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Aussendungszeitpunkt: 6.9.2000; 23:00
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Balkan:

> Mexikanische Erinnerungen

Ein albanisches Tagebuch, Teil VII

Von Andreas Jordan

Wieder in Shkoder. Was angenehm auffaellt hier, ist die Verteilung des Individualverkehrs im
Verhaeltnis eins zu eins zu eins zwischen Autos (auch hier meistens die Marke mit dem Stern vorn
dran), Fuhrwerken (zweiraedrige Wagen, gezogen von nur einem Pferd; "Einspaenner" heiszt das wohl!),
die durchaus fuer interessante Kontrasteindruecke gut sein koennen, wenn sie z.B. riesige
Satellitenantennen transportieren, und Fahrraedern.

Ja, auch Fahrraeder sind als Transportfahrzeuge relevant, wie der Mann beweist, der auf dem seinigen
ein lebendiges Schaf befoerdert (Vorder- und Hinterbeine jeweils zusammengebunden rechts und links
am Lenker haengend, Kopf nach unten), oder der Polizist, der seiner Arbeitsstaette auf einem alten
Waffenrad zustrebt, das seinen Namen mit vollem Recht traegt, weil die Dienst-Kalaschnikow mit zwei
Gummibaendern quer am Lenker festgezurrt ist. (Obwohl, das ist alles noch schwach gegen den Mann,
den ich am naechsten Tag sehen werde, der, eine Ziege rechts und ein Schaf links mit den Beinen am
Lenker festgebunden, radfaehrt. Lebendige Tiere, versteht sich, und wir wollen ihnen wuenschen, dass
der Heimweg des Mannes durch keine allzutiefen Schlagloecher fuehrt!)

In Shkoder habe ich ein paar interessante Leute von internationalen Organisationen kennengelernt,
die schon laenger hier arbeiten.

Gestern hat mir einer ein bisschen ueber Frauenhandel erzaehlt. Die Frauen, derzeit hauptsaechlich
aus Moldawien, werden um 2- bis 3000 Mark an der albanisch-mazedonischen (oder war's die
montenegrinische?) Grenze gekauft, dann ein paar Wochen oder Monate im Land gehalten, waehrend deren
man ("mann" in diesem Fall, eindeutig!) ein bisschen Geld mit ihnen verdient, und wenn die
gefaelschten Papiere fertig sind, werden sie nach Italien weiterverkauft - ums Doppelte.

Von daher auch die Ungunst der hiesigen Mafia, wenn so ein Frauentransport hochgeht - bei acht oder
zehn Frauen sind das gleich fuenf durchschnittliche hiesige Jahresgehaelter (Verlust plus
Verdienstentgang), die den Mafiosi da floeten gehen. (Auf einer derartigen Aktion gruendet ja auch
meine Gegenwart im Lande. Die eigentlich fuer meine Funktion vorgesehene Person hat sich durch
frauenhandelsstoerende Akte vor einigen Monaten die Abneigung der hiesigen Mafia zugezogen und aus
diesem Grunde praeferiert, dem Land bis auf weiteres fernzubleiben.)

Ein Gutteil der moldawischen Frauen scheint "freiwillig" (wenn man das so nennen kann, angesichts
der sozialen und wirtschaftlichen Lage in ihrem Land) auf ein Leben als Prostituierte zuzusteuern,
von einer anderen Produktgruppe aus der Angebotspalette des Frauenhandels kann man das normalerweise
nicht behaupten: Den Maedchen oder jungen Frauen, die ploetzlich und spurlos verschwinden,
vorzugsweise in entlegeneren Gegenden in den Bergen Inneralbaniens, und von denen nichts mehr
gehoert wird, bis nach Monaten ein Anruf aus Italien eingeht, wobei das Maedchen nur seinen Eltern
ausrichten laesz, es ginge ihm eh gut, bevor eine Hand die Gabel des Telefons niederdrueckt.
Mengenmaessig sind diese klassischen Kidnapping-Faelle aber eher der kleinere Teil des
Gesamtaufkommens an gehandelten Frauen, das wesentlich Ueblichere sind Versprechungen auf einen
tollen Job "im Westen".
 
