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Aussendezeitpunkt: Di, 15.06.99, 13:53 *
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Der Koelner Gipfel:
 
> Neue Fuesze fuer den Euromarsch
 
Eine Erste Bilanz
 
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Die "Vorhut der sozialen Bewegung fuer ein anderes Europa" nannte
Karel Gacoms, Streikfuehrer bei Renault Vilvoorde 1997, die
Erwerbslosen, die am 28. Mai in Koeln von ihren Maerschen aus
Bruessel, Prag und Sueddeutschland eingetroffen waren, um am
naechsten Tag mit Gewerkschaftern, Fluechtlingen und MigrantInnen,
Vertretern der kurdischen Befreiungsbewegung, Antifas und
politischen Organisationen zur zweiten grossen europaeischen
Demonstration gegen Erwerbslosigkeit, Ausgrenzung, Rassismus und
Krieg zusammenzukommen.
 
Ein Volksfest zur Verteidigung der Menschenrechte nannte ein
afrikanischer Asylbewerber aus Jena, Teilnehmer an der Fahrraddemo
aus Prag, die Demonstration am 29.Mai. In ihrer Froehlichkeit,
Buntheit und Lautstaerke war es eine Demonstration, wie es sie in
Deutschland noch nicht gegeben hat. Der Mobilisierungserfolg von
Amsterdam konnte wiederholt werden. Mit 30.000 Teilnehmenden wurde
dieselbe Groessenordnung erreicht wie vor zwei Jahren (die
Amsterdamer Demo zaehlte nach Angaben der Organisatoren 35.000
Teilnehmende, es war die Polizei, die damals von 50.000 sprach).
 
Die Zahlen verbergen jedoch Verschiebungen: Die Beteiligung der
Erwerbslosen hat abgenommen, das schlug sich auch in der
halbierten Zahl der Marschierenden nieder. In Amsterdam waren 600
zusammengekommen, in Koeln ueber 300. Die gewerkschaftliche
Praesenz war geringer als die Unterstuetzung fuer den
Gewerkschafteraufruf hatte vermuten lassen. Aus der BRD war nur
die NGG (Nahrungs- und Genuszmittelgewerkschaft?, Anm.) zu sehen -
- und eine einsame OeTV-Fahne; die Beteiligung aus Griechenland
und Italien wurde durch den Krieg stark behindert. Die Griechen
hatten urspruenglich vor, mit einem ganzen Zug bzw. mehreren
Bussen zu kommen; wegen des Krieges schmolz die Delegation auf 120
zusammen. In Italien fand am selben Wochenende eine nationale
Antikriegsdemonstration statt. Die "sozialen Zentren" (Autonome)
kamen deshalb nicht und mobilisierten statt dessen nach Bari.
 
Aus England fehlten die Liverpooler Dockers; In Spanien ist die
Mobilisierung ueber die anarchosyndikalistische CGT nicht
hinausgekommen; Portugal und Norwegen fehlten ganz. Dafuer gab es
in der schwedischen Delegation auch eine finnische Beteiligung,
der zum Abschluss der Demonstration die Stafette uebergeben wurde
-- der naechste EU-Gipfel findet in Finnland statt.
 
Doch es gab andere Gesichter, die in Amsterdam nicht dabeigewesen
waren: Die Fluechtlinge, darunter zahlreiche Afrikaner und Kurden;
die Antifas; der kurdische Widerstand; eine kleine polnische
Delegation; eine Gruppe Russen; die indischen Landarbeiter, die
die Interkontinentale Karawane bildeten. Sie belegten
eindruecklich, dass das "andere Europa", das die Euromaersche im
Sinn haben, sich nicht auf die Grenzen der EU und auch nicht auf
die geografischen Grenzen Europas beschraenkt. Hier bildet sich
ein politischer Europabegriff heraus, der sich mit den Grenzen der
EU und des Schengener Abkommens nicht deckt.
 
