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Aussendungszeitpunkt: 16.5.2000; 22:00
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Balkan:

>Wie kommt der Weinstock in die Stadt?

Ein albanisches Tagebuch, Teil II

ANDREAS JORDAN ist derzeit in Albanien als UN-Wahlbeobachter fuer
kosovitische Fluechtlinge unterwegs. Fuer die akin schildert er seine
Eindruecke.

*

Sonntagmorgen in Tirana ist eine interessante Zeit der Woche.
Einerseits gibt's keinen Mercedes-Stau an der wichtigsten Kreuzung der
Stadt, wie an den anderen Tagen, andererseits scheinen
Erwerbsaktivitaeten voellig unveraendert weiterzugehen, so, als wenn
der HERR nie geboten haette, am siebenten Tag der Woche zu ruhen, oder
wenigstens sein laizistisches Pendant, das Arbeitszeitgesetz. In den
Geschaeften gibt es frisches warmes Brot, die Kuerbiskernverkaeufer
mit ihren fliegenden Standeln am Strassenrand sind aktiv, und auch die
zahlreichen aelteren Herren, deren Erwerbsaktivitaeten darauf
gruenden, unter einem Sonnenschirm am Gehsteig die Benutzung einer
Personenwaage anzubieten (- ich hab noch nie gesehen, dasz sich da
tatsaechlich wer gewogen haette! -), sind ab sieben Uhr morgens
vertreten, genauso wie unter der Woche. Sogar die Geld-Schwarzwechsler
stehen zu zahlreichen Dutzenden an der Kreuzung hinter der Bank von
Albanien, jeder von ihnen mit Buendeln von Geldscheinen in der Hand,
die Werten von tausenden bis zehntausenden Schilling entsprechen,
genauso wie von Montag bis Samstag. (Der einzige Unterschied ist, dasz
die Bank selbst geschlossen hat, aber das merkt man nur an der
Abwesenheit der Wachmannschaft mit ihren Kalaschnikows. Die Bank
selbst ist naemlich auch unter der Woche genauso leer wie am Sonntag.)
Was allerdings ein Unterschied zu den Wochentagen (und auch zu anderen
Staedten in Europa) ist, ist der Umstand, dasz man in Tirana am
Sonntag Proletarier wie aus einem Bilderbuch der Zwanzigerjahre
treffen kann, wie aus einem realsozialistischen Kitschfilm, aeltere
Herren in aelteren, dunklen Anzuegen, auch mit Krawatte, stolzen
Blickes unter ihren Schirmkappen. Meine Vermutung geht allerdings eher
in die Richtung, dasz die Leut einfach fuer'n Sonntag sonst nix zum
Anziehen haben als die Schale, in der sie vor dreissig und vor zwanzig
Jahren auf den Maiaufmarsch gegangen wurden.....

In den Aussenbezirken von Tirana trifft man bereits auf das Land in
Form zahlreicher kleiner Waegen, die von mageren, sanftaeugigen
Pferden gezogen werden. (Ich nehme an, das sind die Tiere, die in den
Romanen des 19.Jahrhunderts unter "Schindmaehre" gefuehrt werden.) Auf
diesen Wagerln wird alles moegliche und unmoegliche transportiert: Ein
Eiskasten, ja sogar Ziegel oder Aushubmaterial, und nicht zuletzt
Familienmitglieder. (Ausser den bereits genannten ubiquitaeren Ratten
sind Tiere in Tirana nicht ungewoehnlich: Grasende Kuehe mitten in der
Stadt, gelegentlich Schafe, und letztens ist zur Abend-Stosszeit der
Verkehr auf der groeszten Kreuzung der Stadt gestanden, weil jemand
eine Partie Esel quer ueber dieselbe getrieben hat. (Man stelle sich
das einmal am Gaudenzdorfer Knoten vor!)

*
Endlich aus der Stadt draussen, scheint das Leben ebenfalls seinen
ganz normalen, unsonntaeglichen Gang zu gehen: Sonnverbrannte Bauern
mit nackten Oberkoerpern rechen das frischgemaehte Heu zusammen (nix
Maschinen!), Frauen in bodenlangen schwarzen Roecken und mit riesigen
weissen Kopftuechern treiben Tiere auf die Weide, ein Mann fuehrt eine
Ziege, gefolgt von zwei Kitzen, die Strasse entlang, deren Euter in
einem schwarzen Stoffbeutel steckt. (Also quasi ein Ziegen-BH. Als
dessen Zweck vermute ich, die Milch vor den Kitzen zu bewahren.)