 

Zimmer mit Kalaschnikow

Heute hat mich einer meiner hiesigen Bekannten eingeladen, mit ihm zur Praesentation eines
Schulprojektes fuer Zigeunerkinder (ich weiss, der Name ist negativ besetzt, aber ich hab keine
Ahnung, ob das hier Roma, Sinti, Lovara, Kalderash, ... sind, und ich kenne keinen anderen allgemein
umfasssenden Namen) mitzukommen.

Der Rassismus der albanischen Mehrheitsbevoelkerung drueckt sich allein schon darin aus, dass die
"Ma-gyps" (wie sie sich selbst nennen; die Bezeichnung kommt aus dem Hochmittelalter, als bei ihrem
ersten Auftauchen in Mitteleuropa die Legende, sie seien fahrende Pilger aus Aegypten, eine
akzeptierte Schutzbehauptung war!) in einem Lager auf der anderen Seite des Flusses zu leben haben.
Das Szenario ist wie aus einem Kusturica-Film, freischweifende Pferde zwischen den behelfsmaessig
aufgestellten Zelten aus Plastikplanen, bellende Hunde, brennende Lagerfeuer, herumwuselnde Kinder
in Mengen. Die Armut ist weniger pittoresk: Ein Groszteil der Kinder hat keine Schuhe, rennt in
Fetzen herum, etlichen haengt das Rotz aus der Nase, und alle kratzen sich. (Ab naechsten Tag auch
ich, weil mich ein paar Floehe, die ich mir an diesem Abend gefangen haben duerfte, noch eine Woche
lang in meinem Gewand begleiten werden.) Die Kinder werden tagsueber zum Betteln in die Stadt
geschickt, das ist, abgesehen von der Taetigkeit als StrassenkehrerInnen, der einige der Erwachsenen
nachgehen, die einzige Einkommensquelle fuer die Gemeinschaft. (Es gibt sonst keine Arbeit, speziell
nicht fuer Ma-gyps.) Aus diesem Grund, befinden die Eltern, moege der Unterricht fuer die Kinder,
die ansonsten keinerlei Schule besuchen, erst ab vier Uhr nachmittags beginnen - eine Forderung, die
bei den beiden Leuten von der Schulprojekt-NGO und bei uns auf keine ungeteilte Begeisterung trifft.

Ueberhaupt ist mein (voellig subjektiver) Eindruck, dass der allererste und wichtigste Schritt der
waere, den Leuten erst einmal ein Selbstwertgefuehl, eine Identitaet zu geben, sie zu Selbsthilfe
anzustiften. Und (aber in diesem Punkt ist mein Gastgeber, und der kennt sich bei sowas
wahrscheinlich besser aus als ich, voellig entgegengesetzter Meinung) das ganze riecht mir nach
kurzem Hineinschnuppern ein bisschen nach aufgesetzt, von oben kommend, nicht von unten erwachsen.
"Paternalistisch" nennen sie das in Mexiko. Aber vielleicht tu ich dem braven Schuldirektor, der den
Projektvorschlag eingefaedelt hat, voellig unrecht mit diesem Eindruck. Auf alle Faelle laesz mich
der Abend in Ratlosigkeit zurueck.

Unsere naechste Destination ist Kukes, eine 25.000-Einwohner-Stadt 150 km (=6 Stunden ueber eine
grausige Holperpiste durch eine durchaus ansehnliche Bergkulisse) oestlich von Shkoder direkt an der
Grenze zum Kosovo gelegen. Der Ort ist allen Fernsehenden vom vorigen Jahr bekannt, weil hier ueber
eine Viertelmillion Kosovofluechtlinge gestrandet ist. Eigentlich muesze man vom "neuen" Kukes
sprechen, das "alte" ist naemlich vor dreissig Jahren in einem riesigen Stausee ertraenkt worden,
der sich vor der Stadt erstreckt, was das Panorama der Umgebung, mit bis zu 2500m hohen Bergen,
zusaetzlich bereichert. Die zwangsumgesiedelten Bewohner sind groeszenteils bis heute nicht
entschaedigt worden. Der Stausee wird zum Baden uebrigens nicht empfohlen, wegen Verseuchung durch
die ungeklaerten Abwaesser der Stadt, was angesichts widriger Umstaende (43 Grad, und waehrend des
groeszten Teils des Tages kein Wasser im Hotel!) doppelt bitter ist.

