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akin-Pressedienst.
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Aussendungszeitpunkt: 11.12.1999
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WTO/Nachtrag:
> Schlaflos in Seattle
"Splitter", Berichte, Einschaetzungen von der wildesten Handelskonferenz, die die Welt je
gesehen hat
*
Ohne Fidel
DIENSTAG. Fidel Castro wollte urspruenglich auch nach Seattle zur WTO-Tagung
kommen. Schlieszlich ist Cuba Mitglied der Welthandelsorganisation. Das Hotelzimmer war
schon reserviert. Doch eine Kampagne des Abgeordneten Lincold Diaz-Balart
(Republikaner, Florida, in Cuba geboren) fuehrte am 30.November doch noch zur Absage.
Diaz verschickte Tausende von Briefen an Staatsanwaelte im ganzen Land, mit der
Aufforderung, Castro bei seinem Grenzuebertritt wegen Mordes verhaften zu lassen. Er
bezog sich dabei auf einen Vorfall im Februar 1996: Damals wurden zwei amerikanische
Kleinflugzeuge, die in kubanisches Hoheitsgebiet vordrangen, von Abfangjaegern
abgeschossen. Die vier sich an Bord befindenden Exilkubaner kamen dabei ums Leben.
*Seattle PI/akin*
*
Nichts geht mehr
DIENSTAG. Seattle, 30. November 1999 -- In einer bunten und maechtigen Bewegung
kamen 50.000 Gewerkschafts-, Umwelt-, Bauern-, Verbraucherschutz- und andere
Aktivisten, um die Konferenz der Welthandelsorganisation am ersten Tag ihrer
Ministersitzung "umzudrehen". Im fruehen Morgennieselregen liefen die Demonstranten
von allen Seiten zum Konferenzzentrum, in der die hohe Sitzung der hohen Herren
stattfindensollte, und blockierten Schluesseldurchgaenge, waehrend die Polizei versuchte,
sie vom Gebaeude weg zu halten. Trommelnd und singend, bildeten sie Menschenketten
an den Durchgaengen -- an den Eingaengen zum Sheraton-Hotel, in dem viele Delegierte
wohnen, und um das Paramounttheater, in dem die WTO-Eroeffnungszeremonie
stattfinden sollte. Einige Menschenrechts-Aktivisten schwindelten sich in das Theater und
nahmen die Gelegenheit wahr, um zu den knapp hundert Delegierten zu sprechen, die es
geschafft hatten, zur geplanten Zeremonie zu kommen. Als die Aktivisten sprachen,
tauchten schwerbewaffnete Sicherheitsleute auf, die sie aus der Halle schleppten. Polizei
in Kampfausruestung rueckte mit geschwungenem Knueppel, mit Pfefferspray und
Traenengas an. Sogar Panzerfahrzeuge und automatische Waffen waren zu sehen. Trotz
nur sehr geringer Gewalttaetigkeit waehrend des gesamten Tages, setzte die Polizei immer
wieder Traenengas und Knueppel ein und schosz mindesten einmal voellig unbegruendet
mit Gummigewehrkugeln in eine Masse ruhiger Demonstranten. Eine Gruppe von ca. 30 in
Schwarz gekleideten Demonstranten sammelte sich im Stadtzentrum und zerschlug
Schaufensterscheiben. Waehrend des Tagesverlaufs wuchs die Menge an. Einige
Delegierte und Journalisten wurden im Paramounttheater eingeschlossen. Die meisten
anderen blieben aber ausgesperrt. Viele muszten in ihren Hotels bleiben. Andere konnten
nicht dorthin zurueck. UNO-Generalsekretaer Khofi Annan, US-Auszenministerin
Madelaine Albright und US-Handelsbeauftragte Charlene Barshefsky waren ebenfalls aus
dem Paramount fuer den Tag ausgesperrt, was den Aufschub der Eroeffnungszeremonie
erzwang. Am Nachmittag stieszen Zehntausende von Arbeitergewerkschaftlern zu den
Demonstranten. Die Menschenmenge auf den Straszen schwoll an, als immer mehr und
mehr Menschen das Stadtzentrum fuellten. Waehrend der Daemmerung veraenderte sich
die Lage. Als sich Tausende Demonstranten bis in die Dunkelheit auf den Straszen
aufhielten, fing die Polizei wieder an, Traenengasgranaten abzufeuern und mit
Gummigewehrkugeln blind in die friedliche Menge zu schieszen. Die Folge waren schwere
Verletzungen, die zu heftigen Reaktionen einiger Demonstranten und vandalistischen
Mitlaeufer fuehrten. Die Polizei verhaengte eine Ausgangssperre und es kursierten
Geruechte, dasz das Kriegsrecht erklaert werden wuerde, es wurde kolportiert, dasz am
Vorabend des Besuchs von Praesident Clinton die Nationalgarde eintreffen werde.
