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Aussendungszeitpunkt: 28.6.2000; 0:00
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Psychiatrie:

> Freiwilligkeit der Gewalt -- Gewalt der Freiwilligkeit

Kurzvortrag gehalten am 17.6. 2000 vormittags anlaeszlich des
Symposions "Alternativen zur Zwangsbehandlung" organisiert von
Peter Lehmann im Rahmen des Donausymposions in Linz.

*

Es hat sich nichts geaendert. Das ist ein beunruhigender Satz. Die
Psychiatrie re/produziert nach wie vor jene Mythen, die sie immer
schon als Wissenschaft vorzutaeuschen bemueht war, und die sie als
Avantgarde der Toetungstechniken in die Ermoeglichung des
Holocaust gefuehrt hat. *) Garant dieses Befundes, dasz die
Psychiatrie sich nicht geaendert hat, ist ihr Festkleben am
medizinischen Modell von den sogenannten Geistes- und/oder
psychischen Krankheiten. Waehrend die Psychiatrie dieses
Gewaltmodell in der Gesellschaft durchsetzt, ist sie zugleich zu
verstehen als dessen Ausgeburt. Das medizinische Modell
beansprucht, eine adaequate Theorie der Eingriffe in die
Gefuehlsprobleme und Zusammenlebensverhaeltnisse der Individuen zu
sein. Aber gerade deshalb, weil sich die Psychiatrie als Sparte
der Medizin versteht, hat sie in dem Bereich, fuer den sie
zustaendig zu sein beansprucht, gar nichts verloren. Die
Gefuehlsprobleme der Individuen und ihre
Zusammenlebensverhaeltnisse sind keine Bereiche fuer eine
medizinische Intervention. Das heiszt aber, dasz die Psychiatrie
mit ihrem Zustaendigkeitsanspruch vorweg den Gegenstandsbereich
verfehlt, fuer den sie sich als zustaendig behauptet. Als
medizinische Theorie und Praxis kann sie fuer den von ihr
reklamierten Bereich nicht zustaendig sein. Als Teilgebiet der
Medizin hat sie sowohl ihr Thema als auch den von ihr fuer sich
reklamierten Gegenstandsbereich verfehlt. Die Psychiatrie pfropft
sich daher dem von ihr reklamierten Bereich kuenstlich und
gewaltsam auf. Sie okkupiert ihre Pfruende und haelt sie mit aller
Gewalt besetzt, indem sie etwaige Angreifer id est Kritiker schon
im Vorfeld auszuschalten trachtet. Den Weltanschauungskrieg gegen
aufkommende kritische Stimmen fuehrt sie mit einem Aufwand, der
ihrer tatsaechlichen Desorientiertheit in Menschenangelegenheiten
entspricht, mit einem ungeheuerlichen. Sie haelt ihre Pfruende mit
aller Gewalt besetzt, indem sie sich ueber den ganzen Erdball
auszuweiten trachtet: um die gefaehrliche Drohung, die die
Psychiatrie fuer die Gesamtbevoelkerung darstellt, auch lueckenlos
zu realisieren, haben die Psychiater die Gemeindepsychiatrie
erfunden.

Die Psychiatrie hat sich in dieser Gesellschaft in mindestens
zweifacher Hinsicht als "Institution der Gewalt" (F. Basaglia)
etabliert: 1. als ein geraeumiges Gewaltsystem (W. Vogt) und 2.
als Durchfuehrerin der ihrer Theorie entsprechenden Gewalt-Praxen.
Mit Punkt eins ist die politische und weltanschauungskriegerische
Dimension der Psychiatrie mitangesprochen, mit Punkt zwei der
psychiatrische Alltag.

