Balkan:
> "Guten Tag" mit Uhudler
Ein albanisches Tagebuch Teil VIII
Unsere vorletzte Station in Nordalbanien ist Rreshen,
"Hauptstadt" der Provinz Mirdite, was soviel wie "Guten Tag"
heisst.
Trotz intensiven Herumfragens wird mir in der Folge niemand die
Geschichte der Namensgebung der Provinz erzaehlen koennen. Dafuer
erzaehlen mir die Menschen, dass Mirdite waehrend 500 Jahren
osmanischer Herrschaft dank dreier Charakteristika seine
Identitaet bewahrt habe: Erstens, der Katholizismus. Mirdite ist
zu annaehernd 100% katholisch, wiewohl die Katholiken landesweit
nur etwa 10% der Bevoelkerung ausmachen. Zweitens seiner lokalen
und regionalen Selbstverwaltung wegen. (D. h., die Menschen haben
den Osmanen zwar Abgaben geleistet, sonst aber keine Einmischung
in ihre Angelegenheiten geduldet und Problemloesungen auf lokaler
Ebene durch oeffentliche Dorfversammlungen erwirkt.) Und drittens
gibt es den Kanun.
Der Kanun, dieses wesentlichste Instrument der traditionellen
nordalbanischen Gesellschaftsordnung, bedarf wohl naeherer
Erlaeuterung bei uns mit oralen Rechtstraditionen unvertrauten
Mitteleuropaeern: Es handelt sich dabei um uraltes
indoeuropaeisches Gewohnheitsrecht von einer Zeitstufe, die nach
Ansicht von Rechtshistorikern VOR der Fixierung des roemischen
Rechts ( seinerseits ja die Basis fuer alle folgenden
europaeischen Rechtssysteme) liegt. Dieses aeusserst umfassende
Normensystem, dessen fuer meinen laienhaften Blick
hervorstechendsten Kernbegriffe "Ehre und Gastfreundschaft" sind,
wurde ueber Jahrtausende (schon die Roemer rund ums Jahr Null
beschwerten sich, dass ihre Rechtsnormen in der Provinz Illyrien,
die das heutige Albanien einschloss, nichts galten!) immer nur
muendlich weitergegeben - bis es Lek Dukagjini, Angehoeriger eines
Clans, der mit Skanderbeg Mitte des 15. Jahrhunderts eine Allianz
gegen die Osmanen einging, als "Mitbringsel" fuer Skanderbeg
einmal schriftlich fixieren liess - pikanterweise auf Osmanisch,
zumal damals noch keine albanische Schriftsprache existierte.
Recht fuer alle Lebenslagen
Dieses fruehe Schriftdokument in der Sprache der nachmaligen
Besatzer war zwar fuer die Wirkungsgeschichte des Kanun in
Albanien bedeutungslos, da sowieso kaum jemand lesen konnte und
der Kanun ausschliesslich muendlich weitergegeben wurde, aber fuer
nachgeborene Experten ein Gluecksfall: Die insgesamt ueber 1200
Bestimmungen, vom Ausmass her ein mitteldickes Buch, regeln
saemtliche Details des (damaligen) Lebens, mitunter auf fuer uns
in der Tradition des Roemischen Rechts Stehenden befremdliche
Weise: So wird z.B. genau ausgefuehrt, wann Pluendern legitim sei
und wie es zu erfolgen habe (INNERHALB der albanischen
Gesellschaft!), es regelt im Detail die Blutrache, klaert so
spitzfindige Fragen wie die, wem die Beute zufalle und wer fuer
den Preis der Patrone aufzukommen habe, wenn eine Dorfgemeinschaft
ein Wild jagt, das aber von einem zufaellig vorbeikommenden
Wanderer zur Strecke gebracht wird (Aufloesung: Das Dorf kriegt
den Hasen, und zwar jeder einen aliquoten Teil von ihm, dem
Wanderer aber wird die Munition ersetzt), den Grossteil des Kanuns
aber machen detaillierteste Regeln und Normen zur Behandlung des
Gastes aus. (Ein Beispiel: Wenn der Gastgeber VOR dem Gast zu
essen beginnt, kostet ihn das gleich eine saftige Geldstrafe an
die Gemeinschaftskasse.)
