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Aussendungszeitpunkt: 30.5.2000; 22:30
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Glosse:

> Wuerde, was ist das?

Text fuer die GAV-Widerstandslesung
"Die Wuerde des Menschen ist unantastbar"
am 25. 5. 2000 auf dem Ballhausplatz

*

Wuerde ist die Moeglichkeitsform des
Menschen (Karl Kraus)

Wir, denen die Regierungen es taeglich schwerer machen, nicht zu
Hass und Verachtung gegen sie aufzureizen, wir, die diesem
schoenen Land bald nur noch ein Patriotismus der Landschaft
verbinden wird. (Karl Kraus)

Der Diskurs der Wuerde des Menschen beginnt und endet nicht am
Ideenhimmel der Philosophen, sondern in der gesellschaftlichen
Praxis. (Franco Basaglia)


Liebe Freunde und MitstreiterInnen!
Etwas Schoeneres als eine Widerstandslesung unter dem Motto "Die
Wuerde des Menschen ist unantastbar" kann ich mir nahezu nicht
mehr vorstellen. Weist doch der Titel "Widerstandslesung" schon
darauf hin, dass das Motto, also die Unantastbarkeit der
Menschenwuerde, nicht sosehr in den herrschenden Verhaeltnissen
als realisiert unterstellt wird, sondern vielmehr als Forderung an
diese gestellt werden muss. Ist doch die Wuerde des Menschen und
ihre Unantastbarkeit in den etablierten Verhaeltnissen extrem
ausgesetzt, extrem preisgegeben.

Wuerde, was ist das unter den herrschenden Bedingungen? Es ist
jener vermehrbare Rest von aufrechtem Gang, Aufmuepfigkeit und
Widerstand der Individuen in gesellschaftlichen Verhaeltnissen,
die auf Ausbeutung, Unterdrueckung, Gewalt und Zwang, auf
Desolidarisierung, also vereinzelnder Entmaechtigung der
Individuen, auf Menschenverachtung, Entmuendigung und
Entwuerdigung aufgebaut sind. Wuerde, das ist die radikale In-
Frage-Stellung der herrschenden Verhaeltnisse und der Versuch, in
diesen, aus diesen heraus und gegen diese eine Perspektive zu
entwickeln, die es den Individuen vielleicht erstmals in der
Geschichte der Menschheit erlaubt, sich zurecht als Menschen zu
bezeichnen.

Liebe Freunde und MitstreiterInnen! Ich kann all das, was mir am
Herzen liegt, auf Grund der aeuszerst knapp bemessenen
Widerstandslesezeit hier nur andeuten. Es folgen jetzt ein paar
Leitsaetze gleichsam als Orientierungsstangen im umnebelten Gebiet
der herrschenden Verhaeltnisse. "Aber das menschliche Wesen ist
kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner
Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichenVerhaeltnisse." (Karl Marx) "Wer den
Antikommunismus nicht
bekaempft, hat den Antifaschismus schon verloren." (W. H. Haug)
"Utopie, ohne deren Spur radikale Kritik nicht zu haben ist, ist
auf die Dauer realistischer als die Anpassung, die eine des Tages
ist." (W. H. Haug) "Identitaet ist die Faehigkeit, anders zu
sein." (W. H. Haug) Wer meint, sich in fremdbestimmten
Verhaeltnissen selbstbestimmt bewegen zu koennen, ist Gefangene/r
einer Illusion, die ihn weder die Verhaeltnisse noch sich selbst
erkennen laesst. Um die Selbstbestimmung muss daher gekaempft
werden. Der von mir soeben als Wuerde definierte Versuch, in den
herrschenden Verhaeltnissen aus diesen heraus und gegen diese eine
mensch/heit/liche Perspektive zu entwickeln, ist also zugleich ein
Kampf um die Selbstbestimmung der Individuen. In
gesellschaftspolitischen Verhaeltnissen, in denen die Wuerde, die
Selbstbestimmung der Individuen (noch dazu unter Berufung auf
diese als abstrakten, verhaeltnistauglich zurechtgebogenen,
verkehrten Wert) fortschreitend preisgegeben wird, muss der Kampf
um sie auf eine eigenartige Weise gefuehrt werden. Naemlich das,
was preisgegeben ist, antizipiered, ohne die notwendige
Antizipation des in den herrschenden Verhaeltnissen Preisgegebenen
mit dessen Realisierung zu verwechseln. Der Kampf um die Wuerde
ist also ein Kampf der (antizipierten) Wuerde um die (erst noch
durchzusetzende/zukuenftige) Wuerde. Der Kampf um ihre
Durchsetzung beginnt immer auch gerade hier und jetzt. Es ist der
Kampf um die Durchsetzung wirklicher Wuerde, wirklicher
Selbstbestimmung, wirklicher Freiheit. Schon wieder so ein
Reizwort, in dessen entfremdetem Namen wirkliche Freiheit in den
herrschenden Verhaeltnissen unterdrueckt, abgewuergt, verdreht,
verdraengt wird. Wirkliche Freiheit aber ist Abstand nehmen, ist
In-Frage-Stellung des Bisherigen zwecks Entscheidungsfindung, was
beibehalten werden kann und was veraendert werden musz. Und deren
gesellschaftspolitische, also institutionelle Einraeumung =
Ermoeglichung. Conditio sine qua non der Freiheit ist die Kritik.
Liebe Freunde und MitstreiterInnen! Damit bin ich direkt bei uns
hier angelangt, bei den Intellektuellen und ihrer Stellung in
dieser Gesellschaft, also ihrer Stellung zur Macht. Bei den
Intellektuellen, die Franco Basaglia und Franca Basaglia-Ongaro
selbstkritisch als Unterdrueckungsagenten, Zustimmungsfunktionaere
und Befriedigungsverbrecher entdeckten. U.a. diese beiden haben
uns gelehrt, wie eminent wichtig Selbstkritik (logischerweise
wiederum nicht als abstrakter, aufgepfropfter, uns von auszen
diktierter Wert) ist fuer die Effizienz der Kritik an den
herrschenden Verhaeltnissen. Es ginge hier also nun um die Frage,
inwieweit Intellektuelle Selbstunterdrueckungsagenten und
Selbstbefriedigungsverbrecher sind. Um die Frage der
Freiwilligkeit der Intellektuellen bei der Affirmation der Macht,
um die Freiwilligkeit ihrer Dienstbarkeit. *Ernst Kostal*



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