Die Psychiatrie ist die institutionelle Einraeumung,
Legitimierung und Foerderung der Gewaltausuebung von Menschen
gegen Menschen. Von Menschen, die dazu befugt sind, gegen
Menschen, die sich gegen die Gewaltausuebung der Befugten an ihnen
nicht zur Wehr setzen koennen, die also nicht einmal dazu befugt
sind, sich gegen die Gewalt zu wehren, die ihnen angetan wird. Die
Psychiatrie ist daher die Enteignung der Koerper und der Seelen
der Psychiatrierten, von der Selbstenteignung der Seelen der
Psychiatrierenden ganz zu schweigen. Freiwilligkeit der Gewalt -
Gewalt der Freiwilligkeit: wie kommen z.B. Menschen dazu, brutale,
die Individualitaet und Persoenlichkeit anderer Menschen
vernichtend unterdrueckende und zerstoerende Mittel und Methoden
einzusetzen? Wie kann es zu einer derart verheerenden Umsetzung
der Gewaltbereitschaft befugter Staatsgewalttaeter im
medizinischen Tarngewand alias Profis ueberhaupt kommen und wieso
koennen derartige Vernichtungsfeldzuege gegen Entrechtete unter
der Schutz- und Schirmherrschaft einer Institution durchgefuehrt
werden, die sich Psychiatrie nennt? Noch dazu, wenn man bedenkt,
was das Wort Psychiatrie uebersetzt bedeutet. Psychiatrie ist
uebersetzbar mit Seelenaerzteanstalt oder Seelenheilanstalt.

Miszt man das Wort Seelenheilanstalt an der real existierenden
Psychiatrie, ist sofort einleuchtend, dasz es sich bei der
Bezeichnung der real existierenden Psychiatrie mit dem Wort
"Psychiatrie" um einen Etikettenschwindel handelt. Um einen
ueberdimensionalen noch dazu. Um einen Etikettenschwindel, dessen
Verlogenheit groeszer und vertrackter nicht mehr denkbar ist. Die
Kluft, die sich zwischen dem mit dem Wort "Psychiatrie"
verbundenen Anspruch und der real existierenden Psychiatrie
aufgetan hat, ist gewaltig. Sie geht auf das Konto der real
existierenden Psychiatrie.

Die Interpretation der Psychiatrie als einer Kluft, die sich
auftut zwischen der real existierenden Psychiatrie und einer
Psychiatrie, die dem Anspruch, den ihr Name (an sie) stellt,
gerecht wuerde, wird nur unter einer Bedingung auszer Kraft
gesetzt: wenn man Seelenheil interpretiert als ewige Ruhe. Wenn
man also die Aufgabe der Psychiatrie darin sieht, die
Psychiatrierten zu vernichten. Wenn man so will, in einer Art
modifizierten Endloesung, in der Endloesug der "psychisch Kranken"
- Frage. Wie gesagt, die Psychiatrie hat sich laengst noch nicht
von ihrer faschistischen Geschichte verabschiedet. Dasz sie das
nicht getan hat, dafuer steht das medizinische Modell. Bei der
Bezeichnung der real existierenden Psychiatrie mit dem Wort
Psychiatrie handelt es sich daher um einen aehnlichen
Etiketten/Schwindel wie bei dem Vorwand, sie wuerden duschen
geschickt, beim Vergasen der Juden in Auschwitz. *Ernst Kostal*

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*) "Alexander Mitscherlich als Vertreter der deutschen
Aerztekammer, Andrew Ivy von der US-amerikanischen Aerztekammer
und Leo Alexander von der US-amerikanischen Armee kamen in
Nuernberg zu dem Schlusz, dasz der Holocaust ohne die Psychiatrie
vermutlich nicht stattgefunden haette." (Peter Breggin in: Kerstin
Kempker/ Peter Lehmann (Hgg.) Statt Psychiatrie. Berlin 1993.
S.396)

"Heydrich stellte als Sofortmasznahme SS-Einsatzgruppen auf, die
hinter der Front die juedische Zivilbevoelkerung erschossen. Elf
Millionen europaeischer Juden konnte man so nicht toeten. Die
Technifizierung der Toetung durch das Gas war noetig. Hierzu
konnte Heydrich auf die Erfahrungen der in die Toetung der
Geisteskranken durch Kohlenmonoxyd eingearbeiteten Mannschaften
zurueckgreifen. (...) So kam es, dasz in den erstenVernichtungslagern
junge Psychiater in weiszen Kitteln herumliefen
und den Vorgang ueberwachten." Aus: Benno Mueller-Hill. Toedliche
Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und
Geisteskranken 1933 - 1945. Reinbek 1984. S.49f



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