Nach Abhandlung der drei Grundprinzipien der "Guten Tag"schen
Identitaet aber zurueck nach Rreshen, mit 7000 Einwohnern wohl
eher "Hauptdorf" als Hauptstadt der Provinz. Der Ort liegt in
einer Mittelgebirgsumgebung an einem Fluss, die nach
traditioneller Architektur foermlich schreit. Stattdessen die
Faust aufs Auge: Rreshen ist 400m lang und 80m breit - eine
einzige Strasse, beidseitig gesaeumt von sechsstoeckigen
Wohnblocks im ueblichen Verfallszustand, und am Ende dieser
Strasse ein Platz, rund um welchen die oeffentlichen Gebaeude
(Gemeindeamt, Post, etc.) liegen. Das "neue sozialistische Dorf",
das Enver Hodscha versprochen (angedroht?) hatte, in seiner ganzen
Haesslichkeit. Das, was Ceaucescu Mitte der 80er Jahre
angekuendigt hatte und was auf weltweite Empoerung gestossen ist,
naemlich das Schleifen von 5000 rumaenischen Doerfern und die
Umsiedlung der Bewohner in Wohnblocks, ist in Albanien passiert,
ohne dass im Ausland auch nur ein Hahn danach gekraeht hat.
Am "Hauptplatz" liegt auch das Hotel des Ortes. Vier Stockwerke,
Zustand mittelgrindig, und ich als einziger Gast. (Rreshen scheint
kein bedeutender Fremdenverkehrsort zu sein.) Aber mir wird nichts
anderes uebrigbleiben - mein albanisches Team hat sich ein
privates Appartment gecheckt, und in dem ist leider kein Platz
mehr fuer mich. (Wahrscheinlich hab ich in der letzten Zeit ein
paarmal zu oft mehr Puenktlichkeit und Zuverlaessigkeit von ihnen
eingefordert. Ich gebe zu, dass meine Worte drastisch waren, als
sie das letztemal eine Dreiviertelstunde zu spaet zu einem
wichtigen Termin in der Frueh (mit Fernsehen!) gekommen sind,
obwohl ich sie extra noch um dreiviertel acht verstaendigen
gegangen bin, sie moegen UNBEDINGT um acht Uhr im Buero sein, was
eigentlich ohnehin selbstverstaendlich sein haette muessen!
Na egal, ich wohne also im Hotel. Erste Ueberraschung: Es gibt
zwar pro Stockwerk drei Toiletten am Gang (macht insgesamt zwoelf
im Hotel, nur fuer mich allein), aber keine einzige Dusche. Nein,
nicht keine FUNKTIONIERENDE, sondern UeBERHAUPT KEINE. Es sind
keine eingebaut. Sind die Gaeste frueher zu dem dreckigen Fluss
hinuntergegangen, um sich zu waschen??
Moegliche Staedtepartnerschaften
Auf der Suche nach einem Abendessen (das fruehere Hotel-Restaurant
ist inzwischen eine Telebingo-Halle, in der halb Rreshen sitzt und
gluecksspielt, von der Grossmutter bis zum Jugendlichen) und
vergeblichen diesbezueglichen Anfragen in diversen Etablissements,
die alle nur fluessige Nahrung ausschenken, spricht mich ein
Bursch auf Englisch an. Er bietet mir an, mich zum einzigen
Speiselokal des Ortes zu fuehren, welches tatsaechlich
einigermassen versteckt unter Weinreben hinter den Wohnblocks an
einem kleinen Weg liegt. Und jetzt kommt's: Ich weiss, dass mir
das keiner glauben wird, aber in Rreshen schenken sie Uhudler
aus!!! Der Wirt, nach einem Sommer als Strassenmusikant in der
Schweiz einiger Worte Deutsch maechtig, bringt hellroten Wein in
einem Glaskrug und meint, das sei eine Spezialitaet der Region,
diesen Wein gebe es nur um Rreshen. Eindeutig Uhudler, diese Nase
nach reifen Walderdbeeren! (Mir schweben sofort Phantasien von
Ortspatenschaften Grosspetersdorf - Rreshen und aehnliches vor.)