Die Groessenordnung der Mobilisierung konnte gehalten werden, weil
die Euromaersche ihrer Grundidee treu geblieben sind: Sie
verstehen sich nicht nur als Bewegung der Erwerbslosen, sondern
als breite, europaweite soziale Bewegung gegen Erwerbslosigkeit
mit all ihren Begleitumstaenden und Folgen. Deswegen haben sie auf
der Koelner Konferenz im Januar den Begriff der Ausgrenzung
praezisiert und um die rassistische Ausgrenzung erweitert; dies
machte es moeglich, dass die Fahrradkarawane aus Prag von den
Euromaerschen, der Karawane der Fluechtlinge und MigrantInnen und
der Karawane Geld oder Leben gemeinsam durchgefuehrt wurde.
 
Die Maersche haben im April auf den Krieg mit einer Erklaerung
reagiert, in der sie den Zusammenhang zwischen Armut, Ausgrenzung
und Krieg herstellen und den Willen der Maersche betonen, konkrete
Schritte fuer eine Vernetzung und Kommunikation der Voelker
untereinander auch auf dem Balkan zu unternehmen. Frei von
Reibungsmomenten war diese Ausweitung nicht; vor allem die Losung
"Nein zum Krieg" stiess bei einigen TeilnehmerInnen aus Frankreich
auf Ablehnung. Hier steht einer der Erwerbslosenverbaende (MNCP)
den Gruenen nah; die Gruenen in der franzoesischen Regierung
gehoeren zu den aergsten Kriegstreibern.
 
Die gewonnene soziale Breite hat auch dazu gefuehrt, dass
Maersche, Demonstration und Gegengipfel, die in Amsterdam noch
getrennt liefen, diesmal unter dem gemeinsamen Dach der Maersche,
der Studierenden und der politischen Jugendorganisationen
durchgefuehrt wurden. Auf dem Abschlussplenum des
Alternativgipfels trugen verschiedene Netzwerke die Ergebnisse
ihrer Arbeit und ihre weiteren Projekte vor: die Euromaersche,
"Kein Mensch ist illegal", die Studierenden, die Frauen. Leider
fehlte der Chemiekreis, der ein sehr erfolgreiches eintaegiges
Forum mit internationaler Beteiligung bestritten hat, leider auch
die Antifas, deren europaeisches Treffen -- wie gesagt -- nicht
zustandegekommen war.
 
Auch der Alternativgipfel hatte eine neue Qualitaet, und es tat
keinen Abbruch, dass die Beteiligung daran mit 400 Leuten nur halb
so stark war wie in Amsterdam. Er wurde von den sozialen
Bewegungen, die nach Koeln mobilisiert haben, als Forum fuer ihren
Dialog und die weitere Planung ihrer Arbeit genutzt. Damit legte
er die Grundlage fuer eine weitere Zusammenarbeit, die weit ueber
die Euromaersche hinausgeht.
 
Schliesslich haben zum Gelingen des ganzen wesentlich auch solche
Initiativen beigetragen, die fuer Essen, Schlafen und Diskutieren
die Infrastruktur stellten: die Naturfreunde mit dem Zeltlager,
das nach anfaenglichen Schwierigkeiten ein voller Erfolg wurde;
das Buergerzentrum Alte Feuerwache mit einem hoechst angenehmen
Rahmen fuer alternatives Zusammenleben; das Kollektiv Rampenplan
mit einer wohlschmeckenden Essensversorgung.
 
Zusammengenommen kann man sagen: Die europaeische soziale Bewegung
ist keine Eintagsfliege geblieben; sie hat ihre
Mobilisierungsfaehigkeit unter Beweis gestellt, sie hat sich
ausgeweitet, sie hat die Zusammenarbeit verschiedener Netze
befoerdert.
 