Im ersten Ort, den wir durchqueren, ein Mann, der in Cola-, Fanta- und
Sprite-Plastikflaschen am Strassenrand Fluessiges anbietet. Nein, kein
Kracherlstand, wie der Unkundige vermuten koennte, sondern, wie das
Schild "Lavazh" hinter ihm belegt, ein Verkaeufer von Motoroel.
Gluecklich der Durstige, der rechtzeitig belehrt wird.

Nach einer Weile geht's einen Berghang hoch, der mit Foehren
aufgeforstet worden ist (mittels Zwangsarbeit, wie eben seinerzeit
ueblich). Ploetzlich lichtet sich der Wald, hoert dann ganz auf. In
einem engen Tal neben der Strasse erkenne ich Kalkoefen. Das heiszt,
ich erkenne sie eigentlich nur deshalb, weil ich einmal an der
archaeologischen Ausgrabung eines Kalkofens aus dem Mittelalter
teilgenommen habe, und der hat ganz genauso ausgesehen. Was ich also
sehe, ist folgendes: Unterhalb einer Stelle im Hang, wo Brocken von
Kalkgestein aus dem Felsen gebrochen werden, stehen etliche kurze,
dicke, oben offene Tuerme, die in den Boden hineingebaut sind, und in
denen die kalkigen Felsbrocken gestapelt werden, die via Schubkarren
dorthin befoerdert werden. Unterhalb des Turms befindet sich ein Rost,
und unter dem wird ein Feuer entzunden (mit den Foehren des inzwischen
wieder erodierenden Hanges, die in Form von Meterscheitern in grossen
Haufen danebenliegen). So wird Kalk gebrannt. Also nicht einmal ein
praeindustrieller Erzeugungsprozess, sondern ein rein handwerklicher
Ablauf.

*

Nach dreiviertelstuendiger Fahrt ist Kruja erreicht, ein kleiner Ort
in den Bergen und das bevorzugteste Ausflugsziel der Hauptstaedter.
Der erste Eindruck ist enttaeuschend: Der Ort ist tatsaechlich nicht
sehr gross, wirkt aber ueberhaupt nicht laendlich, was wohl vor allem
an den sechs- und achtstoeckigen Wohnblocks liegt, zwischen denen sich
zwar Olivenbaeume behaupten und auch noch viele einstoeckige alte
Bauernhaeuser stehen, aber der Eindruck ist doch eher der einer
vergammelten Stadtrandsiedlung. Der Ort ist einen Berghang hochgebaut,
und der Zustand der Strasse deckt sich mit dem sonstigen Eindruck. Am
oberen Ortsrand wird es aber aus drei Gruenden interessant: Einerseits
gibt es dort den einzigen alten Bazar, der die 40 Jahre Enver Hodscha
ueberstanden hat - wohl aus Repraesentationsgruenden, so nahe der
Hauptstadt. Zweitens steht dort ein Museum, das erste in offenem
Zustand, das ich in dem Land sehen werde. (Das Nationalmuseum in der
Hauptstadt hat so unmoegliche, kurze Oeffnungszeiten, dasz es fuer
einen arbeitenden Normalsterblichen nicht zu besichtigen ist: Mo - Fr
9 bis 14 Uhr.) Und drittens ist Kruja die nationale Wallfahrtsstaette
Albaniens, weil hier Gjergj Kastrioti gelebt hat. Kastrioti wurde
Anfang des 15.Jahrhunderts als Sohn eines albanischen Fuersten als
Geisel an den Hof des Sultans in Konstantinopel verbracht,
konvertierte dort zum Islam, bekam eine militaerische Ausbildung und
den Titel "Skanderbeg" sowie militaerische Missionen fuer den
osmanischen Hof anvertraut. Als die Osmanen in der Schlacht bei Nis
ziemlich einschauten gegen die Ungarn, nuetzte er die Chance,
wechselte die Seite, vereinte ganz Albanien, das bis dahin diversesten
Fuersten unterstanden hatte, unter seiner Herrschaft und bot den
Tuerken Widerstand. (Keine Ahnung, ob sich das "Albanien" von damals
mit den heutigen Grenzen des Landes deckt, aber ich bezweifle das
stark.) Der Widerstand war dermassen erfolgreich, dasz die Tuerken das
Land erst Jahrzehnte spaeter einsackten, nach Skanderbegs Tod. (Dann
aber dafuer erfolgreich, naemlich bis 1912.) Interessant also, dasz
sich die Politik just einen spaetmittelalterlichen Feudalherren als
Nationalhelden ausgesucht hat - fuer den Anfang des Jahrhunderts ja
noch verstaendlich, aber fuer die "sozialistische" Diktatur nach dem
2.Weltkrieg?? (Das Wort "Nationalheld", "heroe kombetare", hab ich am
Anfang gruendlich missverstanden, weil " kombetare" so nach "combat"
klingt im Albanischen, der Sprache eines Landes, an das letztens die
"Sekretarja amerikane e Shtetit, Medlin Ollbrajt", einen Appell
gerichtet hat, und in dem heute eine "Tuluz Lotrek"-Ausstellung auf
dem Bulevardi Zhane D'Ark eroeffnet worden ist.)

