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Aussendungszeitpunkt: 4.4.2000; 23:50
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Nigeria:

> "Im Schatten der Scharia"

Aus den Auseinandersetzungen um die Einfuehrung der islamischen
Rechtsordnung droht in Nigeria ein Buergerkrieg zu werden. Dabei
geht es allerdings nicht nur um Glaubensfragen.

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Demonstrationen und Gegendemonstrationen, Hunderte Tote, Terror in
zahlreichen Staedten und nun auch noch ein Konflikt zwischen der
Zentralregierung und den Regionen: Seit Wochen droht der
bevoelkerungsreichste Staat Afrikas, Nigeria, in einem
Buergerkrieg zu versinken.

Das Drama begann, als am 20. Februar eine christliche
Demonstration gegen die Einfuehrung des islamischen Rechts - der
Scharia - in Kaduna, der Hauptstadt des gleichnamigen
nordnigerianischen Bundesstaates, durchgefuehrt wurde. Die
Kaempfer fuer die Scharia hatten sich auf den Auftritt ihrer
Gegner gut vorbereitet. In kurzer Zeit brachten sie die
wichtigsten Plaetze Kadunas unter Kontrolle, in den beiden
folgenden Naechten terrorisierten bewaffnete Banden Stadtviertel
mit ueberwiegend christlicher Bevoelkerung. Auch in anderen
nigerianischen Staedten kam es zu Unruhen.

Praesident Olusegun Obasanjo reagierte umgehend: Gegenueber der
nordnigerianischen Oligarchie, die durch die provokative
Einfuehrung der Scharia den Konflikt heraufbeschworen hatte,
erklaerte er nach einem Treffen mit den Gouverneuren aller 36
Bundesstaaten die Scharia fuer ungueltig. Doch schon am Tag darauf
unterzeichnete der Gouverneur von Kano ein Scharia-Gesetz.

Auch andere Gouverneure beharrten darauf, nicht an Obasanjos
Weisung gebunden zu sein. Wichtige Politiker des Nordens, unter
ihnen mit Shehu Shagari und General Muhammadu Buhari zwei
ehemalige Staatschefs, behaupteten gar, die Abschaffung der
Scharia durch die Zentralregierung sei illegal. Am 8. Maerz
muendete eine islamistische Demonstration in Sokoto in neue
Gewalttaten. Obasanjo konnte die Gouverneure nur zu der Zusage
bewegen, sich in der Scharia-Frage zurueckzuhalten. Seine
Regierung wagt seither nicht, mit einer konsequenten Durchsetzung
der Zentralgewalt zu reagieren.

Obwohl Islamisten an den Massakern beteiligt waren, ging die
Initiative von der islamischen Oligarchie und ihren Verbuendeten
im Militaerapparat aus. Ein Teil der Koalition, die Obasanjos Sieg
bei den Praesidentschaftswahlen im Februar 1999 gesichert hatte,
wendet sich nun gegen ihn. Da klingt es beschoenigend, wenn sein
Sprecher Doyin Okupe erklaert: "Was wir durchleben, sind das
anfaengliche Trauma und die Schmerzen, die die Geburt einer
Demokratie begleiten."

Es koennte auch der Todeskampf der Zivilherrschaft sein. Kaum ein
Landesteil ist von blutigen Konflikten zwischen unterschiedlichen
Bevoelkerungsgruppen verschont. Die versprochenen Zugestaendnisse
an die diskriminierten Bevoelkerungsgruppen in den Oel-
Foerdergebieten des Niger-Deltas waren zu halbherzig und kamen zu
spaet, um die Gemueter zu beruhigen, zumal der Militaerterror
weitergeht.

In den Gebieten "seiner" Bevoelkerungsgruppe, der Yoruba, wird
Obasanjo von der radikalen Bewegung Oodua People's Congress (OPC)
als Verraeter betrachtet, der die Vorherrschaft des Nordens nur
getarnt, nicht aber gebrochen hat. Sowohl der OPC als auch
radikale Milizen im Niger-Delta drohen mit Separatismus, wenn die
Zentralregierung ihren Forderungen nach einer gerechteren
Verteilung von Macht und Ressourcen nicht nachkommt.

Die Scharia-Unruhen haben nicht allein die Konflikte auf eine
bislang verschont gebliebene Region ausgeweitet, sondern auch das
Trauma des Biafra-Krieges wieder erweckt. Die Gewalt richtet sich
vorrangig gegen die Igbo - ein von Igbo-Offizieren gefuehrter
Sezessionsversuch hatte 1966 zu einem dreijaehrigen Buergerkrieg
gefuehrt, der ein bis zwei Millionen Menschen das Leben kostete.
Anlass fuer den Versuch, einen Staat Biafra aus Nigeria
herauszutrennen, waren Massaker an Igbo in Nordnigeria.

