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Aussendezeitpunkt: Mi, 02.06.99, 11:20 *
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Italien/Prinzipielles:
> Betonieren statt Diskutieren
Ueber Selbstbetrug und Attentate
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Ausfuehrlichere Diskussionen ueber politische Ereignisse oder
theoretische Themen fuehren unter uns Linken meist zum wenig
hilfreichen Schlusz, dasz es letztendlich zu fast allem kontraere
Gesichtspunkte gibt: realistische und fundamentalistische. Die
realistische oder pragmatische Loesung orientiert sich am
Geschehen, der Entwicklung, den nachvollziehbaren Fakten und
offenbart im guenstigsten Fall noch reformistische Denkansaetze
und Vorschlaege, fuehrt jedoch - konsequent angewandt - zum
Verblassen des ideologischen Begleitbildes und somit schrittweise
zur Geisteshaltung der konformistischen Systemanpassung.
Parteienschicksale dieser Kategorie gibt es genug. Dem gegenueber
entwickelt sich auf einer politisch exaltierten Ebene die reine
Lehre: ein buntes Spektrum effizienter und groesztenteils gut
bekannter Sozialtheorien - durch keinen Pragmatismus getruebt und
haeufig auch nicht von der Erkenntnis, dasz die sozio-
oekonomischen Verhaltensmuster und Lebensgrundlagen der Menschen
in den meisten Faellen nur durch gewaltsame Umstuerze der
jeweiligen Theorie ,angepaszt` werden koennten, was die
betroffenen Bevoelkerungen a) erstaunlicherweise oft nicht so
wollen - und b) unerfreulicherweise oft zu dezimieren pflegt.
Die letzte Bruecke der irgendwie moeglichen Kommunikation zwischen
den polarisierten Lagern verstopfen absolut dogmatisierte und die
Analysenwelt ausmachende Systemraster: grundsaetzliche
Feindbilder, deren blosze Nennung jede Argumentation
ehrfurchtsvoll verstummen lassen musz - ein ,Leo` fuer
Subsumierer. Das zweitbekannteste ,Leo` duerfte Imperialismus
sein, das bekannteste ist ohne Zweifel Kapitalismus. Da die Welt
ohnedies kompliziert genug ist, gibt es erfreulicherweise zu
Beginn aller Diskurse gleich einmal den Startschusz fuer
Blitzwertungen in die scharf abgegrenzten Bereiche: gut und boese.
So wissen alle gleich Bescheid - und aufgrund der beschriebenen
Parameter entwickeln sich Analysen, Kommentare und Diskussionen
meist mit der Kreativitaet von Betonbloecken, was zu einer
hochinteressanten Diskrepanz zwischen linken Erklaerungsmustern
der Beschaffenheit der Welt und dem Rest der davon meist nicht so
ergriffenen Menschheit fuehrt. Ich nenne dies kurz die
Betonblocktheorie.
Praktisch angewandt koennen diese Punkte beim Erklaerungsversuch
mithelfen, warum sich z.B. bei ansonst vernuenftigen Menschen das
hartnaeckige und hoechst eigenartige Geruecht haelt, Mock teile
sich mit Genscher wegen der mitgetragenen Anerkennungspolitik des
,imperialistisch-kapitalistischen EU-West-NATO-Blocks` die
Hauptverantwortung fuer die jugoslawischen Kriege. Dieser Schlusz
naehert sich der politischen und historischen Schizophrenie, wenn
zu einem anderen Anlasz etwas spaeter von denselben Gruppen oder
Proponenten dieser Meinung die Forderung nach dem prinzipiellen
,Selbstbestimmungsrecht der Voelker` kundgetan wird. Was nuetzt
den Voelkern die Selbstbestimmung, wenn das Resultat dessen dann
international nicht anerkannt wird? Darf in Zukunft ein Staat nur
mehr anerkannt werden, wenn eine absolute und einklagbare
100jaehrige Garantie aller Nachbarstaaten und vor allem des
ehemaligen ,Mutterstaates` vorliegt, dasz mit Sicherheit keine
Kriege wegen dieser Anerkennung entstehen werden? Bekanntermaszen
sind sowohl Slowenien, als auch Kroatien und Bosnien-Herzegowina
seit 1992 UNO-Mitglieder. Abgesehen davon, dasz die
Selbstbestimmung der Voelker eines der ausgeschriebenen Hauptziele
der UNO ist, benoetigen neu gegruendete Staaten sowohl zum Aufbau
ihrer politischen und oekonomischen Auslandsrepraesentation als
auch zur voelkerrechtlich anerkannten Losloesung vom ehemaligen
Staatsgebilde die diplomatische Anerkennung als eigenstaendiger
Staat, was im Falle der ehemaligen jugoslawischen Provinzen
schlicht und einfach geschehen ist. Im Gegensatz zur
Betonblocktheorie duerften Mock und Genscher an den Kriegen in
Jugoslawien nicht schuld sein - tut leid.
*
Die verschiedenen Modelle von Analyseversuchen koennen auch auf
ein aktuelles Ereignis in Italien angewandt werden. In einem
28seitigem Kommuniqu‚ erklaeren sich die Roten Brigaden zu dem
Attentat auf Massimo D'Antona, der Berater des italienischen
Arbeitsministers Antonio Bassolino und Spezialist in Arbeitsfragen
war. Laut dem Schreiben der Roten Brigaden war D'Antona ein
,Spitzenexponent der herrschenden politischen Klasse', der
versucht habe, ,mit neokorporativistischen Modellen wie dem Pakt
fuer Arbeit das Aufbrechen der sozialen Gegensaetze zu verhindern`
(das italienische Parlament wurde unter Mussolini in eine ,camera
dei fasci e dei corporazioni` umgewandelt. Kapital und Arbeit
sollten zur Ueberwindung der Klassengegensaetze gleichgestellt
werden, wobei das Kapital auszer einzelnen
staatsfinanzpolitischen, der italienischen Aufruestung dienenden
Masznahmen nie beschnitten wurde).