Herr Kastrioti hat aber ausser den Jahreszahlen von gewonnenen
Schlachten gegen die Tuerken auch noch anderes hinterlassen, von dem
Museum zu seinem Ruhm abgesehen: Naemlich zum Beispiel die Bestimmung,
dasz nur heiraten duerfe, wer zu seiner Hochzeit 20 Olivenbaeume und
25 Weinstoecke gepflanzt habe. (Das erklaert fuer mich in einem
dermassen von aussen abgeschotteten und ergo auf die eigenen
Traditionen zurueckgeworfenen Land sogar, warum sich mitten in Tirana,
im Dreck des Strassenverkehrs, alte Weinstoecke bis zu den Balkons im
3.Stock der zerfallenden Wohnbloecke hinaufranken, ein Umstand, der
sogar dem Zentrum von Tirana ein ausgesprochen laendliches Gepraege
gibt. Und am Stadtrand und auf dem Land hat sowieso fast jedes Haus
seine Weinlaube entweder vorn oder hinten dran. SO viele Weintrauben
kann kein Mensch essen, aber dafuer sind sie eh nicht gedacht: Die
meisten enden als Raki, das hochprozentige Nationalgetraenk Albaniens.
Und das in einem mehrheitlich (70%) moslemischen Land - "Islam light"
eben...)

*

Vor der Ruine von Skanderbegs Burg kreuzt ein Rudel Esel die Strasse -
die Tiere schauen ziemlich abgenutzt aus, haben keine Haare mehr dort,
wo der Packsattel aufliegt, auch offene, blutende Stellen. Als
Touristenattraktion werden sie nicht gehalten, so wie's ausschaut....
Von der Burg selbst ist nicht mehr viel mehr erhalten ausser der
grandiosen Aussicht aus exponierter Lage, ein paar Mauerfundamenten
und einem innen voellig zugeschissenen Turm. Aber auf dem Gelaende
steht das ethnographische Museum - und dem habe ich einiges an
Annaeherung an Einsichten in die Zustaende hier zu verdanken.
Ueberraschend war der Zustand des Museums - das alte Haus aus dem
17.Jahrhundert war zwar schon reichlich ramponiert fuer ein Museum,
aber immer noch in viel besserem Zustand als viele Wohnhaeuser, die
ich in den letzten Wochen gesehen habe.