Dennoch sind die Euromaersche mit dieser Mobilisierung an Grenzen
gestossen. Das spontane Engagement freiwilliger Kraefte reicht
nicht mehr, um die vielfaeltigen Aufgaben zu bewaeltigen. Die
personellen und finanziellen Mittel sind zu gering; und weil die
Bewegung sich derzeit nicht spontan ausweitet, kommen auch nicht
von selbst neue Kraefte hinzu. Jeder Schritt des Zusammenwachsens
auf europaeischer Ebene bedarf eines erheblichen Einsatzes; wo
dieser wegen Ueberforderung fehlte, wurden gravierende Maengel
sichtbar:
 
-- Erstens auf den Maerschen selbst: Deren Empfang durch oertliche
Arbeitslosen- und Wohnungslosenkollektive liess erheblich zu
wuenschen uebrig. Die Maersche gerieten eher zu einer
Demonstration als zu einem Instrument der Kontaktaufnahme mit
Gruppen vor Ort. Damit wurde ein wichtiges politisches Ziel der
Maersche verfehlt.
 
-- Zweitens auf der Demonstration: das Verhalten der Polizei, die
sich vorgenommen hatte, ihr Muetchen an einer bestimmten, vorher
auserkorenen Gruppe zu kuehlen, haette eine Reaktion der gesamten
Demonstration erforderlich gemacht, die jedoch in Ermangelung
einer internationalen Demonstrationsleitung nicht moeglich war. An
solchen Fragen zeigt sich, welche Herausforderung es bedeutet, zu
europaweiter Handlungsfaehigkeit zusammenzuwachsen.
 
-- Drittens auf dem Erwerbslosenparlament: obwohl es eine voellig
neue Form der Zusammenarbeit darstellt, hat man sich im Vorfeld
darueber nicht genuegend Gedanken gemacht und eine eher
traditionelle Veranstaltung mit vorher ausgesuchten Redebeitraegen
durchgefuehrt. Erst der massive Protest der Erwerbslosen an seinem
Verlauf verdeutlichte, welches Potential in der Idee eines solchen
Parlaments steckt: europaweit eine staendige Vertretung der
Erwerbslosen zu schaffen, die Aktionen wie Inhalte diskutiert.
Sofort trat die Frage nach ihrer Zusammensetzung und Legitimation
auf; dies war im Vorfeld von den Gruppen nicht diskutiert worden,
musste folglich auch in Koeln unbeantwortet bleiben. Aber der
Anstoss wurde gegeben. Das ist fast ein wichtigeres Ergebnis als
die ansonsten gefassten Beschluesse.
 
Die inhaltliche Debatte des Erwerbslosenparlaments ist ueber die
Bruesseler Erklaerung nicht hinausgekommen. Ein Teil hat versucht,
europaweit einheitliche Betraege fuer Arbeitszeit und
Mindesteinkommen aufzustellen -- stiess dabei aber auf heftigen
Widerstand von anderen. So bleibt die Frage offen, ob dies der
beste Weg ist, die Lebensstandards in Europa zu vereinheitlichen.
 
Die Debatte ueber die Niedriglohnpolitik und die Herausforderung,
die sie fuer Erwerbslose und Gewerkschaften bedeutet, steckt
hingegen noch in den Anfaengen. Sie mag sich konkretisieren, wenn
im Dezember anlaesslich des EU-Gipfels in Finnland der
beschlossene europaweite Aktionstag gegen Billiglohn und
Zwangsarbeit durchgefuehrt wird.
 
Zusammen mit allen Kraeften, die an dieser Mobilisierung
mitgewirkt haben, werden die Maersche diskutieren muessen, wie sie
die genannten Maengel ueberwinden koennen, vor allem im Hinblick
auf die naechste europaeische Grossaktion, die im Winterhalbjahr
2000 in Frankreich stattfinden soll:
 
-- wie wir die Zusammenarbeit mit anderen Netzwerken und Kraeften
intensivieren und ausbauen koennen;
 
-- wie wir unsere Arbeit auf neue Fuesse stellen und die dafuer
notwendigen Mittel auftreiben koennen;
 
-- wie wir die europaeische Koordination der Maersche zu einem
internationalen Organisationszentrum ausbauen koennen.
 
*Angela Klein, FU Berlin / via LabourNet*
 
 
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