Mein Begleiter, den ich zum Essen und Uhudlertrinken einlade,
klagt mir sein Leid: Er sei Ingenieur, und seit drei Jahren schon
sei er arbeitslos, obwohl er Sozialist sei (Anmerkung: Die
Sozialisten stellen seit drei Jahren die Regierung.) Dabei habe er
einen Cousin, der sozialistischer Parlamentsabgeordneter sei, aber
dieser Arsch vernachlaessige seine Verpflichtungen gegenueber der
Familie und habe ihm noch immer keinen Job zugeschanzt! Ich bin
sprachlos - wie soll ich ihm mit seinem voellig anderen
Wertegebaeude erklaeren, dass ich das eigentlich als Sollverhalten
jeglichen Politikers betrachten wuerde??
Nach diversen Glaesern Uhudler wieder zurueck im Hotel, examiniere
ich erst einmal die Leintuecher (Decke braucht man bei der Hitze
eh keine), bevor ich mich bette. Ich zerdruecke ein Viech, das
definitiv eine Wanze ist, und ein weiteres, das flohgleich huepft.
Fuenfminuetige Recherchen in der Tiefe der aufgerissenen Matratze
foerdern keine weiteren Funde zutage. Gegen alle Gesetze der
Wahrscheinlichkeit hoffend, hiermit die Totalitaet an Blutsaugern
in diesem Bett beseitigt zu haben, gehe ich schlafen - was bleibt
mir sonst auch ueber, mit dem naechsten Hotel in einer guten
Fahrstunde Entfernung. Zu meiner Ueberraschung werde ich in meinen
fuenf Naechten in diesem Hotelzimmer von keinem Parasiten
gebissen, und es zeigt sich auch keiner mehr. Der erste
nachgewiesene Fall der Falsifizierung von Murphy's Law!
Separatisten in der Mitte
Der naechste Tag in Rreshen foerdert weitere Ueberraschungen
zutage: Nein, nicht das Bild der Strasse, an der sich Café an Café
reiht und um halb acht in der Frueh alles voll besetzt ist mit
Maennern, die ihren Morgencognac plus dazugehoerigem
(kleinwinzigem) Kaffee trinken - das ist normal in Albanien. Auch
nicht die Papierkoerbe entlang der Strasse - das hab ich bereits
einmal gesehen, in Kukes. Sondern der Umstand, dass das kleine
Nest einen eigenen hauptamtlichen Koordinator fuer die 42 NGO's
dieser gottverlassenen Provinz hat! Der Selbstorganisierungsgrad
der Zivilgesellschaft hier ist wirklich erstaunlich - wohl ein
Erbe der jahrhundertelangen Selbstverwaltung. Mirdite fuehlt sich
so unabhaengig, wird mir ein Ortsansaessiger an diesem Tag
erklaeren, dass sich die Provinz nicht nur einige Male gegen die
Osmanen erhoben, sondern in diesem Jahrhundert sogar mehrmals als
UNABHAENGIG VON ALBANIEN erklaert hat - obwohl sie fast genau in
der Mitte des Landes, genauer, knapp noerdlich davon, liegt.
Wir richten uns im Buero des NGO-Koordinators ein und harren der
Fluechtlinge, die da kommen sollen - und das, obwohl uns am Vortag
alle konsultierten Stellen versichert haben, es gebe hier keine.
Aber Vurschrift is Vurschrift, und der Zeitplan fuer die
Registriertour bedarf langwieriger Genehmigungen aus Wien und NewYork,
um
geaendert werden zu koennen. Das ist so kurzfristig
unmoeglich, d.h. wir werden hier vier Tage lang formal Praesenz
markieren, bevor wir nach Tirana zurueckfahren koennen. Das spielt
sich so ab, dass die Haelfte des Teams die Zeit im Buero absitzt,
die andere Haelfte nebenan im Café, und alle paar Stunden wird
gewechselt. Zum Glueck hab ich genug zum Lesen mit!