Berichte sprachen davon, dasz innerhalb des weiszen Hauses unter Clintons
Untergebenen darueber gestritten wurde, wie der Praesident auf die Situationreagieren
sollte. Diese Sitzung haette fuer Clinton das Kronjuwel seines
auszenwirtschaftspolitischen
Vermaechtnisses sein sollen. Undtatsaechlich wurde es zu einem absoluten Reinfall nicht
nur fuer den Praesidenten, sondern auch fuer die Konzernlobbies, die den Freihandel und
die WTO-Agenda vorantreiben wollen. *Joshua Karliner per StopWTORound-Mailiglist / Uebers.
akin*
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75000 Leute auf der Strasze
DIENSTAG. An den Demonstrationen, die gegen die WTO Milleniumsrunde abgehalten
wurden und zu denen "ATTAC", die "Bauernvereinigung" und die "Koordination fuer
Buergerkontrolle der WTO", aufgerufen hatte, und an denen sich hunderte von Vereinen
und Gewerkschaften genauso wie politische Parteien beteiligten war ein groszer Erfolg in
ganz Frankreich. Alle zusammen waren mehr als 75.000 Demonstranten in 80 Staedten.
*Aus einer Presseaussendung von ATTAC, 30.11.99*
Adresse: attac, 9bis, rue de Valence, F-75005 Paris, Tel. 0033-1-43363054, Fax
43362626, e-mail: attacint@attac.org , http://Attac.org
*
Oesterreichische Verhaeltnisse
MITTWOCH. Umweltaktivisten von GLOBAL 2000 hatten gestern - als Zeichen der
Solidaritaet mit den Demonstrationen in anderen Laendern - in einer spektakulaeren Aktion
das Dach des Wirtschaftsministerium in Wien erklommen und ein Riesen-Transparent
gegen die WTO entrollt. Ausdruecklich auf Distanz gehen die Umweltschuetzer zu den
gewalttaetigen Ausschreitungen einzelner Gruppen in Seattle und anderen Staedten.
*Aus einer Presseaussendung von Global 2000, 1.12.99*
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Zweierlei Berichte
MITTWOCH. Heute, 1.12. wurde um 15h im CNN-Bericht ueber Seattle auch ein
Koordinator der gewaltfreien Demos interviewt, der klar ihre Haltung darlegte. Der CNN-
Kommentator bekraeftigte die durchwegs gewaltfreien Proteste von NGOS,
Gewerkschaften und Basisinitiativen. Er ergaenzte, dasz die Gewalttaten von einer kleinen
Gruppe aus Oregon, die sich als "Anarchisten" bezeichnen ausgegangen ist, die aber - laut
CNN-Kommentar - im Verdacht stehen, Provokateure zu sein. Leider wurde der Seattle-
Beitrag eine Stunde spaeter um um diesen Teil gekuerzt - wer da wohl die Zensurschere
fuehrte!? Dagegen ist heute in den "Salzburger Nachrichten" (Seite 13), unter "Aufstand
in
Seattle" nichts von den gewaltfreien Aktionen und den Anliegen der NGOs zu lesen,
sondern Saetze wie: "Die fuer Auszenstehende schwer zu durchschauende Organisation
(WTO) mit Sitz in Genf stellt fuer die Demonstranten offenkundig eine Adresse fuer alles
Schlechte auf der Welt dar. Und so demonstrieren die 'wuetenden Omas' gemeinsam mit
Stahlarbeitern und als Schildkroeten verkleidete Tierschuetzer finden sich an der Seite
maskierter Anarchos..." Zitiert wird der WTO-Chef Mike Moore bei einem Symposium mit
Umwelt-, Verbraucherschutz- und Entwicklungshilfegruppen: "Die WTO ist nicht Agent der
Interessen der multinationalen Konzerne, sie ist kein Weltpolizist" ohne ueber
Gegenargumente der NGOs zu berichten. Und die danebenstehende Glosse von Hedwig
Kainberger "Reden wird man doch muessen!" ist in ihrer Tendenz ebenfalls eine
Zumutung. Wenn ich dagegen die ausfuehrlichen Berichte des konservativen Pariser "Le
Figaro" (v. 29.11.) ueber die Proteste vergleiche, wird mir wieder einmal der Niedergang
von - als serioes geltenden - oesterreichischen Medien bewuszt. Und das ORF-
"Mittagsjournal" (v. heute, 1.12.) liesz nur einen jammernden Farnleitner zu Wort kommen,
der sich ueber die unfaehige Polizei von Seattle beklagte, ohne fuer unsere Anliegen
Verstaendnis zu zeigen. Offenbar hat er aus seinem MAI-Debakel nichts gelernt.