Anfang Maerz drohten nun die fuenf Gouverneure der suedoestlichen
Bundesstaaten in einer gemeinsamen Erklaerung: "Jeder weitere
Angriff auf Menschen aus dem Osten wird uns dazu zwingen, unseren
Glauben an das Weiterbestehen einer gemeinsamen Existenz in
Nigeria zu ueberdenken." Dass Sprecher aller Bevoelkerungsgruppen
ueber ihre Benachteiligung klagen, gibt Obasanjo die Moeglichkeit,
sich als Vertreter der nationalen Einheit gegen den Egoismus der
Regionen darzustellen.

Der Ex-Militaerdiktator und spaetere Oppositionelle Obasanjo war
zwar immer ein Mann der Oligarchie, der sich Demokratisierung vor
allem als Interessenausgleich zwischen deren verschiedenen
Fraktionen vorstellt. Einmal an der Macht, propagierte er aber,
dass der Wiederaufbau der Wirtschaft auch fuer Teile der
Oligarchie unbequeme Masznahmen erfordere, nicht zuletzt den Kampf
gegen die Korruption.

Vor allem die Zwangspensionierung von Offizieren und der Versuch,
Tarnfirmen von Generaelen aus dem Oel-Geschaeft zu verdraengen,
haben im Norden fuer Aerger gesorgt - insbesondere bei jenen, die,
wie der ehemalige Militaerdiktator Ibrahim Babangida, Obasanjos
Wahlkampf mitfinanziert hatten und sich nun betrogen fuehlten.
Babangida und andere ehemalige Unterstuetzer verbuendeten sich
denn auch rasch mit den Anhaengern des verstorbenen Ex-Diktators
Sani Abacha, die im Juli 1999 die Bewegung fuer die Scharia im
Bundesstaat Zamfara begonnen hatten.

Der Schwenk zur fundamentalistischen Sittenstrenge kam fuer die
Bevoelkerung ueberraschend. Im Wahlkampf des letzten Jahres hatte
die Scharia keine Rolle gespielt; damals hatten die Politiker, so
Altine Binta von Women in Nigeria, noch "all diese freizuegigen
Frauen mit lockeren Moralvorstellungen auf Stimmenfang geschickt".
Mit Hilfe der Scharia, die der Zentralregierung das Justizwesen
weitgehend entziehen wuerde, will der Norden seine Macht ausbauen.
Auch Oppositionelle wie Binta muessen die Scharia fuerchten: "Sie
glauben, dass die Scharia das strengstmoegliche Gesetz ist, und
sie wollen die Massen unterdruecken, sodass niemand sie zur
Verantwortung ziehen kann."

Die Oligarchie des Nordens kann ueber gezielte Vorstoesze bei der
Anwendung der Scharia die Zentralregierung vorfuehren und
destabilisieren. Am Separatismus hat sie kein Interesse, denn das
Oel, das 90 Prozent der Deviseneinnahmen einbringt, wird allein im
Sueden gefoerdert. Obasanjo steht vor der Wahl, sich durch
Zugestaendnisse Ruhe zu erkaufen oder eine Konfrontation zu wagen,
bei der er sich der Loyalitaet seiner engsten Mitarbeiter nicht
sicher sein kann: Einer seiner Minister soll 2000 Islamisten fuer
den Kampf gegen die Scharia-Gegner rekrutiert haben. Eine Gruppe
von Politikern aus dem Norden hat nun den Obersten Gerichtshof
angerufen, um ueber die Verfassungsmaeszigkeit der Scharia
entscheiden zu lassen. Die juristische Lage ist klar, denn die
Verfassung verbietet die Einfuehrung einer Staatsreligion und
garantiert das Recht auf den Uebertritt zu einer anderen Religion,
waehrend die Scharia fuer abtruennige Muslime die Todesstrafe
vorsieht.

Allerdings gelten die obersten Richter als Guenstlinge des
reaktionaersten Fluegels der nordnigerianischen Oligarchie. Am 13.
Maerz sprach sich Obasanjo fuer eine "politische Loesung" aus,
denn, so sein Sprecher Okupe: "Eine juristische Loesung koennte zu
Chaos, Unruhe und weiteren Feindseligkeiten fuehren".


*Joern Schulz, Jungle World, 22. Maerz 2000 /
gek.*

Quelle: http://www.jungleworld.com /_2000/13/24b.htm



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