Was tut man so an einem 43 Grad heissen Tag in Rreshen? Klar, man
schwitzt. Und ansonsten beobachtet man das Leben auf der Strasse,
das nicht nur aus Maennern, Frauen und Kindern besteht, die
ausgesprochen uneilig vorbeiflanieren und sich uns anschauen
kommen. Allerlei Vierfuesser sind auch unterwegs: Kuehe mit
bimmelnden Glocken steigen ueberall herum, auch treppauf und
treppab, anscheinend sogar in den Stiegenaufgaengen der
Wohnhaeuser - vor der Appartment-Tuer meines Teams im ersten
Stock hab ich einen frischen Kuhfladen gefunden, und den wird wohl
kaum jemand als Souvenir mitgebracht haben. Schweinderln,
halbwuechsige, sind auch unterwegs, und nach einer Weile kommt
eine neugierige Rotte Jungferkel vorbei, die ueberall zwischen den
Tischen des Cafes herumwuseln, gefolgt von einer behaebigen,
grunzend die Strasse entlangwandernden Muttersau (die kommt zum
Glueck nicht auf die Cafeterasse, sie haett auch nicht
durchgepasst zwischen den Sesseln).
Am Abend, bei der Rueckkehr ins Hotel, erbarmt sich der
Rezeptionist, ein alter Herr, meiner Lage (oder war es schon so
unueberriechbar?) und laedt mich in seine Privatwohnung, fuenf
Minuten vom Hotel, zum Duschen ein. Eine Freude! Und anschliessend
werde ich noch mit Pfirsichen bewirtet und muss ueber meine
Familienverhaeltnisse Auskunft geben so gut ich das halt hinkrieg
auf Albanisch. Diese nette Geste wird er zwei Tage spaeter
wiederholen - ist ja toll, aber ich frage mich, was tut (oder tat)
er, wenn mehr als nur ein Gast im Hotel weilt(e)??
Waehrend ich so im Café sitze und sinniere, fallen mir (ich weiss,
das Thema ist jetzt schon abgelutscht, aber mich beschaeftigt's
trotzdem!) immer offensichtlicher die strukturellen Aehnlichkeiten
zwischen meinem Referenzland Mexiko und hier auf: Das beginnt bei
der Landschaft, setzt sich fort ueber die Statik des
Herrschaftsapparats (hier zuerst BUergerkrieg und dann ueber 40
Jahre Ein-Mann-Diktatur, dort zuerst Buergerkrieg und dann 80
Jahre Einparteiendiktatur mit Pseudowahlen) und die omnipraesente
Korruption, nicht zu vergessen die von beiden geteilte
Peripherielage, und sogar augenfaellige Details (wie die Mengen an
Eseln, oder der Konsum von Bohnen und Maistortillas auf dem Land)
decken sich - um nicht zu sprechen vom Machismo, dem
Waffenfetischismus, der Neigung zur Blutrache und aehnlichen
Uebeln. (Nur die Jungfrau von Guadelupe fehlt hier, und die
Sprache stimmt nicht.) Im Ernst: Am staerksten zeigt sich diese
Aehnlichkeit beim Vergleich der Mentalitaet, wo
"Gastfreundschaft", "Ehre", "Gesicht bewahren" in beiden Kulturen
bestimmende Termini sind.
Politik der Ehrenhaendel
Zur Illustration: Eine Geschichte wie die folgende, die mir der
OSCE-Chef in Shkoder erzaehlt hat, haette ich mir eigentlich in
keinem anderen Land der Welt ausser Mexiko vorstellen koennen: Vor
zwei Jahren kam es im Verlauf einer tumultuoesen Parlamentssitzung
in Tirana zu einem Raufhandel. Dabei wurde unter anderem ein
kleingewachsener "Sozialist" von einem huenenhaften "Demokraten"
in den Schwitzkasten genommen und gewuergt. Bloederweise vor
laufender Kamera - die Szene lief am Abend in den
Fernsehnachrichten. Der Gewuergte stammte aus einem Bergdorf im
Norden und wurde jedesmal beim Heimkommen von seinen Nachbarn
gehaenselt, bis er sich nicht mehr nach Hause traute. Zwei Jahre
spaeter ein Attentat waehrend einer Parlamentssitzung: Der
Sozialist schoss den Demokraten von damals nieder - vor laufender
Kamera. (War am Abend natuerlich in den Nachrichten.) Jetzt sitzt
er im Gefaengnis dafuer, aber er ist gluecklich: Er hat seine Ehre
wiederhergestellt! Sogar vor dem ganzen Land!
A.J. ist derzeit in Albanien als UN-Wahlbeobachter fuer
kosovitische Fluechtlinge taetig.
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