Die Hiesigen haben seit der Kosovokrise den Ruf ueberbordender Gastfreundschaft: Alle Einwohner
haben damals Fluechtlinge in ihre Wohnungen aufgenommen; in dem Appartment, das unser albanisches
Team fuer die Woche unseres Aufenthaltes mietet, uebrigens voll moebliert, mit allem drin, sogar mit
Kalaschnikow (kein Scherz!), das aus drei Zimmern besteht, haben voriges Jahr 38 Fluechtlinge
Zuflucht gefunden, und das duerfte repraesentativ sein fuer die Hilfsbereitschaft der hiesigen
Einwohner. Die Leute von Kukes haben ausserdem noch einen weiteren landesweiten Ruf: Sie gelten als
penible Sauberkeitsfanatiker. Diese Nachrede faellt mir aber erst wieder ein, als die Papierkoerbe
an der Hauptstrasse (tatsaechlich, Papierkoerbe! Die ersten, die ich in fast drei Monaten in dem
Land sehe!) meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und zwar aufgrund des Umstandes, dass an einem
davon eine Kuh steht und seinen Inhalt auffriszt - eine Szene, die ich in den folgenden Tagen noch
oefter sehen werde.

Am Abend sehe ich mich schlicht aufgrund des Umstandes, mich im einzigen Lokal des Ortes zu
befinden, das Schankbier kredenzt, von einem nebenan sitzenden Mann in einem gefleckten Kampfanzug
zum Fischessen eingeladen. Menschen mit Pistolen widerspricht man nicht, zumindest nicht bei
Einladungen, und der Mann entpuppt sich als der Polizeichef des Ortes. Eine Nachfrage foerdert den
Grund fuer den Kampfanzug zutage: Es gibt kein Geld fuer neue Uniformen, und die alten,
diskreditiert und gehasst aus der Enver-Hodscha-Zeit, wollen sie nicht mehr anziehen - und deshalb
ordiniert die Verkehrspolizei hier in Armee-Kampfanzuegen.

Der Polizeichef nimmt seine Pflicht, wiewohl bereits ausser Dienst, genau: Jedesmal, wenn wieder
eine Salve aus einem Schnellfeuergewehr ertoent, wischt er sich die Finger ab, greift zum
Mobiltelefon und erkundigt sich nach den Ursachen des Geschiesses. Anschliessend Entwarnung: "Eh
immer noch dieselbe Hochzeit."

Ansonsten hat man ja in Kukes nicht immer das Gefuehl umfassend obwaltender staatlicher Ordnung: Auf
dem Weg ins Lokal ist mir ein Sechsjaehriger aufgefallen, der einen Mercedes mit Tempo 50 ueber die
Hauptstrasse pilotiert hat, und zwar voellig allein, ohne sonst jemanden im Auto, obwohl er kaum
ueber das Lenkrad sehen hat koennen.
 
 

Bergpartie

Sonntag in Kukes: was tut man? Der Stausee ist kontaminiert, also auf in die Berge. Ein
Prachtexemplar davon, Gjalica, 2500m hoch, erhebt sich gleich naechst der Stadt, und mein Fahrer tut
mir den Gafallen, mich die paar km zum naechstgelegenen Dorf zu bringen und mir sogar einen Knaben
zu organisieren, der verspricht, mich aus dem Dorf zum richtigen Weg den Berg hoch zu bringen. Es
ist acht Uhr morgens, hat aber schon gute 30 Grad, und ich komme gehoerig ins Schwitzen, als ich
versuche, mit dem Achtjaehrigen Schritt zu halten, der in fuenf Nummern zu grossen Badeschlapfen vor
mir durch die Geroellbrocken dahinwieselt. Ich stelle mir seinen zu Hause fluchenden, barfuessigen
Vater vor, der auch weggehen will.

