**************************************************************************
akin-Pressedienst. *
Elektronische Teilwiedergabe der *
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. *
Texte im akin-pd muessen aber nicht wortidentisch mit den in der *
Papierausgabe veroeffentlichten sein. *
Nachdruck von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. *
Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der *
Verantwortung der VerfasserInnen. *
Ein Nachdruck von Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt *
nichts ueber eine anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. *
**************************************************************************
Aussendezeitpunkt: Di, 22.06.99, 15:11 *
**************************************************************************
 
Euromarsch in Koeln:
 
> Vom Wellfare- zum Workfare-System
 
Von der Forderung nach Arbeit zur Forderung nach besserem Leben
 
Die Konsequenzen des EU-Gipfels fuer die Regierenden und fuer die
Sozialen Bewegungen
 
*
 
Weitestgehend ignoriert von den groszen Medien fanden parallel zum
EU-Regierungsgipfel in Koeln Anfang dieses Monats zwei aeuszerst
bemerkenswerte Groszereignisse statt: Erwerbslosen- und
Sozialinitiativen aus ganz Europa trafen sich, um den Regierenden
der EU und der Oeffentlichkeit ihre Forderungen zu praesentieren:
Zum einen fand wie bereits vor zwei Jahren anlaeszlich des
Amsterdamer Regierungsgipfels eine Groszdemonstration statt. Ueber
30.000 Menschen aus ganz Europa, aber auch aus den Laendern des
Suedens demonstrierten "fuer ein anderes Europa". Die
Demonstration war vor allem wegen der internationalen
Zusammensetzung und auch der Buntheit ein Meilenstein in der
Herausbildung eines "Europas der Buergerinnen und Buerger". Neben
den Sozialbewegungen waren aber auch Umwelt-, Frauen und
Menschenrechtsgruppen vertreten. Gefordert wurde vor allem eine
menschenfreundlichere Einwanderungspolitik. Besonders stark
praesent war aber die Forderung nach einer friedlichen Beilegung
des Kosovo-Konfliktes. Das zweite grosze Ereignis parallel zum EU-
Regierungsgipfel war ein sogenannter "Gegengipfel", auf dem
alternative Konzepte zum Europa der EU diskutiert und entwickelt
wurden. Besondere Bedeutung unter den vielen Workshops, Seminaren
und Hearings verdient dabei das "Parlament der Erwerbslosen", auf
dem die Erfahrungen und Forderungen der Erwerbsloseninitiativen
diskutiert und aufeinander abgestimmt wurden.
 
Auf Basis der zweijaehrigen Erfahrung hat sich innerhalb der
Euromarsch-Bewegung eine Verschiebung hinsichtlich der Gewichtung
der einzelnen Forderungen ergeben. Waehrend urspruenglich die
Hauptbetonung auf der Forderung nach einer radikalen Verkuerzung
der Arbeitszeit lag, stehen nunmehr die Ablehnung "ungeschuetzter
Arbeitsverhaeltnisse" (Teilzeitarbeit, Werkvertraege, Leiharbeit
...) und die Forderung nach einer garantierten Mindestsicherung im
Vordergrund. Diese Umgewichtung in den Forderungen ist Resultat
der raschen, aber stillen Verwandlung der EU-Laender vom Wellfare-
Staat (Wohlfahrtsstaat) hin zum Workfare-Staat (dem
"Arbeitsstaat"). Eine Vorreiterrolle in diesem Prozesz spielen die
Niederlande und Groszbritannien. Die Ergebnisse des Koelner
Regierungsgipfel scheinen die Befuerchtungen der
Erwerbsloseninitiativen zu bestaetigen (Die Ziffern in Klammer
geben jeweils die Kapitelnummern des offiziellen
Abschluszberichtes an; siehe auch weitere Mail im heutigen akin-pd:
"EU-Gipfel (II)):
 
Die Wirtschaftspolitik der EU bleibt weiterhin in ihrer Struktur
auf die Foerderung der Unternehmen und der Besitzer von
Finanzmitteln ausgerichtet. (6, 20) Die Foerderung etwa der
Nachfrage bzw. der oeffentlichen Dienstleistungen spielt nach wie
vor kaum eine Rolle, auch eine echte Verkuerzung der Arbeitszeit,
die Erarbeitung gemeinsame Mindeststandards im Sozialwesen auf
hohem Niveau wird nicht einmal andiskutiert. Vielmehr bestaetigen
sowohl die Abschluszdokumente des Wiener Regierungsgipfels vom
Dezember 1998 als auch des juengsten Regierungsgipfels in Koeln
das Festhalten an der neoliberalen Linie von Cardiff
(Regierungsgipfel Juni 1998). Der in Koeln angeregte
"makrooekonomische Dialog" zwischen den Akteuren (Regierungen,
Europaeische Zentralbank, Arbeitnehmern und Arbeitgebern) ist in
Wirklichkeit kein Dialog, sondern eine geschicktere Umsetzungs-
und Einbindungsstrategie zur Durchsetzung der neoliberalen
Politik.
 
Die Aufnahme des Beschaeftigungsthemas in die Agenda der EU
gewinnt konsequenterweise eine spezifische Dynamik: WENN der Markt
ohnehin alles bestens regelt und sich durch Zurueckdraengung
staatlicher Umverteilungs- und Schutzmechanismen maximales
Wirtschaftswachstum und damit ein Abbau der Erwerbslosigkeit
ergibt, dann muesse lediglich am Arbeitsmarkt (also bei den
Arbeitssuchenden) eine "Verbesserung der Effizienz" eintreten (7).
 