Unter Zuhilfenahme der vorhin beschriebenen Parameter tauchen
Bilder ueber Diskussionen der 80er Jahre auf. Der pragmatische und
durchaus realistische Gesichtspunkt lautete dabei: Wie auch immer,
Mord ist das falsche Mittel. Gewalt kann nie zur Loesung sozialer
Probleme und politischer Demokratiedefizite fuehren. Es kommt -
wie es auch in der BRD der Fall war - zu staatlichen Attacken
gegen die ohnedies nur mehr rudimentaer vorhandene aktive Linke.
Nie wird die politisch apathische und systemkonformistische
Bevoelkerung dieses Attentat verstehen, mittragen oder gar an den
Barrikaden kaempfen.
Uns damit systematisch argumentativ in eine schwierige Position
zur uns umgebenden Gesellschaft gebracht habend, dachten und
fuehlten wir andererseits fundamentalistisch: Bravo, die Roten
Brigaden, die RAF oder irgendwer halt sind wieder aktiv. Es tut
sich was! Weg mit dem imperialistischen System - das Kapital und
seine Handlanger werden zerschlagen. Volksaufstaende werden sich
umgehend (oder zumindest bald) anschlieszen und ein System der
Gerechtigkeit und Gleichheit der sich prinzipiell liebenden
Voelker aufbauen. Hoechste Zeit, dasz es aktiven Widerstand gegen
den Staat und dessen Organe gibt. Che Guevara ist nicht tot - man
fuhr sogar mit dem Staubtuch ueber dessen vergilbtes Plakat.
Die Diskussionen und Fronten bluehten natuerlich besonders
anlaeszlich der oeffentlichkeitsrelevanten Hoehepunkte
gruppenspezifischer Aktivitaeten: Aldo Moro wurde 1978 in Italien
aus dem Grund getoetet, weil er aus parteipolitischen Gruenden zu
Zwecken der puren Machterhaltung den ,Historischen Kompromisz`
zwischen Christdemokraten und Kommunisten erreichen wollte. Mit
Alfred Herrhausen starb im November 1989 der Systemrepraesentant
schlechthin - der Vorstandssprecher der Deutschen Bank. Mit
Karsten Rohweder wurde 1991 der Chef der staatlichen Deutschen
Treuhandgesellschaft getroffen - nicht nur aus der Sicht
unzaehliger Schicksale von DDR-Buergern, die ploetzlich vor dem
oekonomischen und sozialen Nichts standen, ein verstaendlicher
Notwehrakt, den die RAF fast repraesentativdemokratisch
vollstreckte.
Eine Generation und Jahrzehnte demokratiepolitischer Stagnation
spaeter tauchen - abgesehen von den fast schon ruehrenden
Betonblockargumenten - anlaeszlich der juengsten Aktivitaet der
italienischen Freunde natuerlich marxlob schon weitere Fragen auf.
Wurde mit dem Sozialwissenschaftler D'Antona nicht vielleicht der
falsche Mann getoetet? Ist der ,Pakt fuer Arbeit` nicht blosz eine
italienisch uebersetzte und den Gewerkschaftsverhaeltnissen
angepaszte Kopie der belgischen, deutschen oder auch
oesterreichischen Arbeitsabkommen zur Senkung der Arbeitskosten -
einer der eilig zusammengezimmerten Fuesze der
sozialdemokratischen trojanischen Pferde, die in Europa zwischen
staatlicher Planung und Marktauslieferung fuer Waehlerstimmung hin
und hergeschoben werden?
*
Ist die Wiedereroeffnung des bewaffneten Klassenkampfes sinnvoll,
wenn die Klasse als historisch bewusztes Subjekt nur mehr von
auszen zu definieren ist? Oder schaffen erst
oeffentlichkeitsrelevante Attentate Grundlagen zu einer
revolutionaeren Identitaetsfindung oekonomisch und sozial
gleichgestellter Gesellschaftsgruppen? Ist nicht derzeit eine
absolut entpolitisierte und stagnative Demokratiesituation, die
sich zu Wahlzeiten nur im feuchten Keller der politischen
Partizipation bewegt: dem Sicherheitsterrain? Und schon taucht ein
besonders fuer Oesterreich heikles Thema auf: Wenn Linke bis
Linksliberale linke Aktivitaeten nach italienischem Muster
verstaendlich finden, ist es dann nicht nachvollziehbar, dasz
Rechte bis Rechtskonservative fuchs-aehnlichen Aktivitaeten nicht
auch Sympathien entgegenbringen? Wollen wir einen Staat, in dem
repraesentative Stellvertreterkriege von links und rechts ohne
Autorisierung Platz greifen? Oder stimmt die Theorie, dasz erst
radikale Geschehnisse eine weniger radikalere und dafuer linkere
Sozialgesetzgebung erst ermoeglichen? Demgegenueber steht auf der
Rechten die schon laengst erfolgte Radikalitaet der Auslaender-
und Fremdengesetzgebungen, die natuerlich ebenso ueber ein
demokratisches Standbein verfuegen. Ich meine, das Attentat auf
D`Antona wirkt angesichts der sowohl nationalen als auch EU-
demokratiepolitischen Situation mehr als verstaendlich - ein in
die Zukunft weisender Weg partizipativer Aktivitaeten
gesellschaftlicher Interessensgruppen kann es trotzdem nicht sein.
Darueber sollte diskutiert werden. *Fritz Pletzl*
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