Nach einer Viertelstunde verlaesst mich mein Fuehrer am Rand eines breiten Trampelpfades, der den
Hang hochfuehrt. Ich mache mich auf den Weg durch einen Eichen-, Eschen-, Ahorn- und vor allem
Buchenmischwald, der die Berghaenge bedeckt - in Schienbeinhoehe! Was wir als maechtige Baeume
kennen, waechst hier, unter dem konstanten Verbiss durch das Vieh, zu wadelhohen Polstern heran.
Kein Schatten - und mir tropft das Wasser aus dem Gesicht.

Je hoeher der Weg fuehrt, desto hoeher wird auch der "Wald" entlang der immer enger werdenden
Kehren - und desto haeufiger begegnen einem Esel, die hochaufgetuermte Brennholzlasten tragen,
begleitet von Treibern. Der Weg ist, gemessen an den Standards von Wanderwegen in den Alpen,
erstklassig, wen auch ohne Markierungen - man merkt, dass Generationen von Menschen, die hier ihre
Esel entlanggetrieben haben, Hand angelegt haben!

Nach eineinhalb Stunden hoert der Laubwald (hier schon mehrere Meter hoch) auf, und die Bergflanke
ist ab hier von maechtigen Zirben bestanden. Ja, Zirben wie im Toten Gebirge, in denen der Wind
rauscht, die nach Sommerwanderung in den Alpen duften, zwischen denen Schmetterlinge flattern und in
denen Voegel zwitschern , unter denen Walderdbeeren wachsen - heimatliche Gefuehle werden wach.
Einziger Unterschied: Die Zirben sind bis zu 2m dick (ich hab's nachgemessen!) - man merkt, dass die
Schneelasten, die sie brechen koennten, hier erheblich geringer sein muessen als in den Alpen.

Nach einer Weile das Rauschen einer Quelle, an der zwei Frauen ein paar Esel traenken. Eine dreht
sich um und fordert mich sofort in nicht unfreundlichem, aber sehr resolutem Ton zum Mitkommen auf.
Ah, Familienmitglieder der "Banditen", vor denen mich meine (hauptstaedtischen) Dolmetscherinnen
immer gewarnt haben? Sie haben mich auch vor Woelfen auf dem Berg gewarnt. Aber ich bin vorbereitet,
maximal kann ich 2000 Lek, also 200 oeS, plus meine Armbanduhr loswerden, mehr habe ich nicht mit.
Die Frau steigt also vor mir den Pfad hoch, ich folge ihr - und bin jetzt endgueltig in Mexiko: Die
Frau traegt eine bunte selbstgewebte, schon ziemlich zerrissene Bluse, einen langen Rock und
Schlapfen aus abgeschnittenen Gummistiefeln und verstroemt den typischen Geruch nach Holzfeuer, den
ich von den offenen Herden in mexikanischen Indianerdoerfern kenne, auf denen Tortilas gebacken
werden. Nur die Groesse der Frau (NICHT 1,50 m!) und ihr blonder Zopf stoeren dieses Bild.

Nach wenigen Minuten kommen wir auf eine Lichtung mit etlichen kleinen Haeusern, die nur aus einem
Raum bestehen, mit Steinwaenden und Holzschindeldaechern. Von ueberall laufen Kinder zusammen, und
auch ein paar Erwachsene. Ich werde in eine Huette geleitet, wo sich ein alter Mann, anscheinend der
Ehemann der Frau, von einer mit einem Schaffell belegten niedrigen Pritsche erhebt. Sonstige
Einrichtung des Raumes: Ein paar weitere Pritschen, ein paar Schaffelle, Geraetschaften zur
Kaeseerzeugung, eine Petroleumlampe, ein Batterieradio, ein bisschen Geschirr, ein paar Schuesseln
und Behaelter, ein Koran in einer Wandnische, eine Truhe. Sicher keine reichen Leute, aber
anscheinend die, deren Stimme hier zaehlt.