Und gemaesz diesem Dogma geht es dann um
"Beschaeftigungsfaehigkeit" und um "Unternehmergeist" (7) ( als ob
nicht auf einen offenen Normalarbeitsplatz die vielfache Anzahl
von Arbeitssuchenden kaeme), "Abbau von Hemmnissen im Bereich
beschaeftigungsintensiver Dienstleistungen",
"Beschaeftigungsfoerdernde und sozial wirksame Innovationen auf
den Arbeitsmaerkten" und "Aenderungen in der Arbeitsorganisation
und geaenderte Arbeitszeitregelungen" (10), was nichts anderes
bedeutet als den Abbau des angeblich beschaeftigungshemmenden
Normalarbeitsverhaeltnisses. Dasz die am Koelner Regierungsgipfel
beschlossene Entwicklung hin zu prekaeren, ungeschuetzten
Arbeitsverhaeltnissen kein bloszes Papier bleibt, sondern
zunehmend fuer alle EU-Mitglieder auch verbindlich zu werden
droht, dafuer sieht das Abschluszdokument ebenfalls Schritte vor:
Es sollen die arbeitsmarktpolitischen Masznahmen durch
zusaetzliche nachpruefbare Zielsetzungen noch effektiver gestaltet
werden (10), die EU-Kommission soll aus Best-Practice-Vergleichen
konkrete Empfehlungen fuer beschaeftigungsrelevante Masznahmen der
Mitgliedstaaten ableiten und neue beschaeftigungspolitischen
Leitlinien fuer das Jahr 2000 im September 1999 unterbreiten (9).
 
Wie massiv der Druck in Richtung amerikanisierter bzw. britisch-
niederlaendischer Arbeitsverhaeltnisse ist, zeigt gerade ein
sozialdemokratisches Strategiepapier "Weg nach vorne fuer Europas
Sozialdemokraten". In ihm wird den europaeischen Arbeitnehmern der
Ball bei der Bewaeltigung des Beschaeftigungsproblems zugespielt:
Sie mueszten Verantwortung zeigen, mueszten auf geaenderte
Anforderungen reagieren (siehe weitere Mail im akin-pd:
EU-Gipfel (III)). Hinter diesem Papier
stehen zwei der drei maechtigsten sozialdemokratischen
Regierungschefs innerhalb der EU- naemlich Tony Blair und Gerhard
Schroeder. Es ist hier nicht der Platz, eine armutsverhindernde
Gegenstrategie zu beschreiben. Unabdingbare Voraussetzungen aber
fuer eine solche Politik mueszten aber sein: Verhinderung aller
Arbeitsformen, die auf ungeschuetzte Arbeitsverhaeltnisse
hinauslaufen; Dort, wo Flexibilisierungen erfolgen, muessen diese
im Interesse der ArbeitnehmerInnen erfolgen und muessen
entsprechend sozialrechtlich abgesichert sein; Eine Sozialpolitik,
die diesen Namen verdient, musz die Wirtschaftspolitik und die
Arbeitszeitpolitik miteinbeziehen und einen massive
Richtungswandel weg von neoliberalen Modellen zur Folge haben;
Eine aktive Arbeitsmarktpolitik musz neue, an den Beduerfnissen
der Gesellschaft orientierte Taetigkeitsbereiche schaffen statt
blosz Erwerbslose fuer einen immer kleiner werdenden Arbeitsmarkt
zurechtzurichten; Der Druck auf Erwerbslose, Notstands- und
Sozialhilfe mit der Verpflichtung zur Annahme von Arbeit zu
verknuepfen, musz zurueckgenommen werden. Denn nichts ist unwahrer
als das Bild, das Menschen keine SINNVOLLE Taetigkeiten verrichten
wollen.
 
Soweit aus meiner Sicht eine unvollstaendige Auflistung von
Mimimalstandards fuer eine armutsverhindernde Strategie, die
diesen Namen auch verdient. Was man sich aber immer vor Augen
halten sollte: Die Entscheidungen ueber die Sozialpolitik in
Oesterreich werden zunehmend auf EU-Ebene entschieden. Insofern
waren die Ereignisse in Koeln von groeszter Bedeutung. *Walther Schuetz*
 
*
 
Info: Walther Schuetz, Kaerntner Netzwerk gegen Armut und
Ausgrenzung, Rathausgasse 2, A-9500 Villach; Tel. 4242/24617; Fax
4242/24617; e-mail: oeie-knt@magnet.at
 
Ein Interview mit einer der Sprecherinnen von AC!, naemlich Irène
Bonnaud (E-mail: ireneb@ras.eu.org) wurde ueber Radio AGORA am 12.
Juni 1999 ausgestrahlt. Es ist auf Kassette im Buero des Kaerntner
Netzwerkes gegen Armut und Ausgrenzung gegen Kostenersatz
erhaeltlich!
 
 
*************************************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1010 wien, wipplingerstrasze 23/20
kontakt: bernhard redl
vox: ++43 (0222) 535-62-00
fax: ++43 (0222) 535-38-56
redaktion.akin@signale.comlink.apc.org
http://akin.mediaweb.at
pgp-key (2.6.2i) auf anfrage
Konto: 223-102-976/00, Bank Austria
BLZ 12000, Verwendungszweck: akin