*Matthias Reichl per eMail*
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Wer hat da jetzt wen verhaftet?
FREITAG. Obgleich einige Kaeufer noch aus einer eingeschraenkten im Stadtzentrum
gelegenen Zone heraus gehalten wurden, montierten die Einzelhaendler, die eifrig sind,
zum normalen Weihnachten-Jahreszeitprogramm zurueckzugehen, das Holz von ihren
Schaufenstern ab und oeffneten ihre Laeden heute morgen wieder.
Die Beschraenkungen, die waehrend der Anti-WTO-Proteste auferlegt wurden, werden
eingeplant. Um Mitternacht sind sie zu Ende und morgen, wird erwartet, dasz die meisten
Laeden des Stadtzentrums wieder, wie ueblich Funktionieren.
[...] "Das haette auch anders ausgehen koennen." sagte Kapitaen Ron Griffin, Polizeichefs
von King County.
Griffin und John Sellers, Direktor der in Berkeley beheimateten Ruckus Society ["Krawall
Gesellschaft", die heiszt wirklich so, Anm. akin], brauchten gestern nachmittag Stunden um
ueber ein Ende einer Blockade des Gefaengnisses durch mehrere hundert Protestierer zu
verhandeln, welche die Freigabe jener verlangten, die wegend der Anti-WTO-
Demonstrationen festgehalten werden.
[...] Am Mittwoch hatten gut gewappnete Anti-Krawall-Truppen Demonstranten durch das
Stadtzentrum Seattles und Capitol Hill gejagt, Massenfestnahmen durchgefuehrt und die
Luft mit Traenengas gefuellt.
Gestern hielt sich die Polizei zurueck und vermied direkte Konfrontation mit den Massen.
Stadtbeamte unterdessen erleichterten die Durchfuehrung der 24-stuendigen
Beschraenkungen der Proteste und der freien Bewegung in den Hauserbloecken um das
Washington State Convention and Trade Center.
Es schien sich auszuzahlen. Gestern zeigte sich, dasz, was eine Phantasie des
Buergermeisters Paul Schell gehalten worden war, eine Wirklichkeit sein konnte - die
Koexistenz einer glatt laufenden WTO-Sitzung und der groszen Proteste gegen sie.
[...] Aber die Straszenschlachten - mit Bildern uebertragen um die Welt vom
darniederliegenden und ramponierten Stadtzentrum Seattles, dann besetzt durch
Riotpolizei -- hinterlaeszt Narben und Fragen:
Seattles Polizeichef Norm Stamper bestaetigte gestern, dasz einige Offiziere unschuldige
Zuschauer angegriffen haben.
King County Abgeordneter Larry Gossett sagte, er wolle Beanstandungen der Buerger
ueber Polizeiuebergriffe im tumultigen Zusammentreffen der Mittwochnacht zwischen
Offizieren und Demonstranten ueberpruefen.
In Washington D.C., Generalanwaeltin Janet Reno versprach eine Ueberpruefung der
Polizeistellungnahmen. " Ich denke, dasz es fuer uns alle wichtig sein wird, sich zusammen
hinzusetzen und dieses zu betrachten und wie wir versuchen koennen Situationen wie
diese in der Zukunft zu vermeiden, " stellte Reno gestern bei ihrer woechentliche
Pressekonferenz fest. [...]
Viele der Festgenommenen denen muessen freigelassen werden, weil die Polizei keine
Beschuldigung formulieren kann. [...] "Sie wissen nicht wer zu wem gehoert und auch nicht,
wer was getan hat" sagte ein [hoeherer] Beamter, "Bei 200 bis 300 Leuten, haben sie keine
Idee, wer sie festgenommen hat oder warum." *David Postman , Seattle Times, 3.12.99*
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Y2K: Die WTO-Version
SONNTAG. All das Chaos bei der Konferenz ging auch an der Internet-Site der WTO nicht
spurlos vorueber. Man schaffte es gerade einmal 3 Pressebriefings waehrend der
Konferenzwirren ins Netz zu stellen. Den automatischen Zaehler auf der
Begrueszungsseite, der vor der Konferenz die Tage bis zur verkuendete, hatte man dabei
wohl uebersehen. Und so war am 5.12. unter www.wto.org zu lesen: "There are -12 days to
go":
*akin*
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