Der Alte begruesst mich, wir tauschen die wenigen situationsadaequaten Worte aus, die ich inzwischen
beherrsche, dann noetigt er mich zum Niedersitzen auf seine Pritsche und holt angesichts meines
klatschnass geschwitzten Leiberls einen Pelzmantel aus der Truhe, den er, ohne auf meine
unverstaendlichen Einwaende zu hoeren, um meine Schultern legt. Seine Frau bereitet inzwischen in
einem winzigen Stielkaennchen ein Taesschen tuerkischen Kaffee fuer mich zu. Ich trinke und lobe den
Geschmack des Getraenks. In der Annahme, damit haette ich meinen Gastpflichten Genuege getan, lege
ich den Mantel ab und will mich verabschieden. Weit gefehlt! Jetzt kommt das Essen: Ein Teller mit
selbstgemachtem Joghurt, Schafskaese, Salzgurken, dazu Brot, das noch warm ist, und - ich kann's
nicht glauben - Tortillas! Jawohl, runde Fladen aus Maismehl, noch warm, wenn auch groesser und
dicker als die mexikanischen. Aber immerhin. Das alles aufzuessen, ist keine kleine Leistung, aber
ich weiss nicht, ob es nicht grob unhoeflich waere, was ueberzulassen. Die Hausleute sehen's mit
Befriedigung - und auch die ca. 15 Kinder, die rund um mich sitzen und sich keine Bewegung entgehen
lassen. (Jetzt weiss ich endlich, wie sich ein Fernsehapparat jeden Tag aufs Neue fuehlen muss.)

Die Unterhaltung verlaeuft eher karg, stark behindert durch meine mangelnden Sprachkenntnisse. Dass
ich im Land bin zwecks Taetigkeit fuer Kosovo-Fluechtlinge, stoesst auf heftige Zustimmung  - die
Leute hier, nur wenige Kilometer Luftlinie von der Grenze zum Kosovo entfernt, haben sicher auch
Verwandte "drueben" -  immerhin ist die Grenze zwischen dem heutigen Albanien und Kosovo erst 1913
gezogen worden, und das ist wenig Zeit fuer eine Gesellschaft, die in Grossfamilienstrukturen denkt
und viele Generationen zurueckrechnet.

Nachdem ich brav aufgegessen habe, darf ich gehen - vorher moechte ich aber auch ein Gastgeschenk
dalassen und packe die Paradeiser und eine maechtige Gurke aus, die ich als Wegzehrung mitgenommen
habe - Gemuese waechst hier heroben auf 1500m Hoehe bestimmt nicht. Die Gabe wird fast bruesk
zurueckgewiesen - als ich sie wieder eingepackt hab, sind aber alle wieder sehr freundlich - war
scheinbar nur ein leichter Lapsus. Es folgt ein zeremonieller Abschied, und ein junger Bursche,
vielleicht 14 Jahre alt, wird mir beigestellt, um mich wieder auf den rechten Weg zu bringen. Dem
Burschen fehlen schon fast alle Zaehne  -  Mangelernaehrung?

Nach zehn Minuten bin ich wieder allein in dem prachtvollen Zirbenwald. Nach einer Weile loest sich
der Weg in mehrere schmale Ziegenpfade auf, die aber ohnehin alle nach oben fuehren. Die Zirben
werden karger und niedriger, je naeher ich an die Baumgrenze komme. Jenseits von dieser ueppige
Graspolster mit bunten Blumen drin - sogar einen Stengellosen Enzian entdecke ich. Wie Daheim.

