,
bekanntlich.) Die "Kaschemme" von vor Wochen liegt am Weg  -  also
angehalten. Dreiviertel neun scheint spaet zu sein fuer hiesige
Verhaeltnisse - der Wirt selbst (das letztemal haben hier zwei
Frauen ordiniert) ist sein einziger Gast und sitzt vor einem Glas
Roten.  Was der Wirt trinkt, kann kein voelliger Fehlgriff sein -
ich bestelle also auch ein Glas Wein, der sich in der Folge als
durchaus trinkbar erweist, sehr im Gegensatz zu diversen anderen
Trinkerfahrungen in den letzten Monaten hier im Land. Aber
eigentlich bin ich ja auf der Suche nach FESTER Nahrung. Des
Wirtes Kuehlvitrine weist zwei Produkte auf: So Hirtenspiesse, wie
ich vor etlichen Wochen hier schon welche gegessen habe, und die
(lt. Travnicek) "Hundstruemmerln", fingerlange, fingerduenne
Fleischlaberln.

Ich deute auf die Spiesse: "Bitte zwei Stueck." - Wirt: "Nein."
(Er deutet auf die Hundstruemmerln.) Ich, insistierend: "Bitte
zwei Stueck!!" - Wirt, resoluter: "Nein!" (Und deutet wieder auf
die Hundstruemmerln.) - Ich: "Bitte, ich will zwei Stueck!!!"
(Spiesse) - Wirt: "Nein, iss qofte (= Hundstruemmerln)!" - Ich:
"Nein, ich will zwei Spiesse!!" -  Wirt setzt zu langmaechtigen
Erklaerungen an. Das, was ich schlussendlich verstehe: Die Spiesse
sind nicht mehr frisch, die Hundstruemmerln schon, und deshalb
macht er mir keine Spiesse. - Ich, verbluefft, ordere
Hundstruemmerln, die sich in der Folge auch als Gaumenfreuden
erweisen werden. Als ich fertiggegessen und ausgetrunken habe,
macht der Wirt den Laden dicht - die Spiesse kriegen die
Strassenkoeter vorm Lokal. Und ich bin beeindruckt: Wie viele
Wirten in Oesterreich haetten die Gelegenheit nicht vorbeigehen
lassen, einem insistierenden Gast das teurere Gericht anzudrehen,
wiewohl verdorben - einem Gast, der sich kaum verstaendlich machen
kann und der ganz gewiss nie wiederkommen wird, also kein "guter
Kunde" werden kann??

Wiewohl, die Gelegenheit, dies zu meinem neuen Stammlokal zu
erheben (nicht nur wegen Redlichkeit und trinkbarem Wein, sondern
auch, weil nur 100m von meinem neuen Mietzimmer gelegen), ist
vorbei - uebermorgen werde ich Tirana verlassen. Aber um den
Rosaroten Panther zu zitieren: "Ich komm wieder, keine Frage!"
(Und wenn's "nur" auf Urlaub ist - das Land und seine Menschen
sind einfach zu faszinierend, um sie nicht zu besuchen!)

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A.J. ist in Albanien und im Kosovo als UN-Wahlbeobachter fuer
kosovitische Fluechtlinge taetig
 
 

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