Die Exponate vermitteln einen sehr guten Eindruck vom Alltagsleben der
Bevoelkerung bis vor gar nicht langer Zeit, und zum Teil bis heute,
etliche dort ausgestellte Geraete werden auf dem Land immer noch
verwendet. Und die Erklaerungen, vom des Englischen nicht maechtigen
Museumsverwalter in Italienisch dargebracht, erst recht. Erstaunlich
zum Beispiel die am weitesten verbreitete traditionelle Maennertracht
des Landes: Ein knielanger Rock, zusammengenaeht aus schmalen, dicht
gewebten Baendern, was dem fertigen Kleidungsstueck die Konsistenz
eines Kettenpanzers (steif, aber durch die vielen Naehte, an denen
sich die Baender ueberlappen, doch beweglich) und ein Gewicht von
angeblich 15 kg gibt. Noch erstaunlicher, dasz dieses Kleidungsstueck
sowohl sommers als auch winters getragen wurde, und zwar bei allen
Aktivitaeten, und am erstaunlichsten der Umstand, dasz es nur einmal
im Jahr gewaschen wurde, und zwar zu Ostern. (Waehrenddessen sasz der
Besitzer nackt zu Hause und wartete darauf, dasz es trocknete, stell
ich mir vor.) Obwohl, der Hauptgrund fuer die Art dieses
Kleidungsstuecks und sein allzeitiges Tragen war in einem Land, das
dermassen waffennarrisch ist, vielleicht wirklich ein
wehrtechnischer....

Einen aehnlichen Eindruck hat auf mich das Exponat der Tracht des
Braeutigams zur Hochzeit gemacht - es inkludiert eine obligatorische
Pistole und ein Messer, und sonst nicht viel.... In dieselbe Kerbe
geht das ausgestellte "Gaestezimmer", traditionellerweise in einem
dermassen gastfreundlichen Land wie Albanien das beste Zimmer des
Hauses (wenn es denn mehrere gab), das in Abwesenheit von Gaesten gar
nicht einmal benuetzt wurde: Dort hingen die Waffen, also das, was als
das Wichtigste wahrgenommen wurde. Die dort ausgestellten Exemplare
sehen allerdings eher "selbstgeschnitzt" aus, Flinten mit knapp 2 m
langen Laeufen, deren Holz- und Eisenkomponenten am Lauf mit Draht
zusammengedreht sind, und Pistolen, wo man das Schlosz mit Schrauben
einstellen kann. Erstaunlich die Knueppel, geschwungene und gedrehte,
schaetzungsweise an die 20 kg schwere Keulen, die an der Wand haengen:
Auf Nachfrage bestaetigt der Museumsverwalter, dasz das im Lande vor
200 Jahren ein durchaus verbreitetes, probates und beliebtes Mittel
war, um sich gegenseitig um die Ecke zu bringen... (Obwohl, verglichen
mit den zweifelhaften Schusswaffen waren sie wahrscheinlich wirklich
effizienter....)

*

Zur Gastfreundschaft noch ein ueberraschendes Detail: Im ausgestellten
Wohnzimmer, das ueblicherweise auch der Aufbewahrung der Vorraete
diente, haengen einige mit weissem Tuch abgedeckte Vorratsbehaelter.
Die hat es traditionellerweise in jedem Haus gegeben, und da drin
wurden Lebensmittel fuer eventuelle Gaeste aufbewahrt, die fuer
sonstige Gelegenheiten absolut tabu waren. Nicht einmal wenn die
Familie selbst Not litt, durften diese Vorraete angeruehrt werden!
(Als ich das gehoert hab, hab ich mich gleich noch viel mehr fuer
meine internationalen Mitarbeiter geniert, die letztens vor unserem
albanischen Team lauthals diskutieret haben, ob wir sie zum Essen
einladen sollen, oder ob sie ihr Essen selber zahlen muessen, wenn wir
mit ihnen weggehen.)

Ja, und eine Geschichte zur Gastfreundschaft, die ich gehoert hab, als
Abschlusz des Themas: (angeblich eine wahre Geschichte, aber ich kann
mich nicht mehr erinnern, wer und wann): Soll ein Albaner gekoepft
werden. Und der Henker fragt ihn feixend: "Na, warst du schon einmal
in so einer verzweifelten Situation? So beschissen hast du dich noch
nie gefuehlt, stimmt's?" Meint der zu Koepfende darauf: " Doch, ich
hab mich schon viel beschissener gefuehlt!" Henker:"????" "Doch, als
ein Gast zu mir gekommen ist, und ich hab nichts gehabt, das ich ihm
haette anbieten koennen!"

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Der 1.Teil der Albanien-Eindruecke war in akin 15/00 unter "Das Beisl
im Lindenbaum" zu lesen. Fortsetzung folgt vielleicht.



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