Auf dem Berggrat zwei lauthals bellende Hunde Marke "wolf-proved", die bei meinem Naeherkommen ihre
Herde verlassen und auf mich loszugehen drohen, nur vom Schaefer zurueckgehalten, einem sicher 70
Jahre alten Mann mit der landesueblichen runden weissen Filzkappe = "Pliss".

Der Alte winkt mich zu sich, die Hunde bellen nun nur noch anstandshalber ein bisschen weiter, und
laedt mich sofort zum Essen ein. Seine Huette duerfte also nicht fern sein. Nur meine Beteuerung,
ich haette erst vor einer Stunde "da unten sooo viel!" gegessen, rettet mich vor potentiellem
Platzen.

Den Auftrieb der Schafe in der Herde auf diese Weide in 2200m Hoehe kann ich mir ja noch irgendwie
vorstellen, aber wie der Alte die paar Kuehe hier heraufgebracht hat, ueber Steige, auf denen ich
einige Male auch die Haende einsetzen hab muessen, muss mir erst jemand erklaeren.

Von oben dann ein ueberwaeltigender Rundblick nicht nur ueber ein grosses Stueck Nordalbanien,
sondern auch ueber ziemlich viel Kosovo und das angrenzende Mazedonien. In allen Richtungen
erstrecken sich Wellen von Mittelgebirgen (bis ca. 2000m), unterbrochen von engen Taelern und tiefen
Schluchten. Im Sueden ragt, noch ziemlich schneebedeckt, der Korabi, hoechster Berg Albaniens (2800
m oder so) an der Grenze zu Mazedonien auf. Der Augenschein macht's auf alle Faelle klar: In diesem
Terrain KANN ein Besatzer gegen einheimische Guerrilleros nicht siegen  -  egal ob es sich dabei um
die Tuerken (1878, 1912) handelt, ob um die Italiener und die Deutschen (2.Weltkrieg), oder um die
serbische Armee im Kosovo (1997).

Beim Abstieg fuelle ich meine leeren Wasserflaschen aufs neue an der Quelle - bis zum Abend werde
ich meinem Koerper 6l Wasser zugefuehrt haben, und alles wieder rausgeschwitzt haben.

Das letzte Stueck Weges, durch schattenlose 43 Grad im Schatten, bin ich schon ziemlich fertig, als
ich mich endlich meinem Ausgangsdorf naehere. Ein alter Mann, der im Schatten eines Baumes sitzt,
winkt mir zu, mich neben ihm niederzulassen, und fragt mich aus. Meine Gehzeiten (4 Stunden rauf
fuer die 2000 m Hoehenunterschied, 3 Stunden runter) entlocken ihm anerkennende Laute. Dann erklaert
er mir, wo der Bus nach Kukes weggeht, und drueckt mir das Fahrgeld (30 Lek, also 3 Schilling) trotz
meines Protests und angesichts meiner gezueckten, mit 2000 Lek gefuellten Brieftasche in die Hand.
Der Busfahrer will wissen, wo ich herkomme. Von der Gjalica. Ja gut, aber sonst. Oesterreich. Die
Antwort scheint ihn nicht zu befriedigen, und er fragt nochmals.  Oesterreich! WELCHES arabische
Land? Ah ja, ich hab ja noch immer mein als Sonnenschutz zum Turban gewundenes tunesisches
Palaestinenser-Tuch um den Kopf! Nach dessen Demontierung klingt meine Herkunft eindeutig
glaubwuerdiger.

Zurueck in Kukes, laesst der Fahrer am Busterminal alle Leute aussteigen und bedeutet mir, zu
warten. Klar, ich habe ja noch nicht bezahlt! Er fragt, wo ich wohne, und laesst es sich nicht
nehmen, mich bis vors Hotel zu fahren. Und er akzeptiert kein Geld dafuer - nicht einmal die 30 Lek
Fahrgeld findet er sich bereit entgegenzunehmen!

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A.J. ist derzeit in Albanien als UN-Wahlbeobachter fuer kosovitische Fluechtlinge taetig.
 
 
 
 

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